Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Am Bahnhof von Przemyśl
Gerhard Pfister. Bild: Alessandro della Valle/Keystone.

Am Bahnhof von Przemyśl

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ruft schmerzlich in Erinnerung, dass souveräne Demokratien in der Weltgeschichte die Ausnahme sind. Eine regelbasierte Konfliktordnung durchzusetzen, wird zur grossen Herausforderung für den Westen.

 

Im äussersten Südosten Polens liegt das Städtchen Przemyśl (ausgesprochen: Psche-mischle). Das polnisch-ukrainische Grenzgebiet hiess früher Galizien. Die Karpaten sind nicht weit, die Grenze zur Ukraine verläuft 14 Kilometer entfernt. Joseph Roths grossartiger Roman «Radetzkymarsch» über den Untergang der k.u.k. Monarchie im Ersten Weltkrieg spielt in einer fiktiven Stadt in dieser Gegend. «Wer immer von Fremden in diese Gegend geriet, musste allmählich verlorengehen. Keiner war so kräftig wie der Sumpf. Niemand konnte der Grenze standhalten. Um jene Zeit begannen die hohen Herren in Wien und Petersburg bereits, den grossen Krieg vorzubereiten. Die Menschen an der Grenze fühlten ihn früher kommen als die andern; nicht nur, weil sie gewohnt waren, kommende Dinge zu erahnen, sondern auch, weil sie jeden Tag die Vorzeichen des Untergangs sehen konnten.»

Der Bahnhof dieses Städtchens «war der letzte aller Bahnhöfe der Monarchie». Die Soldaten und Offiziere, die in diese Garnison versetzt wurden, «glitten in die Verderbnis dieses Landes, über das bereits der grosse Atem des grossen feindlichen Zarenreiches strich». Der Bahnhof dieses Städtchens hat seine ursprüngliche Architektur Ende des 19. Jahrhunderts erhalten: historistische Zitate des Klassischen. Ornamente, Bilder, Spiegel im prächtigen Bahnhofbuffet. Dieser Bau könnte Joseph Roth Modell gestanden sein als der Bahnhof, wo der besorgte Vater und Bezirkshauptmann von Trotta seinen in Spielsucht und Alkoholismus abdriftenden Sohn Carl Joseph zuerst einmal zu einem Cognac einlädt, nachdem er eingetroffen ist, und wo sie sich beide fragen, ob die Spiegel in diesem Buffet so schlecht seien oder ob sie wirklich so schlecht aussähen oder so grau geworden seien.

Ukrainische Flüchtlinge warten am Bahnhof im ostpolnischen Przemyśl im April 2022. Bild: Christophe Archambault/AFP/Keystone.

Verteilungsmasse der Grossmächte

Galizien wurde bei der Teilung Polens im 18. Jahrhundert durch Russland, Preussen und das Habsburgerreich letzterem zugeteilt. Im Ersten Weltkrieg befand sich in Przemyśl die zweitgrösste Militärfestung nach Verdun. Die Russen eroberten sie, die Deutschen eroberten sie zurück. Im Zweiten Weltkrieg durchzog die Molotow-Linie das Städtchen, nachdem das Dritte Reich und die Sowjetunion Polen erneut aufgeteilt hatten und Stalin diesen neuen Grenzwall hatte aufbauen lassen.

Wer heute nach Przemyśl reist, fliegt meistens von Warschau nach Rzeszow. Der Landeanflug führt über Pa­triot-Flugabwehrraketenstellungen. Transportflugzeuge werden entladen. Panzer, Militärfahrzeuge, Waffen werden verladen auf Lastwagen, die in endlosen Konvois zur nahen ukrainischen Grenze fahren. Im Bahnhof von Przemyśl kommen Züge mit Flüchtlingen aus der Ukraine an. Für besonders Schutzbedürftige wurde der Wartesaal mit Betten gefüllt, wo sie sich zurückziehen können. Der Bahnhof ist aber seit Kriegsausbruch auch Umsteigeplatz in die andere Richtung. Die meisten Staats- und Regierungschefs, die die ukrainische Regierung in Kiew besuchen, steigen zwei Gleise weiter entfernt in die Nachtzüge in die ukrainische Hauptstadt um, nachdem sie in Rzeszow gelandet sind. Westliche Regierende auf dem Weg nach Kiew, Flüchtlinge auf dem Weg nach Westen, sie begegnen sich gegenwärtig im kleinen Bahnhof von Przemyśl häufig.

