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Margit Osterloh & Nicola Plain, fotografiert von Selina Seiler.

«Es gibt Vorteile, in der
Opferrolle zu sein»

Nicola Plain ist CEO eines Fintech-Start-ups, Margit Osterloh Wirtschaftsprofessorin. In unserer neuen Gesprächsreihe unterhalten sie sich über Geschlechterrollen, Cancel Culture und das Potenzial von Kryptoassets.

 

Das vollständige Gespräch ist auch als Podcast verfügbar. 

 

Wir laden Margit Osterloh und Nicola Plain an einem Dienstagabend in die «George Bar» in Zürich ein. Die beiden kennen sich nicht, verstehen sich aber auf Anhieb bestens. Bei einem Drink im Séparée entspinnt sich ein Gespräch, das deutlich länger dauert als ursprünglich geplant.

 

Nicola Plain, wie würdest du einem Laien erklären, was Aktionariat tut?

Nicola Plain: Im Grunde ist es nicht schwierig. Weniger als 1 Prozent der privaten Unternehmen in der Schweiz sind an der Börse kotiert. Die restlichen 99 Prozent sind nicht öffentlich für Investitionen zugänglich. Wir nutzen die Blockchain-Technologie, um deren Aktien einfach handelbar zu machen und um sie einem breiten Publikum anzubieten.

 

Kann ich als private Gesellschaft einen Teil meiner Aktien einbringen?

Plain: Genau. In der Regel erörtern wir zuerst, worin die Motivation für die Nutzung der Technologie besteht. Vielleicht geht es darum, frisches Kapital über die Ausgabe bestehender oder neu zu schaffender Aktien einzusammeln? Dann kann man einen Teil dieser Aktien «tokenisieren» und so einer breiten Masse zugänglich machen. Das Ganze öffentlich zu machen, ist natürlich kein Erfordernis.

 

Wie würdest du Blockchain definieren?

Plain: Zunächst einmal sollte man die Technologie nicht zu sehr in den Vordergrund rücken. Sie ist lediglich ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Der Endnutzer sollte damit nicht zu stark in Verbindung kommen. Dennoch werde ich versuchen, Blockchain zu erklären. Man kann Blockchain mit einer Datenbank vergleichen, auf der Transaktionsdaten niedergeschrieben werden. Die Blockchain ist ein verteiltes Register, das nicht auf einem einzigen Gerät gespeichert ist. Ferner gibt es einen bestimmten Validierungsmechanismus, der determiniert, was in dieses Register geschrieben werden darf. Gemäss diesen festgelegten Regeln kann jeder es benutzen, Transaktionen validieren und die Daten dezentral abspeichern.

 

Was wird in Zukunft alles «tokenisiert» werden?

Plain: Bisher wird viel weniger tokenisiert als ursprünglich erwartet. In Finanztransaktionen sehe ich natürlich ein gewisses Potenzial. Heute gibt es ganze Backoffice-Abteilungen in Banken, die bei Finanztransaktionen «Settlements» durchführen und die Bücher abgleichen. Solche Finanzintermediäre fallen mit der Blockchain weg. Bei anderen Bereichen bin ich skeptischer, etwa bei Loyalitätsprogrammen von Supermärkten und Fastfoodketten.

«Heute gibt es ganze Backoffice- Abteilungen in Banken, die bei

Finanztransaktionen ‹Settlements› durchführen und die Bücher

abgleichen. Solche Finanzinter- mediäre fallen mit der Blockchain weg.»

 

Margit, hat dich das Unternehmertum nie gereizt?

Margit Osterloh: Nein. Ich arbeitete einige Jahre im Unternehmen meines Vaters, einer Firma im Bereich der Klimatechnik – und machte das gerne. Doch als Tochter hatte ich da nicht die richtigen Entwicklungschancen; jedenfalls empfand ich das so. So entschloss ich mich, wieder in die Wissenschaft zurückzukehren. Ich bin gerne Wissenschafterin, ganz nach dem Motto: Grübeln statt Dübeln.

