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Corona fordert seinen Tribut
Niall Ferguson. Bild: Urban Zintel / laif.

Corona fordert seinen Tribut

Wie eine mittelschwere Katastrophe unser Leben umfassend und dauerhaft verändern könnte.

 

«Kann es wahr sein … dass ganze Länder verwüstet seien, ganze Nationen vernichtet durch diese Störungen der Natur? Die riesigen Städte Amerikas, die fruchtbaren Ebenen In­diens, die überfüllten Städte der Chinesen stehen vor ihrer völligen Zerstörung. Wo sich noch kürzlich geschäftige Scharen zum Vergnügen oder zum Profit versammelten, sind jetzt nur noch die Töne von Kummer und Elend zu hören. Die Luft ist vergiftet, und jeder Mensch atmet den Tod ein, selbst wenn er jung und gesund ist, stehen seine Aussichten schlecht … Die Pest [ist] zur Königin der Welt geworden.» Gegen Ende von Mary Shelleys Roman «Der letzte Mensch» (1826) steht der Held allein am Strand, der einzige Überlebende einer verheerenden Pandemie. Das Buch spielt im ausgehenden 21. Jahrhundert und beschreibt einen neuen Schwarzen Tod, der in Istanbul seinen Anfang nimmt und, von Unwettern, Bürgerkriegen und religiösem Fanatismus begleitet, die Menschheit ausgelöscht hat.

Seit fast zwei Jahrhunderten – von Shelleys erstem dystopischen Roman bis zu Margaret Atwoods «MaddAddam»-Trilogie – haben sich Schriftsteller das Ende der Menschheit so oder ähnlich vorgestellt. Einst haben wir diese Bücher als Science-Fiction gelesen, nicht als Prophezeiungen. Inmitten der realen Pandemie üben sie eine schaurige Anziehung aus, genauso wie Filme zu diesem Thema. Ich war sicher nicht der einzige, der 2020 etwas verspätet Emily St. John Mandels Roman «Das Licht der letzten Tage» entdeckte, einen Beitrag zum Seuchengenre, den ich bis dahin übersehen hatte. Und als ich mich auf den Weg in mein Refugium auf dem Land machte, war ich sicher nicht der einzige, der mit leiser Nervosität an Edgar Allan Poes Geschichte «Die Maske des Roten Todes» dachte.

Kein Schreckensszenario

Doch wie sich herausstellte, ist die Coronapandemie weder der Rote noch der Schwarze Tod und nicht einmal die Spanische Grippe. Sie hat mehr Ähnlichkeit mit der Asiatischen Grippe von 1957/58, die seinerzeit eine Gesundheitskrise war, aber sechs Jahrzehnte später weitgehend vergessen ist. Natürlich gab es auch ein schlimmeres Szenario, nach dem wir jahrelang Topfschlagen mit einem hartnäckigen, mutierenden Coronavirus spielen würden, dem mit Impfstoffen nicht beizukommen wäre und das keine dauerhafte Immunität gewährte. Trotzdem war es unmittelbar nach dem Ausbruch der Pandemie nur schwer vorstellbar, dass Covid-19 in die Elite der Pandemien vorstossen würde – die etwa zwanzig bekannten Krankheiten, die mehr als 0,05 Prozent der Menschheit getötet haben.

In einigen Ländern hielt sich die Katastrophe sehr in Grenzen. Nur eine Minderheit verzeichnete eine Übersterblichkeit von mehr als 25 Prozent, und das auch nur über einige Wochen hinweg. Lediglich eine Handvoll der Länder, die im Zweiten Weltkrieg zu den Alliierten gehört hatten, verloren pro Tag mehr Menschen an das Coronavirus, als sie an die Achsenmächte verloren hatten. Die Vereinigten Staaten gehörten allerdings dazu. Insofern lässt sich feststellen, dass alle Katastrophen ein Stück weit von Menschen gemacht sind, selbst wenn sie von neuartigen Krankheitserregern verursacht werden.

Die Seuche nahm ihren Anfang als graues Nashorn, das viele hatten kommen sehen. Sie erwies sich später als schwarzer Schwan, der trotz allem vollkommen unvorhergesehen war. Würde sie sich zum Drachenkönig auswachsen? Katastrophen werden nur dann zu epochalen Ereignissen, wenn ihre wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen über die Übersterblichkeit hinausgehen, die sie bewirken. Könnte auch eine mittelschwere Katastrophe unser Leben umfassend und dauerhaft verändern? Ich möchte einige Prognosen wagen.

«Ich für meinen Teil begrüsse ein neues Zeitalter des Abstands, aber nur,

weil ich als Misanthrop keine Menschenansammlungen mag

und Händeschütteln und Küsschen nicht vermissen werde.»

