Wille, Glück und Napoleon
Die Herkunftserzählungen der heutigen Schweiz sind vielfältig, woher aber rühren sie? Was kommt heraus, wenn man sie in den zeitgenössischen politischen Diskurs übersetzt? Und: leidet die Eidgenossenschaft an einer Depression?
René Scheu: Es geht heute um eine grosse Frage, um die Frage nach dem Selbstverständnis der Schweiz, nach dem nationalen Zusammenhalt, nach der kollektiven Identität. In der Eidgenossenschaft erzählt man sich gerne die Geschichte von der Willensnation. Will heissen: was das Land zusammenhält, ist der Wille zusammenzuhalten. Das klingt für mich ziemlich tautologisch. Georg Kohler, im Ernst, ist die Willensnation nicht bloss der bestgehütete, da bequeme Mythos der Gegenwart?
Georg Kohler: Nein, nein, der Begriff ist sehr präzise. Das Erstaunliche an der Schweiz ist ja wirklich, dass sie keine Kulturnation darstellt. Was also hält sie zusammen? Zunächst einmal muss man es paradox ausdrücken: Es ist der Wille, nicht zu den anderen gehören zu wollen. Genf wollte nicht zu Frankreich gehören, die Bündner nicht zu Österreich und die Innerschweizer sowieso zu niemandem. Also musste man notgedrungen zusammenarbeiten. Ein zweites kommt hinzu. Die politische Selbstbestimmung im Rahmen der direkten Demokratie ist der parteienübergreifende Kitt dieses Landes. Willensnation bedeutet für mich genau dies: die direktdemokratische Idee der sich selbst bestimmenden Gemeinschaft. Hierin ist auch die Erklärung dafür zu suchen, warum wir notorisch Probleme bekommen, wenn wir das Land in einen grösseren Zusammenhang stellen. An der direkten Demokratie wollen Herr und Frau Schweizer nur ungerne Einschnitte hinnehmen, sie ist so etwas wie ein unverzichtbarer Teil der Identität.
Scheu: Philipp Gut, Sie sagen, in der Schweiz seien wir harmoniesüchtig bis an die Grenze des Erträglichen. Sind Sie mit Herrn Kohler in diesem Punkt aber trotzdem einverstanden?
Philipp Gut: Ich geb’s gerne zu: Ausnahmsweise hat Georg Kohler recht. Der Begriff der Willensnation ist nicht hohl. Es gibt eine ganz einfache Probe aufs Exempel: Wenn die Schweiz das auseinanderdriftende Land wäre, von dem die Medien gerne reden, dann hätten wir schon lange über ein Referendum zur Abspaltung abgestimmt, wie es jüngst in Schottland geschah. Haben wir aber bekanntlich nicht. Die Genfer wollen nicht zu Frankreich, das Tessin nicht zur Lombardei. Also sind wir wirklich eine Willensnation.
Olivia Kühni: Herr Zaugg, Sie vertreten die Position, dass wir nicht einfach ein Volk von einig Brüdern und Schwestern sind, die sich einst friedlich zusammenfanden. «Wir verdanken viel dem Glück, dem Krieg und dem Zufall», schreiben Sie. Wie halten Sie’s mit der Willensnation?
Thomas Zaugg: Ich habe den Eindruck bekommen, auch jetzt wieder, dass regelmässig von einem fast politikwissenschaftlichen Geist gesprochen wird, der da unsere «Willen» irgendwie inspiriert haben soll. Dabei blenden wir gerne aus, dass es historisch gesehen viele Zufälle und Konflikte gab, die die Schweiz am Ende doch zusammenhielten. Nehmen wir die Bundesstaatswerdung bis 1848. Sie verlief auch über die Ausschliessung der Jesuiten, über die Vertreibung von Minderheiten, Klosteraufhebungen, Freischarenzüge und politische Morde. Der Sonderbundskrieg wurde von den liberal-radikalen Kräften nur deshalb gewonnen, weil das europäische Umland selber gerade so sehr mit eigenen bürgerlichen Revolutionen beschäftigt war, dass es in der Schweiz nicht eingreifen konnte. Ich bestreite nicht, dass es in den Kantonen früh – bereits vor den 1830er Jahren – Bestrebungen zu einem Bundesstaat gab. Aber es brauchte eben auch viel Glück und Einfluss von aussen, damit die moderne Schweiz entstehen konnte.