 

Nicola, hattest du schon früh klare Vorstellungen von deiner beruflichen Laufbahn?

Plain: Nein. Während meiner Zeit im Gymnasium dachte ich, dass ich Journalist werden könnte, weil mir das Deutsch gut lag. Ich entschied mich am Ende dagegen. Per Zufall lud mich dann ein enger Freund, der an der HSG studierte, nach St. Gallen ein. Diesen Weg beschritt ich schliesslich.

 

Margit, du hast vergangenes Jahr mit einer Studie für Aufsehen gesorgt, über welche die «Sonntagszeitung» berichtete und die einen sogenannten Shitstorm auslöste. Was ist genau passiert?

Osterloh: Meine Kollegin Kaja Rost und ich haben in der Studie die Ursachen der «Leaky Pipeline» an den Universitäten untersucht. Als «Leaky Pipeline» bezeichnet man das Phänomen, dass der Frauenanteil bei Studiumsbeginn bei sechzig Prozent liegt, auf höheren akademischen Stufen jedoch sinkt – bei ordentlichen Professoren liegt er bei 25 Prozent. Wir wollten die Ursache dafür herausfinden und untersuchten, ob die «Leaky Pipeline» in allen Fakultäten in gleichem Mass besteht. Das Ergebnis war überraschend. Gemäss den Annahmen der Genderforschung würde man erwarten, dass es die Frauen umso leichter hätten, je höher der Frauenanteil in einem Fachgebiet ist – dass also in den Fächern Psychologie, Soziologie und den Sprachwissenschaften Frauen besonders erfolgreich sind. Genau das Gegenteil war der Fall: Die «Leaky Pipeline» ist am ausgeprägtesten in den frauendominierten Fächern und am niedrigsten in männerdominierten Fächern.

 

Was habt ihr dann gemacht?

Osterloh: In einem zweiten Schritt wollten wir die Ursache dafür ergründen. Wir haben Studierende, Assistierende, Promovierende und Professoren in einem Fragebogen nach ihren Vorstellungen über ihre Karriere und Zukunft befragt. Es zeigte sich, dass in frauendominierten Fächern die Karriereneigung etwas geringer ist als in männerdominierten Fächern. Die «Sonntagszeitung» titelte dann: «Die meisten Studentinnen wollen lieber einen erfolgreichen Mann als selber Karriere machen.» Eine Überzeichnung, sicher, sie enthält aber doch ein Körnchen Wahrheit.

 

Welchen Schluss habt ihr gezogen?

Osterloh: Viele Frauen, auch jene, die ein Studium machen, stellen sich bereits stark auf die künftige Partnerschaft und Familie ein. Diese Erkenntnis passte natürlich den «Woken» nicht, denn sie enthüllte, dass das Selbstbild der Frauen oft nicht so progressiv ist, wie das die Woken gerne hätten. Uns wurde vorgeworfen, wir hätten schlechte Arbeit geleistet, falsche Fragen gestellt und so weiter. Wenn man ein Ergebnis nicht gut findet, fängt man an, an den Methoden rumzukritteln. Das war schon sehr schmerzhaft. Aber die Geschichte hat ein glückliches Ende genommen.

 

Nämlich?

Osterloh: Claudia Goldin hat im vergangenen Herbst den Nobelpreis für ihre hervorragende Arbeit zu Genderfragen erhalten. Was Goldin herausgefunden hat, deckt sich mit unseren Schlussfolgerungen. Was mich überraschte, waren die vielen positiven Zuschriften, die ich erhielt. Innerhalb eines halben Jahres hatte sich die Situation um hundertachtzig Grad gewendet. Daraus ziehe ich den Schluss, dass sich das bessere Argument durchsetzt, wenn man die Diskussion laufen lässt.

 

Vielleicht haben nicht alle Wissenschafter den Mut, sich solchen Diskussionen zu stellen.

