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Was heisst denn hier Freiheit?

Eine Antwort aus dem Stegreif von Ralf Hoppe Ein Anstoss von Claude Adrien Helvétius:
«Es wäre lächerlich, es als Unfreiheit zu betrachten, dass wir unfähig sind, wie der Adler uns über die Wolken zu erheben oder wie der Wal in den Tiefen des Wassers zu leben…»
(Zitiert aus: «De l‘esprit» (1785).9

Was heisst denn hier Freiheit?

«Ein Zitat, in dem es um Selbstbeschränkung geht. Es ist eine der interessantesten Aufgaben, herauszufinden, was du nicht kannst und wer du nicht bist. Denn nur dann weisst du, was du kannst und wer du bist. Freiheit ist leichter zur erobern, wenn du dich auf das Gebiet konzentrierst, das deine eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht über-schreitet.

Sicher, es gibt immer die Gefahr, dass man sich zu rasch zurücklehnt. Dass man zu rasch einverstanden ist mit seinen vermeintlichen Schwächen. Möglicherweise macht man durch die Berufung auf die Selbstbeschränkung aus einer Not eine Tugend. Allerdings ist das besser, als aus einer Not eine andere zu machen. Wie jener Mensch, der an der Unfrei-heit leidet, weder Flügel noch Schwimmhäute zu haben, und der daher an den Gestaden des Meeres oder im Hochge-birge stehenbleibt, sich vor Sehnsucht nach den nicht vorhandenen Fähigkeiten verzehrt und darüber immer kläglicher wird.

Wenn ich es mir richtig überlege: es ist doch ein schöner Vorgang, die Not in eine Tugend zu verwandeln! Sonst wären weder Flugzeuge noch U-Boote erfunden worden. Entscheidend sind die Schlussfolgerungen. Ein Mensch, der akzeptiert, nicht wie ein Adler fliegen und nicht wie ein Wal schwimmen zu können, macht aus dieser naturgegebenen Einschränkung – man mag das Not nennen – dann eine Tugend, wenn er sich auf das konzentriert, was er sein kann: nämlich ein ingeniöser Erfinder von Maschinen und Vorrichtungen. Nur der Mensch nutzt seine Freiheit, der im Hochgebirge dem Adler zwar sehnsüchtig nachschaut, dann aber zurück ins Tal geht, dort unten eine Flugmaschine konstruiert, um später wieder auf einen Gipfel zu stapfen und zu versuchen, wie weit er mit ihr kommt. Wobei mir der Mensch am sympathischsten wäre, der nicht gleich den höchsten Gipfel für den Jungfernflug wählte. Denn die Wahl eines niedrigeren Berges würde bedeuten, dass er seine Freiheit mit Geschick und Klugheit verwaltet.

Lernen heisst, erst einmal von einer kleinen Kuppe zu springen. Um damit ein Gefühl für die Schwere der eigenen Existenz zu bekommen. Auch den Lernprozess würde ich als Freiheitsprozess sehen. Denn wer zu lernen bereit ist, hat vorher seine Unfähigkeit auf einem Gebiet erkannt und akzeptiert. Ich komme etwa gerade von einer mühsamen Sit-zung mit Mathematikern, Physikern und Ingenieuren, die ständig die kompliziertesten Energiebilanzen ausrechnen. Die sind Adler in ihrem Gebiet. Ich habe dort, wie so oft, mein eigenes Nichtwissen erlebt und vorgeführt bekommen. Das gehört zu meiner Arbeit als Reporter. Doch empfinde ich mein Nichtwissen nicht als Freiheitsbeschränkung. Ich kann ja fragen, immer wieder nachfragen. Ich habe die Freiheit zu lernen, weil ich erkannt und akzeptiert habe, was ich nicht kann. So gesehen, gilt das Zitat von Helvétius für viele Gebiete.

Dädalus verschaffte sich Freiheit, indem er sich Flügel baute und von Kreta floh, wo ihn König Minos festgehalten hatte. Die Flucht gelang ihm, weil er seine Fähigkeiten als Ingenieur einsetzte. Sicher, er scheiterte tragisch, weil er bei der Flucht seinen Sohn Ikarus verlor. Es lässt sich erahnen, dass Dädalus der Ingenieur nicht mehr glücklich wird, weil Dädalus der Vater zutiefst am Boden zerstört ist. Sein Sohn hatte das gefährliche Zuviel an Freiheit nicht erkannt, er hatte nicht Mass gehalten: im Mythos kommt Ikarus der Sonne zu nahe, weil er dem klugen Rat seines Vaters nicht folgte. Er stürzte auf der Flucht ab, weil er sich nicht selbst beschränkte.

Die richtige Flughöhe zu finden, darin liegt die Freiheit.»

RALF HOPPE, geboren 1959, ist Redaktor beim Magazin «Spiegel».

aufgezeichnet von Suzann-Viola Renninger

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