Scheu: Herr Stauffer, es zeichnet sich ein Konsens ab: das Verbindende der Schweizer besteht darin, dass sie nicht zu einer anderen Gemeinschaft gehören wollen. Was aber verbindet sie?
Michael Stauffer: Die Rede von Willen, von Willenskraft gefällt mir eigentlich recht gut. Die interessante Frage ist allerdings, wofür man den Willen einsetzt. Man kann ihn einsetzen, um Nein zu sagen. Oder man kann ihn einsetzen, um etwas zu verstehen und zu integrieren. Im Moment schaffen wir gerade wieder viele Feindbilder, die wir benutzen, um den grossen gemeinsamen Willen zu beschwören, an dem andere nicht teilhaben sollen. Ich sehe das sehr praktisch und pragmatisch: Es wird einfach die Erzählung, dass es diesen gemeinsamen Willen gibt, wiederholt, und in diese Wiederholung verpackt man dann je nachdem andere politische Inhalte.
Kohler: Halt. Die Rede von der Willensnation hat ein institutionelles Fundament: die direkte bzw. halbdirekte Demokratie. Ich habe keine Mühe, zuzugeben, dass Christoph Blocher in diesem einen Punkt recht hat: Es wird zu Einbussen kommen, wenn wir weiter auf dem Weg des Bilateralismus gehen. Wenn EU-Recht auf die ungezähmte direkte Demokratie trifft, dann führt das automatisch zu Konflikten – und zur Notwendigkeit nach neuer Selbstverständigung und Neujustierung.
Scheu: Wir fühlen uns in der Schweiz offensichtlich als «Bürger im vollen Sinne», wie Jacob Burckhardt einst schrieb. Das, was uns letztlich auszeichnet, was wir als das schwierige Gemeinsame erkennen…
Kohler: …das ist mir jetzt schon zu pathetisch, dieser Freiheitswille der Bürger, das klingt nach Folklore. Es geht um die Institutionen, die wir neu definieren müssen. Dass es die Schweiz gibt, ist weder der Wille Gottes noch der Wille des Volkes, sondern es ist eben vielen Zufällen zu verdanken, da schliesse ich mich Thomas Zaugg an. Einer davon war, dass der Korse Bonaparte ziemlich viel Rousseau gelesen hatte und die Schweiz damals, als sie von ihm abhängig war, als Pufferstaat konstruierte. Er hätte sie auch aufteilen können. Das war der Wille eines einzigen Mannes.
Gut: Einspruch! Der politische Freiheitsbegriff in der eidgenössischen Tradition ist bestimmt keine Folklore. Er ist zentral, weil er erst definiert, worauf der Wille der Willensnation gerichtet ist. Es gibt zahlreiche Umfragen in angrenzenden Regionen des Auslandes, die ebenfalls gerne zur Schweiz gehören würden. Wenn man die befragt, was denn nun das Attraktive an der Schweiz sei, dann kommt stets genau das: die direkte Demokratie, die Mitbestimmung, der Föderalismus.
Scheu: Sie sprechen von Freiheit im Sinne der politischen Partizipation. Was ist mit unternehmerischer, mit wirtschaftlicher Freiheit?
Gut: Die ist ebenfalls fundamental für das Erfolgsmodell Schweiz. Aber das politische Unterscheidungskriterium bleibt entscheidend: Wir sind anders, mithin ein Sonderfall, dank direkter Demokratie, was ja letztlich bloss bedeutet, dass das Volk die eigentliche Opposition zur hohen Politik darstellt. Wir haben eine einzigartige Machtteilung, die dafür sorgt, dass nicht Eliten das Sagen haben, sondern Entscheide möglichst nah an der Basis fallen. Für dieses Modell steht die Schweiz. Sie ist eben tatsächlich, um den grossen liberalen Historiker Herbert Lüthy zu zitieren, eine «Antithese» zu Europa. Was uns aber bis heute fehlt, ist eine echte Streitkultur.