Osterloh: Sich gegen die Mehrheitsmeinung zu stellen, erfordert immer einen gewissen Mut, denn es ist immer leichter, mit den Wölfen zu heulen. Gott sei Dank gibt es immer wieder genügend mutige Leute, die sich dem widersetzen. Entscheidend ist dann, ob man wie Sokrates den Schierlingsbecher trinken muss – oder weiterdiskutieren kann. Meine These ist: Je demokratischer ein Land oder die Universitätskultur, desto weniger Mut braucht man, um solche Schwierigkeiten durchzustehen.

Plain: Ich frage mich, ob diese «woke» Meinung tatsächlich eine Mehrheit ist oder nicht eher eine Minderheit, die – wieso auch immer – eine grosse Macht erhalten hat und die Mehrheitsmeinung zu unterdrücken vermag. Wie schätzt du das ein?

Osterloh: Die Woken sind ganz klar eine Minderheit. Deswegen regt sich die Mehrheit ja darüber auf, denn sie fühlt sich bevormundet und gegängelt. Die gendergerechte Sprache geht mir auch auf den Keks. Die woke Bewegung entstand ursprünglich, weil sich junge Leute für unterdrückte Minderheiten interessierten. Die MeToo-Bewegung zum Beispiel war in ihren Anfängen etwas Gutes. Ich würde aber nicht sagen, dass sie sich zu einer Diktatur der Minderheit entwickelt hat. Eher ist es so, dass diejenigen, die am lautesten schreien, am meisten Ärger machen.

 

Wie wichtig ist das öffentliche Ansehen für Aktionariat?

Plain: Es ist enorm wichtig. Wir sind ein Softwareunternehmen, das den Handel mit Wertpapieren ermöglicht. Wenn es um Geld geht, ist Vertrauen die wichtigste Währung.

 

Überlegt Aktionariat sich, mit welchen Unternehmen man zusammenarbeitet und mit welchen nicht?

Plain: Wir überlegen uns das sehr gut. Anfangs sagten wir, dass jeder unsere Technologie nutzen kann. Wir merkten jedoch schnell, dass diese Strategie nicht aufgeht, weil wir damit ein grosses Reputationsrisiko eingehen. Wenn Nutzer unserer Technologie andere damit hinters Licht führen, wäre das für unser Image schädlich. Deshalb haben wir bald externe Qualitätskontrollen und Due-Diligence-Prozesse durchführen lassen.

Osterloh: Manchmal hat das eine politische Dimension. Man denke an die Boykottaufrufe gegen Firmen, die nach Beginn des Ukrainekrieges weiterhin in Russland investierten.

 

Die Erkenntnis eurer Studie, Margit, ist im Prinzip, dass sich der geringe Frauenanteil in Universitäten nicht hauptsächlich auf systemische Diskriminierung, sondern zumindest zum Teil auf individuelle Rollenvorstellungen zurückführen lässt, richtig?

Osterloh: An der Universität heute gibt es entweder überhaupt keine oder nur begrenzt Diskriminierung. In anderen Teilen der Welt mag es Diskriminierung gegen Frauen noch geben, aber bei uns nicht mehr. Die «Leaky Pipeline» lässt sich nicht darauf zurückführen. Claudia Goldin hat in diesem Zusammenhang auf folgenden Aspekt hingewiesen: Möchte ein hochgebildetes Paar eine Familie gründen, können nicht beide sechzig Stunden pro Woche arbeiten. Ein Partner muss sich zurücknehmen, damit der andere voll arbeiten kann, und traditionell ist es die Frau, die zu Hause bleibt. Goldin zeigt auch empirisch, dass es bestimmte Berufe gibt, wie die Chirurgie, in denen man Vollzeit arbeiten muss. Teilzeitsportler würden ebenfalls kaum Goldmedaillen gewinnen. Es muss innerhalb einer Familie die Entscheidung gefällt werden, welcher Elternteil weniger arbeitet. Und es scheint den Präferenzen der meisten Frauen zu entsprechen, die Arbeit zugunsten der Familie zurückzustellen.

«In anderen Teilen der Welt mag es Diskriminierung gegen Frauen noch geben, aber bei uns nicht mehr.»

 

Deckt sich das mit deinen Erfahrungen, Nicola?

