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Die irdische Hölle der Tugenden
Martin Grichting, zvg.

Die irdische Hölle der Tugenden

In der Cancel Culture wirken weitaus ältere Mechanismen, als es den Anschein hat. Eine Erinnerung an eine Episode aus der Ära der Aufklärung.

 

Kohelet, der Prediger aus dem Alten Testament, wusste es schon: «Es gibt nichts Neues unter der Sonne.» Auch bei der «Cancel Culture» ist das nicht anders. Damit ist nicht nur die römische «Damnatio memoriae» gemeint. Denn wer die Mechanismen der aktuellen Lösch­kultur begreifen möchte, sollte eine bedeutsame Schrift aus der Blütezeit der Aufklärung zur Hand nehmen. Es handelt sich um Louis-Sébastien Merciers «Das Jahr 2440», eine 1771 publizierte Utopie über die in die Tat umgesetzte Auf­klärung. Wer wissen will, was Rousseaus Theorien zum Gesellschaftsvertrag und zur Zivilreligion in der Praxis bedeuten, muss Mercier lesen, der nicht umsonst als «Rousseaus Affe» bezeichnet wurde. Viele seiner Utopien hat die Französische Revolution – unter negativen Vorzeichen – in die Tat umgesetzt.

Mercier lässt seinen Protagonisten einschlafen und im Traum im Paris des 25. Jahrhunderts erwachen. Es ist eine Idealstadt geworden, die durch das Wirken der Philosophen zur Tugend geführt worden ist. Beim Gang durch die Stadt kommt Merciers Held auch bei der königlichen Bibliothek vorbei. Nur noch wenige Bücher sind dort jedoch zu finden. Das meiste, Millionen unnützer Werke, hatte man wegen voraufklärerischem Obskurantismus verbrannt und beschlossen, «das Gebäude der menschlichen Kenntnisse aufs neue zu errichten». Die Menschheitsgeschichte sei deshalb nur in geraffter Form aufbewahrt worden. Die Literatur seit der Zeit der Griechen habe man gesäubert und auf jene Autoren sowie Werke reduziert, welche die Tugend förderten. Selbst Montaigne, Molière und Voltaire hätten gefiltert werden müssen, weil sie nicht in allen Teilen der Vernunft und der Förderung der edlen Sitten verpflichtet gewesen seien. Hingegen findet man den ganzen Rousseau und die Enzy­klopädie Diderots. Alles hingegen, was gegen das Christentum geschrieben worden war, hatte man verbrannt – es hatte nach dem Aussterben dieser Religion seine Daseinsberechtigung verloren.

Da es 2440 somit das Christentum mit seinem Glauben an ein ewiges Leben nicht mehr gibt, ist an die Stelle des Alten sowie des Neuen Testaments das Testament des einzelnen Bürgers getreten. Jeder Mann – die Frauen sind weiterhin auf die Sorge um Kinder und Küche beschränkt – ist in der zukünftigen Gelehrtenrepublik ein Autor: Er hinterlässt seinen Nachkommen ein Buch mit seinen gesammelten Weisheiten – zur weiteren sittlichen Vervollkommnung. Das ewige Leben schrumpft damit zum Nachruhm in dieser Welt. Im Pantheon wurde die Gemeinschaft der Heiligen später in diesem Sinn säkularisiert. Auch die Verdammnis ist verzeitlicht: Sie ist nicht mehr als Angelegenheit Gottes in der Ewigkeit angesiedelt, sondern besteht im diesseitigen Vergessen ­seitens der Gesellschaft, in der Bücherverbrennung, einer ­damals vorstellbaren Form von «Cancel Culture». Das Jüngste Gericht wird zum Weltgericht. Wenn trotz aller Aufklärung jemand im 25. Jahrhundert doch noch etwas geschrieben hat, das gegen die allgemein anerkannten guten Sitten verstösst, machen jeden Tag zwei tugendhafte Bürger diesem bemitleidenswerten Menschen ihre Aufwartung. Sie bestreiten seine irrigen Auffassungen so lange, bis sie ihn zum Widerruf ­gebracht haben. Dadurch wird er wieder zum Mitglied der ­Gesellschaft. So ist in ferner Zukunft selbst die Zensur auf­geklärt. Merciers utopische Gesellschaft ist – radikalauf­klärerischem Optimismus folgend – ohne jede Macht und ­Gewalt. So zahlen die Bürger freiwillig ihre Steuern, werfen im geschlossenen Umschlag ihren Obolus in eine öffentliche Urne, und wenn aller Aufgeklärtheit zum Trotz jemand doch einmal ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben sollte, begibt er sich tugendhaft selbst aufs Schafott.

Erwachte im Diesseits

Die Säkularisation der christlichen Gerechtigkeitsvorstellung, die erst im Jenseits ihre Wirkung entfaltet, führt somit zu einer verinnerlichten, aber nicht weniger rigiden, dies­seitigen Sittlichkeit. Sie manifestiert sich in der Diktatur der «allgemeingültigen Moral», wie sie Mercier im Anschluss an Rousseaus «Volonté générale» nennt. Wie Reinhart Koselleck bemerkt hat, schleicht sich dadurch der Terror durch die Hintertür ein: «Indem eine machtfreie Gesellschaft entworfen wurde, kamen diejenigen Regulationsmechanismen in Gang, die gleichsam gewaltfrei funktionieren müssen, um überhaupt Ordnung aufrechterhalten zu können. Sie waren identisch mit Terror: durch Bücherverbrennung, Selbst­beschuldigung, Feindbezichtigung und Unterwerfung unter eine scheinbar innere Moral, die auch auf das Schafott führen konnte.» Was durch Mercier utopisch vorweggenommen wurde, hat sich in erschreckender Weise in der Französischen Revolution und in totalitären Systemen manifestiert. Exemplarisch ist die Verbindung von Tugend und Terror, wie sie Maximilien de Robespierre im Februar 1794, in der Schlussphase seines Wütens, hergestellt hat: «So wie im Frieden die Triebfeder der Volksregierung die Tugend ist, so ist es in einer Revolution die Tugend und der Terror zugleich; die Tugend, ohne welche der Terror verderblich, der Terror, ohne den die Tugend ohnmächtig ist. Der Terror ist nichts anderes als eine schnelle, strenge und unbiegsame Gerechtigkeit. Er fliesst also aus der Tugend, er ist also nicht ein besonderes Prinzip, sondern eine Folge aus dem Hauptprinzip der Demokratie, angewendet auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.»

