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Keine Gnade für Korrupte und «Übelhauser»
Die Bildscheibe von Hans Funk aus dem Jahr 1535 stellt den «alten Eidgenossen» mit seinen einfachen Sitten dem luxuriös gekleideten «jungen Eidgenossen» gegenüber. Bild: Bernisches Historisches Museum.

Keine Gnade für Korrupte und «Übelhauser»

In der Schweizer Geschichte war die Tugend eng mit dem Gemeinnutz verbunden. In Skandalen zeigt sich das bis heute.

Im Historischen Lexikon der Schweiz finden sich keine Einträge zu den Begriffen «Tugend», «Sitte», «Moral» und «Ethik». Das heisst nun aber nicht, dass Sittlichkeit insbesondere in der älteren Schweizer Geschichte keine Rolle gespielt hätte. Ganz im Gegenteil: Befeuert durch konfessionelle Gegensätze, wurden moralische Kategorien in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen instrumentalisiert. Der tugendhafte Lebenswandel war Dauerthema im religions- und moralpolitischen Schrifttum. Genf unter Calvins Regime wurde auch schon als «Tyrannei der Tugend» bezeichnet. Weltliche und kirchliche Gewalten nutzten Techniken der Moralisierung zur Disziplinierung der Untertanen, die sie mit Mandaten sowie Tanz-, Spiel- und Kleiderverboten eindeckten.

Doch auch Gegendiskurse führten die Sittlichkeit im Programm. Sei es über den Archetypen des «alten Eidgenossen», diesen ebenso spar- wie einsamen Bergler, den die schieren ­Lebensumstände im Gebirge zu äusserster Tugend erzogen. Sei es das Lob der Arbeit und die Luxuskritik von Volkserziehern wie Pestalozzi. Sei es die «republikanische Tugend», in der die Helvetiker die Ursuppe des Schweizer Nationalbewusstseins sahen. Oder die widerspenstige Selbstdisziplin religiöser Abweichler, der Pietisten oder der Täufer, die als Staatsfeinde ­verfolgt wurden, weil sie aus moralischen Motiven den Kriegsdienst verweigerten. Kurz: Tugend war in der älteren Schweizer Geschichte allgegenwärtig, jedoch nicht als in Philosophen­hirnen systematisch durchdachte Ethiklehre, sondern als bald weicher, bald explosiver Knet-, Kleb- und Kampfstoff im permanenten Mit- und Gegeneinander.

Auf der Suche nach verallgemeinerbaren Beobachtungen im Feld der Tugend wird man in unserer Landesgeschichte also nicht dort fündig, wo öffentlich über Moral geredet oder geschrieben wurde. Hingegen lässt sich aus zahllosen alltags­politischen Episoden und profanen Praktiken ein konfessions-, schicht- und epochenübergreifender moralischer Grundsatz herausdestillieren, der im Begriff des «Gemeinnutzes» kondensierte. So sinnierte der Zuger Magistrat Beat II. Zurlauben Ende der 1650er-Jahre in einer privaten Notiz darüber, diejenigen «so Jn furnemen Aembtern undt geschefften gebrucht werden», sollten «des vaterlandts gemeinen, Jrem eignen Nuzen» voranstellen. In «unserem democratischen Regiment» gehe es nicht an, «für syn erhöchung an ehren undt guot, gar vil, und für das gemeine wesen gantz nichts usszewürkhen».

«Nutzen mehren und Schaden wenden»

Um zu verstehen, warum Zurlauben einen tauglichen Politiker – «Tugend» als Verbalabstraktum von «taugen» – anhand der Dichotomie von Eigen- und Gemeinnutz charakterisierte, lohnt sich ein kleiner Exkurs in die (vor)moderne politische Ökonomie der Eid-Genossenschaft: Seit dem Spätmittelalter waren im Raum der heutigen Schweiz zahllose Gemeinden, Korporationen, Bürger- und Talschaften entstanden. Sie bestritten ihre öffentlichen Haushalte nicht über fiskalische Abschöpfung, sondern lebten vielmehr von den Erträgen ihrer Gemeingüter, angesparter Finanzen, erworbener oder ersessener Feudalrechte und der Stiftungen ihrer Mitglieder, die sie nach kor­porativen Grundsätzen haushälterisch bewirtschafteten und von einer Generation zur nächsten vererbten. Auch selbstständige Korporationen und Genossenschaften zweiter Ordnung erbrachten aus ihren kollektiven Ressourcen Dienstleistungen zum Nutzen ihrer Mitglieder und trugen damit zum Wohlergehen des grossen Ganzen bei.

In eine durch und durch korporativ organisierte Lebenswelt eingebettet, entwickelten die einfachen Leute ganz konkrete Vorstellungen vom gemeinen Nutzen. Sie wollten nach Möglichkeit keine Steuern zahlen. Die politischen Verantwortlichen hatten die Gemeingüter gewinnbringend zu verwalten. Jährliche Rechnungskontrollen in jeder Bäuert, jedem Flecken, jedem Sprengel, jeder Alp- oder Brunnengenossenschaft, jeder Nachbar- oder Bruderschaft, jedem Dorf, jeder Stadt dienten der Aufsicht über die Vorgesetzten, dies übrigens bis zum heutigen Tag. Finanzverwalter, die sich Unregelmässigkeiten zuschulden kommen liessen, fielen in Ungnade. Gemäss der brillanten Beschreibung und Analyse der «Republiken oder freien Kommunitäten» von Karl Ludwig Haller aus dem Jahr 1825 zeichnete einen guten Magistraten die «nur zu oft mangelnde Tugend» der «Fähigkeit zur Führung der gemeinsamen Geschäfte» sowie «Freygebigkeit für alles Gemeinnüzige» aus. Hingegen würden «Eigennutz und Bestechlichkeit, Unordnung und grobe Ausschweifung» ihn zwingend «um alles Ansehen bringen».