Es ist wieder Krieg in Europa. Und wieder ist Galizien eine der Gegenden, in denen der Krieg stattfindet, und eine der Regionen, die die Auswirkungen des Krieges bewältigen müssen. Während die Schweiz im kommenden Jahr das 175-Jahr-Jubiläum ihrer Bundesverfassung feiert und sich auch daran erinnert, dass seit 1848 in diesem Land kein Soldat mehr in einem Krieg gefallen ist. Die Schweiz ist damit wohl das einzige Land in der Weltgeschichte, das über eine so lange Zeit Souveränität, territoriale Unversehrtheit und die Abwesenheit von Krieg erlebt hat. Die Wahrscheinlichkeit spricht nicht dafür, dass diese einzigartige Ausnahmezeit nochmals 175 Jahre dauern kann. Auch nicht in Europa, das von 1945 bis 2022 die längste Friedenszeit in seiner Geschichte erlebte (den Bürgerkrieg in Jugo­slawien ausgenommen).

Der blinde Fleck des Westens

Wer sich Gedanken darüber macht, welche Folgen der Krieg in der Ukraine hat, was er für Europa, für die Souveränität von Staaten, für die Grossmächte der Welt bedeuten könnte, kann das meines Erachtens nicht aus einer Schweizer Perspektive tun. Galizien steht für fast jede mittel- oder osteuropäische Region, die die historische Erfahrung machen musste, dass sie immer schon Verteilungsmasse der kriegführenden Grossmächte war. Mittel- und Osteuropa ist seit dem Dreissigjährigen Krieg das Territorium, auf dem die Grossmächte ihre Konflikte austrugen. Insofern ist der «grosse Atem des grossen feindlichen Zarenreichs» nicht wesentlich gefährlicher gewesen als der Atem Stalins, Hitlers, Napoleons, Friedrichs des Grossen, Maria Theresias oder Gustav Adolfs II. Oder der Atem des Zaren von heute.

Wer beim Ukrainekrieg von einer «Zeitenwende» spricht, muss mindestens anerkennen, dass aus Sicht der Völker, die näher am Kriegsgeschehen leben als die Schweiz, das anders gesehen wird, nämlich als Fortsetzung der jahrhundertelangen Geopolitik Russlands und nicht als etwas völlig Überraschendes. «Wer einmal die Tatze des russischen Bären gespürt hat, weiss, was er von ihm zu halten hat», sagte mir vor Jahren eine litauische Abgeordnete im Europarat.

 

«Wer beim Ukrainekrieg von einer ‹Zeitenwende› spricht, muss
mindestens anerkennen, dass aus Sicht der Völker, die näher
am Kriegs­geschehen leben als die Schweiz, das  anders
gesehen wird, nämlich als Fortsetzung der jahrhunderte­langen
Geopolitik Russlands.»

 

Wer von einer Zeitenwende spricht, die Putin herbeigeführt habe, setzt implizit voraus, dass 1989 auch eine solche war. Das Ende des Kalten Kriegs mit dem siegreichen Westen war nicht nur für Fukuyama auch das Ende der Geschichte, mit der Hoffnung, die westlichen Werte, das westliche Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell setzten sich weltweit durch, so dass ein Zeitalter von Demokratie, Wohlstand und Frieden eine neue Weltordnung bringen würde. 9/11 war der erste Schlag ins Gesicht der westlichen Geschichtsoptimisten. Was der Westen nicht sehen wollte: Die Globalisierung stellt keine herrschaftsfreie wirtschaftliche Befreiung für die Länder dar, die nun als günstigste Produktionsstätten westlicher Unter­nehmen einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten. (Grenz) freies globales Wirtschaften bringt nicht per se auch die Werte mit sich, die die Marktwirtschaft erst ermöglichen: Rechtssicherheit, Recht auf Eigentum, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, soziale Sicherheit. Das naiv-liberale Dogma von «Wandel durch Handel» ist nicht nur in China nie eine ernsthafte Perspektive gewesen für die dortigen Herrscher, sondern auch in vielen anderen Staaten, wie dem durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gedemütigten Russland.

 

«Dass gerade Bundeskanzlerin Merkel,
die ja selbst die DDR erlebte, zu einer so
falschen Einschätzung Russlands kam,
ist für mich schwer zu verstehen.»

 

Der Kalte Krieg kehrt zurück

Unabhängig davon, ob der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende darstellt oder vielmehr die Wiederkehr des weltgeschichtlich Gleichen, möchte ich kurz vier mögliche Reflexionsfelder skizzieren.