Zaugg: Das verstehe ich nicht. Wir haben in den letzten zehn Jahren über alles Mögliche abgestimmt, vom Bau von Minaretten bis zum Bau von Zweitwohnungen. Oft geht es um Fragen, über die man in Deutschland nicht laut nachdenken, geschweige denn abstimmen darf. Man muss sich das vergegenwärtigen: Wir hatten eine Volksinitiative wegen vier Minaretten. Ich finde das ja gut, dass wir streiten dürfen: aber woher kommt dieses Gefühl, dass wir zu wenig streiten? Wir streiten doch unentwegt.
Gut: Wir streiten nicht offen, bloss an der Urne. Sobald die öffentlichen Diskussionen intensiv werden, kommen die Hüter der Moral und wollen die Debatte unter eine Käseglocke stellen. Die Minarette haben die Bevölkerung beschäftigt. Wer das Problem direkt anspricht, gilt aber als Unruhestifter, es heisst dann reflexartig: eine solche Diskussion geht zu weit, ist zu aggressiv, der Stil gefällt nicht. Ich halte das für grundfalsch.
Kühni: Worüber spricht man denn nicht? Worüber würden Sie gerne sprechen und dürfen das nicht?
Gut: Ich tue es ja – und werde sofort zurückgepfiffen, auch in diesem Kreis. Ist das nicht der beste Beleg für meine These der interessegeleiteten Harmoniesucht? Im Ernst: in Bundesbern hat sich eine Mitte-links-Koalition gebildet und propagiert eine «Politik der Vernunft». Selbstverständlich geht es da nicht um Vernunft, sondern darum, Vorschläge auszubremsen, die nicht genehm sind. Darum mein Ruf: seid sportlicher, beklagt Dissens nicht, sondern befördert ihn!
Scheu: Die Stichworte Föderalismus und direkte Demokratie sind gefallen, das sind Klassiker. Michael Stauffer, würden Sie die Schweiz auch so definieren? Haben wir heute abend den Konsens schon gefunden, den wir gesucht haben?
Stauffer: Der Konsens ist im Moment im besten Falle eine Art Depression. Was Philipp Gut gerade gesagt hat, ist schon richtig. Es ist schön, wenn der andere da ist, aber er soll sich bloss nicht zu fest bewegen, sonst muss ich mich noch mit ihm auseinandersetzen. Anderseits kann eine solche passiv-melancholische Haltung ja durchaus zu kreativen Taten führen. Nur weiss man nicht, wann. Ich bin künstlerisch tätig, da gibt es diese Phase, wo angeblich nichts passiert. Und wir stecken nun schon eher länger dort fest. Mich stört das an sich nicht. Es kann ein Schaffensrausch daraus hervorgehen, Gewalt oder eine noch tiefere Depression. Mal schauen, würde ich sagen.
Kohler: Ich lege Widerspruch ein gegen Philipp Gut! Wir bewegen uns im Moment von einer Konsensdemokratie hin zu einer Dissensdemokratie. Wir haben ein Problem, und das ist unser Verhältnis zu Europa. Und da ist gerade ein veritabler Kulturkampf im Gange. Ich bin ein Vertreter derer, die sagen: Die Schweiz hat nur einen Platz, wenn sie sich integrieren kann in der Europäischen Union. Philipp Gut behauptet das Gegenteil. Was mich aber wirklich ärgert: dieses Gerede von uns und unserem Freiheitswillen. Das ist ein unerträglicher Chauvinismus. Sind denn etwa die Niederländer nicht von Freiheitswillen beseelt? Es gehört doch zu fast allen europäischen Ländern, dass die Menschen demokratische Mitbestimmung wollen.
Gut: Ich staune über die Geringschätzung, die Professor Kohler als politischer Philosoph dem Freiheitsbegriff entgegenbringt. Was ich sage, ist folgendes: Hätte die Schweiz keine Institutionen, die mehr Partizipation bieten, mehr Mitsprache auf tiefer Ebene, hätte sie keinen Staatsaufbau von unten statt von oben, dann könnte man sie sofort aufgeben. Sie wäre überflüssig.