«Jährliche Rechnungskontrollen dienten der Aufsicht über

die Vorgesetzten, dies übrigens bis zum heutigen Tag.»

In genossenschaftlichen Gefügen bedeutete Tugendhaftigkeit gelebte Reziprozität, also die wechselseitige Verpflichtung unter allen Mitgliedern, Respekt und Verantwortung gegenüber der Gruppe. Erwartet wurde transparente und korrekte Amtsführung sowie das Bestreben, die geerbten Besitzstände und Nutzungsansprüche des Kollektivs zu wahren und sich nicht ­eigennützig am Gemeingut zu bereichern. Die verbreitete Wendung «Nutzen mehren und Schaden wenden» war keine leere Floskel. Niemand war einfacher zu skandalisieren als jene, die gegen diesen Grundsatz verstiessen.1

Die gleiche gesellschaftliche Logik galt auch für Menschen in prekären Verhältnissen, die nicht auskömmlich zu wirtschaften vermochten. In der Schweiz verpflichtete das Heimat­prinzip, das die Eidgenössische Tagsatzung 1491 beziehungsweise 1551 in Kraft gesetzt hatte, die Gemeinden zur Versorgung ihrer armen Mitglieder. Wer aus eigenem Verschulden der Unterstützung seiner Heimatgemeinde bedurfte, galt als «Übelhauser», verlor seine Nutzungsrechte und sein Stimmrecht, wurde aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen und «verrufen», sprich bevormundet oder ausser Landes gejagt. Häusliche Misswirtschaft auf Kosten der Gemeinschaft galt als moralisch ­maximal verwerflich. Genau wie die wohlhabenden Eliten standen auch die Armen in einer reziproken Beziehung zum Kollektiv und wurden entsprechend beargwöhnt und sanktioniert.2

Parallelen zur Causa Hildebrand

Zum Schluss sei der Versuch gewagt, die historischen Massstäbe von Tugendhaftigkeit anhand eines Fallbeispiels auf das 21. Jahrhundert zu projizieren. Manche werden sich vielleicht noch an den Jahreswechsel 2011/12 erinnern, als die Schweiz genüsslich den Skandal und Fall von Philipp Hildebrand zelebrierte, dem damaligen Präsidenten der Schweizerischen Nationalbank. Als einer der wirkmächtigsten Staatsdiener genoss er dank seiner medial noch und noch beschworenen Sachkompetenz das Vertrauen von Establishment und Bevölkerung. Zum Verhängnis wurde ihm ein privates Devisengeschäft, das seine Frau in währungspolitisch brisantem Umfeld über sein Konto getätigt und dabei mutmassliche Kursgewinne realisiert hatte. Weder Hildebrand noch seine Frau hatten mit dieser Trans­aktion irgendein Gesetz gebrochen. Dennoch machte das Gerücht von Insidergeschäften die Runde. Volkstribun Christoph Blocher und seine Adlaten witterten das Skandalpotenzial der vergleichsweisen Petitesse – wenn Hildebrand in der Geldpolitik mit Milliarden von Volksvermögen jonglierte, wurden keine Fragen gestellt – und brachten die «Volksseele» mittels eines medialen Feldzugs zum Kochen.

Philipp Hildebrand. Bild: Keystone/Michael Buholzer.

Doch wo lag das eigentliche Skandalon? Hildebrand hatte vermeintlich einen Vorteil genutzt, den er seiner Stellung verdankte, die er im Auftrag und Mandat des Gemeinwesens innehatte. Deshalb war er unbedingt und exklusiv dem Gemeinwohl verpflichtet. Tugendhaftigkeit verlangte in seinem Fall, niemals gegen den in derartigen Dienstverhältnissen unerschütter­lichen Grundsatz der Reziprozität zu verstossen und auf jede private Vorteilnahme zu verzichten. Weil Hildebrand in der ­besagten Causa nicht alle Zweifel vollumfänglich auszuräumen vermochte, musste er trotz öffentlich gegebenem Ehrenwort, bestem Leumund und allgemein respektiertem Leistungsausweis unter dem Druck der Öffentlichkeit sein Amt niederlegen. Wie damals wider jede Verhältnismässigkeit nach dem Prinzip der Nulltoleranz verfahren wurde, erinnerte an vormoderne Gepflogenheiten, die bereits den Anschein von Selbstbereicherung an der Gemeinschaftskasse mit Höchststrafen belegten.

  1. Daniel Schläppi: Selbstbereicherung an kollektiven Ressourcen. «Eigennutz» als ­Leitmotiv politischer und sozialer Skandalisierung in der vormodernen Eidgenossenschaft. In: Traverse, Zeitschrift für Geschichte, 3 (2015), S. 57–71.

  2. Daniel Schläppi: Männer als Sicherheitsrisiken. Paternalistische «Sozialarbeit avant la lettre» am Beispiel des Rats der Schweizer Kleinstadt Zug (17. und 18. Jahrhundert). In: Haus, Geschlecht, Sicherheit. Diskursive Formierungen in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sigrid Ruby und Inken Schmidt-Voges. Baden-Baden: Nomos, 2023, S. 237–264.

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