Plain: Bei uns zu Hause ist das ein aktuelles Thema. Ich bin seit dreizehn Jahren mit meiner Freundin zusammen. Wenn wir Kinder haben wollen, müssen wir bald eine Entscheidung treffen. Sie ist Finanzchefin und Verwaltungsrätin in einem grösseren Unternehmen. Da stellt sich die Frage, wie man das organisiert. Eine Möglichkeit wäre, dass wir beide 80 Prozent arbeiten – aber das bedeutet oft weniger Lohn bei vollem Engagement. Eine andere Arbeit suchen möchten wir auch nicht. Das ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Übrigens fühlt sich meine Freundin keineswegs unterdrückt oder als Opfer. Meine These ist, dass es gewisse Vorteile gibt, in einer Opferrolle zu sein, da man sich als ohnmächtig darstellen kann und die Verantwortung, Dinge zu verändern, der Gegenseite zuschiebt. Das ist für das Opfer sehr gemütlich. Ich bin mir aber bewusst, dass dies eine gewagte These ist.

Osterloh: Diese These ist nicht so gewagt. Ich bin der Ansicht, dass eine Frau, die in einer solchen Situation beruflich kürzertritt, einen knallharten Ehevertrag abschliessen sollte. Dort soll festgehalten werden, dass der Mann, wenn es zur Trennung kommt, bezahlen muss. In der Schweiz ist die sogenannte Mutterschaftsstrafe, also die Einkommenseinbusse aufgrund von Mutterschaft, relativ hoch. Man sollte annehmen, dass zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes das Pensum der Frau wieder ansteigt, aber das ist nicht der Fall. Meine Hypothese ist, dass man sich nach zehn Jahren so daran gewöhnt hat, Teilzeit zu arbeiten, dass eine Änderung schwierig ist.

 

Wie hoch ist der Frauenanteil im Management von Aktionariat?

Plain: Der liegt leider Gottes bei null. Es fällt uns schwer, überhaupt Frauen zu finden. Wir haben viele Softwareentwickler, bei denen der Frauenanteil bereits sehr gering ist. Im krampfhaften Versuch, mehr Frauen einzustellen, haben wir auch schon Frauen zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, die eigentlich nicht geeignet waren – und die wir dann auch nicht einstellen konnten.

Osterloh: Manche Unternehmen haben Frauenquoten. In Deutschland ist es gesetzlich festgelegt, dass Aktiengesellschaften mit mehr als vier Vorstandsmitgliedern mindestens eine Frau im Vorstand haben müssen. Ein Ergebnis solcher Quoten ist, dass Frauen eine halb so lange Verweildauer in Geschäftsleitungspositionen haben wie Männer. Das ist ein erklärungsbedürftiger Sachverhalt, den ich noch erforschen möchte. Eine Hypothese ist, dass erfolgreiche Frauen von anderen Firmen angeworben werden, weil diese auch ihre Frauenquoten verfolgen. Eine andere Möglichkeit ist, dass solche Frauen viel zu jung in verantwortungsvolle Positionen kommen und so scheitern.

 

Was sind die grössten Herausforderungen der Schweizer Wirtschaft?

Plain: Zum Glück sind wir in der Schweiz und nicht in Deutschland, wo die Dinge sehr düster aussehen. Leider besteht eine sehr grosse Abhängigkeit der Schweiz von Deutschland, besonders wenn es um Exporte geht. Wir müssen weiterhin schauen, dass wir den Innovationsgrad hochhalten. Auf keinen Fall dürfen wir den Fehler machen, eine Bürokratie aufzubauen, die überreguliert und die Innovation behindert.

Osterloh: Die Schweiz steht bereits in vielen Bereichen hervorragend da. Man könnte noch ein bisschen mehr tun, um die Talentreserven der bildungsferneren Schichten zu mobilisieren. Hier besteht viel Potenzial. Und das sage ich, obwohl ich die schweizerische Berufsbildung ausgezeichnet finde. Der ­Arbeitskräftemangel ist ein Problem, das wir mit Mi­gration allein vermutlich nicht lösen können.

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