
Der kalifornische Traum lebt
Der Golden State hat nichts von seiner Fähigkeit eingebüsst, das Potenzial neuer Ideen zu erkennen und damit die Welt zu verändern.
Da sitze ich kurz vor meinem 40. Geburtstag in Bali an einem Strand mit dem Surfboard neben mir. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass Kalifornien etwas fehlt, das es sonst zig-fach auf der Welt gibt: ein richtiges Surfcamp.
Seit ich als kleiner Bub einen orangen Bus aus Kalifornien in die Strasse unseres verschlafenen Ostschweizer Dorfes einbiegen sah und eine Familie mit einer seltsamen Sprache zu unseren Nachbarn wurde, fasziniert mich der einmalige Californian Spirit. Die Kinder der Familie hatten Scheiben, die sie warfen und die wie UFOs pfeilschnell durch die Luft segelten (Frisbees), und ein Brett mit Rädern dran, auf dem man die Strasse hinunterrollen konnte. Es war das erste Skateboard, das ich sah und mit dem ich später auch einen Strafbefehl in Sachen Staat gegen Daniel Niklaus kassierte – was ich als Schweizer Antwort auf kalifornische Freiheit deutete.
Selbstverständlich, in der Schweiz aufzuwachsen ist ein Privileg. Die coolen Dinge meiner Jugend kamen aber alle aus Kalifornien. Die grossartigen Kinofilme, die erste Spielkonsole, der erste Computer… Dabei war Kalifornien schon lange vor meiner Geburt der globale Taktgeber und besitzt dazu die besten Voraussetzungen, es auch weiterhin zu bleiben. Der Einfluss Kaliforniens auf unsere Lebensweise, Moralvorstellungen und unser Selbstverständnis als Individuum ist unverkennbar.
Kalifornien besetzte früh Schlüsselindustrien wie Telekommunikation und Technik, Luft- und Raumfahrt, Film und Musik. Wäre Kalifornien ein eigenständiges Land, es wäre die fünftstärkste Wirtschaftsmacht der Welt, mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 85 000 Dollar – beinahe doppelt so hoch wie jenes von Deutschland. Nur Luxemburg, Irland und die Schweiz weisen ein höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf.
Ausgangspunkt für Trends
Aber es ist nicht allein die Wirtschaftskraft, die Kalifornien zum globalen Powerhouse macht. Es ist der kulturelle Einfluss. Seit mehr als 100 Jahren bestimmt Kalifornien mit seiner Film-, Fernseh-, Game- und Musikindustrie, welche Geschichten wir sehen, was wir hören, worüber wir reden und welches Leben wir für erstrebenswert halten.
Die Kalifornier erfinden nicht immer alles selbst. Sie verstehen es aber immer wieder, das Potenzial einer Idee zu erkennen und diese so zu verpacken, dass sie auf der ganzen Welt funktioniert, um damit einen Trend oder gar eine Bewegung in Gang zu setzen. So geschehen mit der Hippiekultur. Wenn Woodstock auch an der amerikanischen Ostküste stattfand, die Hippiekultur entfaltete erst in San Francisco ihre globale Ausstrahlungskraft und setzte von dort die sexuelle Revolution, die Umweltschutz-, Friedens- und Anti-Rassismus-Bewegung in Gang.
Es ist etwas Magisches in der kalifornischen Lebensweise. Keine andere Region fragt mit derselben Hartnäckigkeit immer wieder: «What’s next with new ideas?» Wie bringen wir die Welt weiter?
Und deswegen war ich so erstaunt, als ich 2012 auf meiner Weltreise in Bali das nächste Surfcamp in Kalifornien buchen wollte und dort kein passendes Angebot für Erwachsene fand. Es gibt solche Camps doch überall auf der Welt, wo es Wellen hat. In Frankreich, Marokko, Brasilien, Australien, Indonesien … aber keines in Kalifornien? Konnte dies doch noch meine Tür zu Kalifornien öffnen?
«Es ist etwas Magisches in der kalifornischen Lebensweise.
Keine andere Region fragt mit derselben Hartnäckigkeit
immer wieder: ‹What’s next with new ideas?› »
Denn seit ich mit 19 Jahren mit dem Ersparten aus der Stifti einen Trip durch den Golden State finanziert hatte, war mir klar: Irgendwann werde ich hier etwas machen. Die Freundlichkeit der Menschen, diese lebensbejahende Grundhaltung überwältigten mich.
Doch zunächst stand mir die US-Immigrationsbehörde im Weg. Zwei- oder dreimal wurden meine Green-Card-Anträge abgelehnt. Was aber gar nicht so schlimm war. Denn Kalifornien lancierte seinen bis dahin wohl grössten Exportschlager – das World Wide Web. Ja, das WWW wurde von einem Engländer in…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1098 - Juli/August 2022 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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