Kohler: Aber das will doch niemand! Dieses ewige Entweder-oder…
Gut: …Moment, nur um das fertig zu machen. Ich behaupte doch nicht, andere Völker seien nicht auch freiheitsliebend, natürlich sind sie das! Aber die Schweiz hat schon seit längerer Zeit – Sie würden sagen seit 1848, man könnte auch sagen seit 1291 – tatsächlich mehr Freiheit als andere. Genau deshalb ist sie ein Stachel im Fleisch der europäischen Politelite.
Zaugg: Also, ich war 1989 vier Jahre alt. Aber ich habe in Büchern gelesen, dass sich damals die Welt geändert hat – und damit auch die Stellung der Schweiz in der Welt. Philipp Gut, Ihr grosser Favorit Herbert Lüthy hat die Schweiz als Antithese beschrieben. Nur hat das eben zu tun mit dem 19. Jahrhundert, dem Zweiten Weltkrieg und dem darauffolgenden Kalten Krieg. Aber seit 1989 ist die Schweiz eben nicht mehr unter einem Nato-Schutzschirm, und deshalb werden wir jetzt vermehrt als Konkurrent wahrgenommen. Darum müssen wir uns überlegen, ob wir uns weiterhin über diese Antis definieren können und wollen. Herbert Lüthy würde heute wohl ganz andere Aufsätze schreiben – und tat dies übrigens bereits in den 1960er Jahren, als er die Schweiz nicht bloss nur als Antithese verstand.
Scheu: Bleiben wir beim Pro: den direktdemokratischen Institutionen. Sie geraten zunehmend unter Druck, und zwar in ganz prinzipieller Art und Weise. Es gibt eine globale Welt, in der Kapital, Güter und Dienstleistungen beliebig verschoben werden, also eine Sphäre, die sich unserem Einfluss entzieht. Dem steht die hohe politische Selbstbestimmung gegenüber, die wir in der Schweiz haben. Genau über die definieren wir uns, gerade das wollen wir nicht aufgeben. Philipp Gut, wie gehen wir am besten mit diesem Spannungsfeld um?
Gut: Ich sehe diese Situation nicht als Problem. Bleiben wir konkret: Gerade werden wieder mal Vorwürfe gegen verschiedene Unternehmen herumgeboten, weil sie ihre Steuern im Ausland optimieren. Die Ems-Chemie in Luxemburg oder die Ammann-Gruppe. Dabei ist es doch Pflicht, dass ein Unternehmer den Ertrag optimiert; er handelt sonst nicht im Interesse seiner Aktionäre. Fragen stellen muss sich weniger die Ammann-Gruppe, sondern der Kanton Bern, der so hohe Steuersätze hat, dass er die eigenen Firmen in die Flucht treibt. Kurzum, ich sehe keine Notwendigkeit, dass wir unsere politischen Rechte einschränken, nur weil die Wirtschaft globalisiert wird.
Kühni: Dann lassen Sie mich ein paar Felder nennen, wo es Konflikte gibt. Wir haben den Energiemarkt, der gesamteuropäisch funktionieren muss, wir haben die Migration, die ein gesamteuropäisches Thema ist, wir haben das sehr grundsätzliche Problem teilweise widersprüchlicher Rechtssysteme. Man kann nicht wegreden, dass es an all diesen Schnittstellen Friktionen gibt. Genau diese Behauptung, es gebe kein Problem, löst doch die von Herrn Stauffer zuvor diagnostizierte Lähmung aus. Das ist sie doch, die Depression, Herr Stauffer?
Stauffer: Eine Ohnmacht, ein Ohnmachtsgefühl. Vielleicht ist es tatsächlich nötig, die direktdemokratischen Elemente als Allerweltswerkzeuge zu hinterfragen. Wenn ein Land anfängt, diese gegen sich selber einzusetzen, ist es Zeit, das zu prüfen. Die ständig zunehmenden Initiativen kosten für die Urheber nicht alle Welt. Aber die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgekosten können enorm sein. Vielleicht müssen wir darüber abstimmen, dass wir über gewisse Dinge einfach nicht mehr abstimmen.
Scheu: Lieber nicht! Das ist doch der Preis der Freiheit: dass man sich irren kann.
Stauffer: Ja. Nur ist es normalerweise so, dass man etwas lernt aus den Entscheiden.
Scheu: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass wir nicht in einem Lernprozess stecken?