Die gegenwärtige «Cancel Culture» ist Ausdruck ähnlichen Hochmuts, der sich schon zu Zeiten der Aufklärung dem überkommenen «Obskurantismus» moralisch überlegen wusste. Der «Woke» – der Erwachte – von heute, der sich aufgrund seiner Tugendhaftigkeit erhaben weiss über die trübe Vergangenheit, will ebenfalls «das Gebäude der mensch­lichen Kenntnisse aufs neue errichten». Er fühlt sich deshalb legitimiert, «Unaufgeklärtes» zu löschen. Angeblich moralisch auf Abwege Gekommene darf er zum Schweigen bringen oder zur Selbstkorrektur zwingen. Auch heute heiligen angeblich hehre Zwecke die Mittel, zu denen es gehört, Grundrechte zu verweigern. Wenn die Meinungs- und Publikationsfreiheit niedergebrüllt wird, wenn Menschen als ­«Faschisten», «Rassisten», «Transphobe» und «Kolonialisten» zu Feinden erklärt und am Auftreten gehindert werden, wenn die Geschichte von «unmoralischen» Personen gesäubert wird, dann lebt Tugend als Vorstufe zum Terror wieder auf.

Das Ausmerzen aus der Geschichte und dem gesellschaftlichen Diskurs ist dabei nur graduell verschieden vom physischen Angriff, wie schon John Milton (1608 – 1674) betonte. In «Areopagitica» hatte er geschrieben: «Wer einen Menschen erschlägt, tötet ein vernünftiges, geistiges Wesen, Gottes Ebenbild. Wer aber [durch Zensur] ein gutes Buch vernichtet, erschlägt den Geist selbst und tötet Gottes Ebenbild gewissermassen vor aller Welt.»

Das unbegriffene Erbe des Säkularismus

Die Rigidität von «Cancel Culture» und «Wokeness», unter anderem an «Black Lives Matter» und «Extinction Rebellion» zu beobachten, lässt sich wohl nur vor dem Hintergrund der Säkularisierung der Sicht auf den Menschen verstehen. Wenn dieser im Mittelalter rund 40 Jahre plus ewig lebte, so sind es heute nur noch 80 Jahre. Wenn es keine jenseitige Welt mehr gibt, die eine ausgleichende Gerechtigkeit verheisst, muss alles vor den diesseitigen Gerichtshöfen entschieden werden. Nichts gegen diese, denn sie gehören zum Rechtsstaat. Aber nicht vor diese Tribunale werden in der Regel die bemitleidenswerten «Unaufgeklärten» unserer Tage geschleppt. Es sind vielmehr die Gerichtshöfe der ­Moral und der öffentlichen Meinung, vor denen es keine Appellation gibt.

Letztlich handelt es sich bei «Cancel Culture» und ähn­lichen Phänomenen um einen Aspekt der «Dialektik der Aufklärung». Es zeigt sich das Janusgesicht einer Spielart von Aufklärung, bei welcher der Geltungsanspruch der ­Vernunft überdehnt wird. Und gerade das droht – beim ­Versuch, das Paradies auf Erden zu schaffen – die Hölle zu gebären. Terror als Ausfluss der Tugend ist deshalb ein Szenarium, das sich in der Geschichte in verschiedenen Schattierungen und Härtegraden wiederholt. Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne. Um Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, ist es richtig, wenn Jürgen Habermas eine «selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne» fordert. Wie diese Forderung angesichts der unausrott­baren Versuchung des Menschen, «zu sein wie Gott» (Genesis, 3, 5), in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll, ist jedoch unklar. Joseph Ratzinger hat einen anderen Vorschlag gemacht: «Sollten wir nicht das Axiom der Aufklärer umkehren und sagen: Auch wer den Weg zur Bejahung Gottes nicht finden kann, sollte doch zu leben und das Leben zu gestalten versuchen veluti si Deus daretur – als ob es Gott gäbe. (…). Da wird niemand in seiner Freiheit beeinträchtigt, aber unser aller Dinge finden einen Anhalt und ein Mass, deren wir dringend bedürfen.» Es ist nicht ohne Ironie, dass der spätere Papst Benedikt XVI. damit in der Nähe von Voltaire gelandet ist. Dieser hatte sich gegen den Atheismus, der im anonymen «Traktat über die drei ­Betrüger» (1768) propagiert worden war, mit der Sentenz ­gewandt: «Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.»

Eine realistische Sichtweise auf die bescheidene Stellung des Menschen im Kosmos wäre also ein Heilmittel ­gegen die Masslosigkeit einer Vernunft, die in ihrer Allmachtsfantasie gerade das immer wieder zunichtezu­machen droht, was sie erreichen möchte: das bestmögliche Gelingen des Menschen und der Gesellschaften unter den Bedingungen einer Welt, die aus sich heraus unbegreiflich ist.

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