Ein Leben nach dem Virus

Erstens wird das Coronavirus für unser Sozialleben das, was das HI-Virus für unser Sexualleben war: Es wird unser Verhalten verändern, wenn auch nicht so weit, dass dies eine merkliche Ver­ringerung der Opferzahl bewirken würde. Ich für meinen Teil begrüsse ein neues Zeitalter des Abstands, aber nur, weil ich als Misanthrop keine Menschenansammlungen mag und Händeschütteln und Küsschen nicht vermissen werde. Die meisten Menschen werden allerdings den Versuchungen der Geselligkeit nach dem Lockdown nicht widerstehen können. Es wird ungeschützten Sozialverkehr geben, genauso wie es bis heute, nach drei Jahrzehnten und dreissig Millionen Aids-Toten, ungeschützten Geschlechtsverkehr gibt.

«Wie sich herausstellte, ist die Corona­pandemie weder der Rote noch der

Schwarze Tod und nicht einmal die Spanische Grippe. Sie hat mehr

Ähnlichkeit mit der Asiatischen Grippe von 1957/58, die seinerzeit eine

Gesundheitskrise war, aber sechs Jahrzehnte

später weitgehend vergessen ist.»

Zweitens sind aus eben diesem Grund die Grossstädte nicht «out». Ziehen wir nun alle von Gotham City aufs Dorf, um dort in ländlicher Beschaulichkeit unser Gemüse zu ziehen? Wird mehr als die Hälfte von uns weiterhin im Homeoffice arbeiten, so wie während der Pandemie – mehr als dreimal so viele wie je zuvor? Eher nicht. Es braucht viel, um eine Stadt zu töten. Gut, mehr als ein Jahrhundert nach Thomas Manns «Tod in Venedig» (1912) ist Venedig selbst ziemlich tot. Aber nicht die Cholera hat die Lagunenstadt auf dem Gewissen, sondern die Verschiebungen des Welthandels. Und das Coronavirus wird Metropolen wie London und New York City nicht in den Abgrund stossen; es wird sie höchstens billiger, schäbiger und jünger machen. Einige Milliardäre werden nicht wiederkommen, einige Unternehmen und viele Familien ins Umland ziehen. Die Steuereinnahmen werden sinken, die Kriminalitätsraten steigen. Wie es der amerikanische Präsident Gerald Ford angeblich 1975 tat, wenn Städte um Finanzhilfen baten, könnte ein neuer Präsident New York zum Teufel schicken. San Francisco wird seine Talente an Austin verlieren.

Doch Trägheit ist eine starke Kraft. Selbst die mobilen Amerikaner ziehen heute viel weniger um als früher. Nur ein Drittel aller Tätigkeiten lassen sich wirklich von zuhause aus erledigen, alle anderen Arbeitnehmer werden nach wie vor in Büros, Geschäften und Fabriken arbeiten. Unternehmen werden sicher anders aussehen – grösser und campusartiger, wie schon heute im Silicon Valley. Pendler werden sich nicht mehr wie Sardinen in die U-Bahn quetschen. Mit der unerwünschten Intimität im Aufzug ist Schluss. Die meisten Gesichter verbergen sich hinter Masken. Die Diskussion um Verschleierung ist vorbei. Zwangsweise sind wir jetzt alle bescheidener.

Wie wirkt sich die Pandemie auf die Ungleichgewichte aus, die in vielen Gesellschaften vor 2020 so unerträglich geworden waren? Wurde das Coronavirus von der Jugendgöttin Freya geschickt, um den Millennials und der Generation Z die Bürde einer immer grösser werdenden Rentnergeneration zu erleichtern? Jedenfalls hat keine frühere Pandemie derart einseitig die Senioren getroffen. Doch in Wahrheit wird die Übersterblichkeit kaum stark genug ins Gewicht fallen, um sich auf den Generationenvertrag auszuwirken. Der Anteil der Senioren an der Bevölkerung wird sich nicht verändern, schon gar nicht in Japan, dem ältesten Land der Welt. Junge Menschen werden zunehmend Schwierigkeiten haben, Arbeit zu finden (ausser bei Amazon) und Spass zu haben.

Eine Wirtschaft ohne Massen ist keine «neue Normalität». Es ist eher eine «neue Anomie», um den Begriff für die Angst und Unzufriedenheit zu verwenden, die Émile Durkheim mit dem Lebensgefühl der Moderne verband. Für die meisten Menschen ist «Spass» nun einmal eng verbunden mit «Menschenmengen». Abstand geht dagegen einher mit Depression, psychisch wie wirtschaftlich. Besonders unter der Trübsal werden die Angehörigen der Generation Z zu leiden haben, deren universitäres Sozialleben (vielleicht der Hauptzweck des Studiums) in der Pandemie unterging. Sie werden noch mehr Zeit mit Kommunikationselektronik verbringen – pro Tag vielleicht eine Stunde mehr als vor der Pandemie. Glücklicher werden sie dadurch bestimmt nicht.


Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus Niall Fergusons Buch «Doom: Die grossen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft», das am 13. September 2021 im DVA-Verlag erscheint. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum exklusiven Vorabdruck.

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