Stauffer: Diese Abgrenzungstendenzen, diese Unabhängigkeitssimulationen, das machen wir jetzt schon sehr lange. Nehmen Sie als Beispiel die Frontaliers, die Grenzgänger, die man symbolisch zurückschickt und wieder holt, das ist ja nichts Neues. Die grossen Firmen, die werden sich sowieso organisieren, die haben kein Problem. Leiden werden jene, die zu klein sind. Genau von denen lebt aber die Schweiz.
Kühni: Herr Kohler, das ist Ihr Thema. Warum sind Sie so still?
Kohler: Ich will nicht zu viel reden! Nach 1989, nach dem Ende des Kalten Krieges, ist diese Beziehung zwischen politischer Selbstbestimmung und wirtschaftlichem Erfolg in einer globalisierten Welt in ein neues Verhältnis gerückt. Es gibt eine funktionale Notwendigkeit, dass sich wirtschaftliche Grossräume auch politisch neu organisieren. Dass sie die Steuern vereinheitlichen oder Produktstandards einführen. Das tut die EU, und sie ist sehr erfolgreich darin. Wir können das weder ändern noch aufhalten, die Schweiz muss sich dem Anpassungsprozess stellen. Darum – und nur darum – geht es. Wir müssen aufhören, das so hochzustilisieren zu einem Entweder-oder, Freiheit oder Unterwerfung, das ist doch Quatsch. Es geht lediglich darum, Elemente der direkten Demokratie anzupassen; deswegen müssen wir ja nicht alles ändern. Da hat die Schweiz übrigens Erfahrung, sie hat sich in der Geschichte immer wieder klug angepasst.
Scheu: Sie war allerdings oftmals auch widerständig. Thomas Zaugg, wie sehen Sie das?
Zaugg: In einem Punkt bin ich sehr einig mit Christoph Blocher, wenn er nämlich das Schweizer Modell als Modell nur für die Schweiz vertritt. Blocher hat diesen missionarischen Anspruch nicht. Das gibt es ja mittlerweile auch, Schweizer, die glauben, sie könnten die Welt, vor allem die EU, demokratischer nach Schweizer Vorbild machen. Da bin ich sehr konservativ, ja geradezu nostalgisch. Ich glaube: unser Modell stimmt bei uns und für uns, aus verschiedenen historischen Gründen, aber es wird im Ausland so nie aufgenommen werden.
Scheu: Beschränkung der direkten Demokratie – ja oder nein?
Zaugg: Der Nostalgiker in mir sagt: nein. Aber wir sollten uns darauf nichts einbilden. Diese Überhöhung der Volksinitiative, die vom Volk, von den Wurzeln, nach oben dringt, das stimmt ja auch nicht ganz. Da sind Interessen dahinter. Viele Dinge kommen gar nie zur Abstimmung, weil das Geld für Kampagnen fehlt. Da müssen wir aufpassen, dass wir unsere hochwohlgeborene Demokratie nicht fetischisieren.
Scheu: Die Frage nach dem Geld halte ich für überschätzt. Viele Abstimmungen, die mit diesem Geld geführt werden, werden ja verloren – ich nenne nur zwei: die Minder-Initiative und die Masseneinwanderungsinitiative.
Gut: Sie haben vollkommen recht. Es gibt viele Kampagnen, die einseitig waren, bei denen fast alle Parteien und Wirtschaftsverbände hinter einem Kurs standen. Da spürt man jeweils das Misstrauen gegenüber dem angeblich dummen Bürger, der da unten ist, und der misstraut denen, die ihm misstrauen…
Kohler: …also jetzt hören Sie doch auf. Das hat hier von uns keiner so gesagt.
Gut: Sie wollen die demokratischen Rechte des Souveräns beschneiden, das ist der Sinn Ihrer Rede von einer «Anpassung». Aber warum denn? Hat das Volk je entschieden, alle Linkshänder oder Brillenträger ins Gefängnis zu werfen oder hinzurichten? Wenn man sich einlässt auf den demokratischen Diskurs, den Wettbewerb der Ideen, dann braucht es nun mal ein gewisses Urvertrauen in die Menschen. Man kann nicht bei jeder Abstimmung sagen, so gehe das nicht. Das ist dann eben ein Mehrheitsentscheid. Dieser entspricht jener demokratischen Kultur, für die in der EU das tiefere Verständnis fehlt.
