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Sagen Sie mal Marianne
Degginger,

wie sprechen Juden über die Shoah?

 

Zunächst einmal und vor allen Dingen: gar nicht. Meine Eltern haben mir zwar schon mit drei Jahren eingebleut, dass ich nur mit diesen und jenen Kindern und nur in bestimmten Gärten spielen durfte. «Wir sind anders als die anderen», haben sie gesagt, und viel mehr an Erklärung kam da in den folgenden Jahren auch nicht dazu. Man hat die Kinder nicht eingeweiht – und ich habe auch nicht weiter gefragt. Ich habe einfach nur meinen Eltern gehorcht. Ich sollte auf meinen jüngeren Bruder aufpassen und pünktlich zu Hause sein, und also tat ich wie geheissen.

Das war preussische Erziehung, aber natürlich steckte dahinter auch die grosse Angst meiner Eltern, dass uns als «jüdische Mischlinge ersten Grades» etwas zustossen könnte. Das einzige Mal, dass mich mein Vater geschlagen hat, mit der Hand auf den Po, war denn auch, als ich einmal auf dem Heimweg von der Sonntagsschule – der evangelischen! – getrödelt habe und eine Stunde später als gewohnt nach Hause kam. Gesagt hat er nichts, gewirkt hat es trotzdem: Ich kann es heute noch nicht ertragen, zu spät zu kommen. Dass sich mir das derart eingebrannt hatte, dass es zu einem zwanghaften Tick geworden war, habe ich erst viel später gemerkt; ich dachte, jeder sei so.

Im Krieg durften wir dann gar nicht mehr auf die Strasse. Aber auch das reichte nicht, obwohl wir ein grosses Haus und sogar noch eine Angestellte hatten, als das für Juden längst verboten war. Der Berliner Vorort Kleinmachnow, wo wir lebten, war zu klein, als dass wir uns da auf Dauer hätten versteckt halten können. Nicht weit von uns wohnte zudem eine besonders eifrige Führerin vom Bund Deutscher Mädel. Wir mussten also weg – aber das half auch nicht auf Dauer. Einmal sollten wir Kinder im Heimatort unseres «Mädchens» in Sicherheit gebracht werden, bis alles vorbei sein würde, aber schon nach sechs Wochen standen Beamte vor der Tür und wollten unsere Geburtsurkunden sehen. Also mussten wir wieder weiter. So zogen wir ständig um, mehrmals für kurze Zeit auch nach Hause zurück. Dass wir überlebt haben, mussten wir dennoch einer schützenden Hand zu verdanken haben. Mein Vater war Übersetzer für die höheren Kader bei der Reichskreditanstalt, sie brauchten ihn wohl. Aber das sind nur Vermutungen.

Meine Grossmutter hat den Krieg nicht überlebt, sie ist nach Theresienstadt deportiert worden. Ich habe natürlich mitbekommen, dass meine Mutter tagelang geweint hat, aber sprechen konnte oder wollte sie darüber nicht. Hat sie sich vorgeworfen, dass wir in Deutschland geblieben waren? Vermutlich. Sie ist 1935 nach London gefahren, um meinen jüngeren Bruder zu gebären – so weit hat sie gedacht. Aber das Angebot einer wohlhabenden Bekannten, mit uns allen dort unterzukommen, schlug sie aus. Auch darüber wurde nie geredet.

Das Schweigen blieb auch nach dem Krieg. Die Existenz meiner Eltern war zerstört, und sie waren durch die ständige Umzieherei so ausgelaugt, dass sie ohnehin kaum noch sprachen. Dass mein eigenes Bedürfnis, mein Erlebtes auszudrücken und aufzuschreiben, erst im Rentenalter stärker wurde, hatte andere Gründe: Ich musste ja Geld verdienen. Als Büroleiterin einer Bekleidungsfabrik in St. Gallen war ich für die gesamte Korrespondenz und das Personalwesen verantwortlich – ich weiss gar nicht, wie ich daneben noch meine Kinder grossgezogen habe.

Dass ich meine Erinnerungen auf Deutsch aufschreiben würde, war für mich klar. Wie denn auch sonst? Deutsch war mein liebstes Schulfach, es ist meine Sprache, warum sollte ich mir das nehmen lassen? Das Jüdische ist ja nur ein Teil meiner Identität – und das Gerede von der «Sprache der Täter» ist ohnehin Quatsch: Die Nazis konnten doch gar kein Deutsch! Haben Sie einmal in Hitlers «Mein Kampf» hineingelesen? Furchtbar! Der ist doch vor Neid erblasst, weil er einem Joseph Roth, einem Stefan Zweig, einer Nelly Sachs niemals das Wasser reichen konnte! Hätte man ihn bloss Maler werden lassen, dann wäre Europa vielleicht einiges erspart geblieben.

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