Kühni: Und darum wählt jetzt ein Viertel der Franzosen Front National. Weil das in Europa sonst keiner begreifen kann.
Gut: Ja, das ist dann die Reaktion.
Kühni: Ich halte das für eine Inszenierung. Diese Behauptung, dass eine Mehrheit der öffentlichen Meinung das Volk für dumm hält. Wo wir seit Jahren nichts anderes tun, als das Volk sehr ernst zu nehmen. Und immer wieder betonen, wie wichtig die Volksrechte seien. Ja, dass sie inhärent zum Wesen der Schweiz gehörten. Es ist eine Inszenierung, die dazu dient, sich danach als Märtyrer für die Volksrechte aufzuschwingen.
Gut: Nun, es gibt eine ganze Reihe von Nationalräten und Ständeräten, von Rechtsprofessoren, die fordern, man müsse die Volksrechte einschränken. Das ist doch ein Misstrauen gegenüber dem Volk. Das ist eine Tatsache.
Kühni: Die Frage ist doch nicht die nach dem Instrument, wir haben das bereits umkreist. Die Frage ist doch, wohin wir mit unseren Instrumenten wollen. Sie sagen, das Volk habe noch nie etwas wirklich Dummes beschlossen. Aber die Frage sollte doch nicht die sein,
was für Dummheiten wir nicht beschliessen, sondern die, was wir Zukunftsweisendes beschliessen.
Gut: Ich weiss nicht, was die Schweiz jetzt Grosses und Zukunftsweisendes beschliessen sollte. Es gibt immer wieder ganz konkrete Themen, die es von Fall zu Fall zu entscheiden gilt. Ein Beispiel war der EWR, wo man den Teufel an die Wand gemalt hat, und die Schweiz ist relativ gut gefahren mit ihrem Nein. Ich finde, wir sollten unseren pragmatischen Weg weitergehen. Eine Politik der kleinen Schritte, der Fehlerkorrektur im Sinn des liberalen Philosophen Karl Popper. Grosse Würfe, grosse Visionen – das brauchen wir nicht. Und das ist gefährlich.
Kühni: Thomas Zaugg, Sie regen sich. Haben Sie einen Einwand?
Zaugg: Nur kurz. Ein Grund, warum ich mich nicht mehr Verfassungspatriot nennen kann, ist, dass in der Verfassung steht, der Bau von Minaretten sei verboten. Ich wäre der letzte, der behaupten würde, alle Musliminnen und Muslime in der Schweiz seien hier voll angekommen und hätten sich vorbehaltlos integriert. Aber dass wir jetzt so eine rein symbolische Regelung in der Verfassung drin haben, die rein gar nichts bringt, das stört mich wirklich.
Kohler: Pragmatische Schritte braucht es, da sind wir uns einig. Wir haben skizziert: es gibt ein Problem zwischen dem wirtschaftlichen Umfeld und dem politischen System. Die Schweiz hat wirtschaftlich reüssiert, weil sie in der Lage war, diesen Spagat auszuhalten. Wir hatten die EWR-Abstimmung, es kam das schlimme Jahrzehnt der 1990er Jahre. Dann gab es die Bilateralen, die zu einem Aufschwung geführt haben. Ich bin nicht für den Beitritt zur EU. Aber ich finde es falsch, wenn ein grosser Teil der Nationalkonservativen jetzt den bilateralen Weg kappen will, weil damit einfach zu viel auf dem Spiel steht – unsere ureigenen Interessen. Da wächst etwas Grosses zusammen, und die können in Brüssel nicht jedes Mal etwas Neues mit dem Drittstaat Schweiz verhandeln. Da bin ich nicht mehr dabei, und darum bin ich bereit, gewisse Abstriche im Bereich der Referendums- und Initiativrechte zu machen. Das ist für mich das Thema, über das wir reden müssen.
Scheu: Wir protokollieren, was Sie gesagt haben: kein EU-Beitritt, sondern die Bilateralen! Die Bilateralen werden sehr gelobt als Lösung, auf die sich alle einigen können. Das Problem ist nur: Man kann sich nicht einfach statisch hinter dem Bilateralismus verstecken, die EU verlangt eine dynamische Rechtsübernahme von Seiten der Schweiz. Die Abstimmung zur Masseneinwanderungsinitiative hat diese längst fällige Debatte forciert.
Kohler: Man muss das auch mal genau eingrenzen, welches Recht hier sogenannt nachvollzogen wird: Es geht nicht um alles, um das Scheidungsrecht oder Konfessionen oder was auch immer, es geht um das Recht des Wirtschaftsraumes. Ja, da gibt es Einschränkungen. Aber es gibt keine fremden Richter, die uns in jeder Hinsicht bestimmen. Das ärgert mich auch an der «Weltwoche», dass sie nicht konkret diskutiert, sondern immer mit den ganz grossen Kanonen, Freiheit und so weiter, auf Spatzen schiesst.
Gut: Soll ich mich angesprochen fühlen? Wir haben über Fetische gesprochen, und der Bilateralismus wurde eben auch zu einem solchen gemacht. Was wir bei der «Weltwoche» aufzuzeigen versuchen, ist folgendes: dass unter dem Begriff Bilateralismus immer mehr folgenschwere Anpassungen erfolgen, die den Charakter einer schleichenden Totalintegration anzunehmen drohen. Hier braucht es Aufklärungsarbeit – sonst wissen wir ja gar nicht, worüber wir eigentlich reden. Die Begriffe müssen präzis bleiben.
Stauffer: Nun, wenn man mit jemandem verhandelt, lernt man immer auch etwas über sich selber. Ich halte es für dumm, wenn man nicht mehr verhandelt. Wenn ich verhandle, muss ich eine Position einnehmen. Dann werde ich gelobt oder getadelt, an der eigenen Verhandlung wächst man als Mensch und als Land. Es wäre seltsam zu beschränken, mit wem man reden will und mit wem nicht.
Scheu: Sie sprechen sibyllinisch. Verstehe ich Sie richtig: Sie stossen sich an der EU-Fixiertheit der Schweiz?
Stauffer: Ja. Wir könnten, ja müssten auch viel stärker mit China oder den Russen verhandeln. Es ist natürlich für den Verhandelnden anstrengend, sich auf immer neue Gebilde einzustellen. Aber das ist eben das Dilemma, dieses Auseinandergefallensein, dass die einen in die EU wollen und die anderen nicht. Auf der Strecke bleibt der Blick für die ganze Welt.
Scheu: Selbst die nominell bürgerlichen Politiker können sich längst nicht mehr auf eine eigene Position verständigen.
Stauffer: Es ist eine Sackgasse. Wir sind nicht verhandlungsfähig.
Kohler: Michael Stauffer, eine Frage. Philipp Gut und ich, wir sind Radikale. Ich war schon immer sehr politisch. Dann gibt es aber eine grosse Gruppe in der Mitte, zu der Sie gehören, melancholisch bis verdrossen. Wie gehen Sie damit um? Legen Sie das einfach beiseite, oder sagen Sie sich, auch als Vertreter Ihrer Generation: Mist, vielleicht müssten wir uns tatsächlich etwas mehr damit auseinandersetzen?
Stauffer: Ja, das ist sicher ein Problem. Aber nicht nur meines oder das meiner Generation. Die Auseinandersetzung findet hier heute abend wunderbar statt, aber in einer sehr codierten Art und Weise. Das geht über viele Köpfe hinweg und zum Fenster hinaus. Ich glaube, wir müssen eine banalere Art des Diskurses finden. Diese zugespitzten Diskussionen sind vielleicht für eine Elite interessant, für die allermeisten Menschen sind sie es nicht.
Kohler: Wie denn?
Stauffer: Ich habe mir im Vorfeld grosse Sorgen gemacht, wie ich hier mitdiskutieren könnte. Ich habe hier noch so eine Mappe, da könnte ich Wörter nachschlagen, um intelligenter zu klingen, aber ich glaube nicht, dass das der Weg ist. Ich glaube tatsächlich: wir müssen Dinge ganz einfach sagen.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine redigierte und gekürzte Transkription des Debattengesprächs, das auf Einladung des «Schweizer Monats» und der Fredy & Regula- Lienhard-Stiftung am 17. September 2014 im «Karl der Grosse» in Zürich stattfand.