 

  1. Der Kalte Krieg war vielleicht gar nicht vorbei, sondern nur unterbrochen und kommt jetzt wieder auf den Westen zu. Die transatlantische Partnerschaft, vernachlässigt von Europa und geschwächt durch ein nachlassendes Interesse der USA, wird wieder stärker werden müssen. Die Administration Biden hat den unkoordinierten Rückzug aus Afghanistan zu verantworten, ebenso wie jetzt die entschiedene Haltung im Ukrainekrieg. Wie nachhaltig diese Kehrtwende ist, bleibt offen. Fragen der Sicherheit und der militärischen Verteidigungskapazitäten der westlichen Länder werden wieder priorisiert. Sicherheit ist die Voraussetzung für Freiheit. Gerade für die Souveränität eines Landes. Die Friedensdividende Europas seit dem Mauerfall ist aufgebraucht.
  2. Polen erfährt eine Neubewertung innerhalb Europas und könnte Deutschland ablösen als das zuverlässigste transatlantisch orientierte kontinentaleuropäische Land. Polen sah Russland immer schon realistischer als andere europäische Staaten und fühlt sich jetzt bestätigt, während Deutschland sich in fatale Abhängigkeiten zu Russland einliess und Frankreichs Präsident Macron die Nato voreilig für hirntot erklärte. Polen hingegen, wie andere ehemalige Staaten des Ostblocks, spürte selber die Folgen der Breschnew-Doktrin der «begrenzten Souveränität», die sowjetische Interventionen in der DDR, Ungarn, Tschechoslowakei scheinlegitimierte. Putin steht in dieser Breschnew-Tradition, wenn er der Ukraine die Legitimation abspricht, ein souveräner Staat zu sein. Es gehört zu den folgenreichsten Missverständnissen der Osterweiterung der EU, dass die ehemaligen Ostblockstaaten von der EU-Mitgliedschaft auch Schutz und Verteidigung ihrer Interessen gegenüber Russland erwarteten, die EU selbst aber diese neuen Mitglieder eher als praktische günstige Produktionsstätten und Arbeitskräftepool betrachtete. Insbesondere Deutschland priorisierte nationale Interessen in seiner Russland-Politik klar. Das Sicherheitsbedürfnis der neuen EU-Mitglieder überliess die EU ihnen selbst beziehungsweise der Nato und den USA. Nord Stream 2 weckte in Polen historische Erinnerungen an den Freundschaftsvertrag zwischen Hitler und Stalin, eine Einigung der Grossmächte über die Köpfe der Polen hinweg. Dass gerade Bundeskanzlerin Merkel, die ja selbst die DDR erlebte, zu einer so falschen Einschätzung Russlands kam, ist für mich schwer zu verstehen.
  3. Die Souveränität von Demokratien muss sich stärker gegen die Ansprüche von Grossmächten verteidigen können. Das ist meines Erachtens die grösste Herausforderung, die auf den Westen und auf Staaten, die Demokratien westlicher Prägung verkörpern, zukommen könnte. Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Souveränität immer wieder gesichert werden muss durch Entscheide des Souveräns. Demokratien kennen zu Recht die zeitlich eng limitierte Delegation der Macht an Politiker und Parteien. Das macht sie empfänglich für Gegenwartsanliegen der Bevölkerung, Stimmungen, Trends oder Missstände. Demgegenüber stehen die beinahe unbegrenzten Möglichkeiten einer Gewaltherrschaft, die sich nicht um das Volk kümmern muss. Sicherheitspolitik, Stärkung der Verteidigungsbereitschaft sind wesentlich Langfristprojekte. Dass die deutsche Regierung Rüstungsausgaben von 100 Milliarden Euro beschlossen hat, ist das eine. Bis diese Beträge aber sinnvoll in Sicherheit angelegt sind, sind vermutlich andere Regierungen im Amt oder kann die Bevölkerung solche Investitionen auch wieder als nicht nötig beurteilen.
  4. «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Man muss nicht Carl Schmitts Überzeugungen teilen, um der realpolitischen Seite seiner Aussage heute eine gewisse Gültigkeit anzuerkennen. Denn seine dezisionistische Haltung zur Souveränität ist die der Grossmächte. Der Gegensatz dazu wäre die regelbasierte Austragung von Konflikten zwischen Nationen in einem globalen «Föderalismus freier Nationen», wie ihn Kant skizzierte. Gerade weil Putin eine solche regelbasierte Konfliktaustragung umgehen muss, beruft er sich nicht auf das den Nationen zur Verfügung stehende Kriegsrecht, sondern nennt den Überfallskrieg eine «Spezialoperation». Indem die Grossmächte den Ausnahmezustand verfügen gegenüber anderen Staaten, indem sie sie angreifen, ihre territoriale Integrität verletzen, ihnen das Selbstbestimmungsrecht über die Mitgliedschaft in staatlichen Bündnissen absprechen oder Verträge brechen, zwingen sie diese Demokratien, ihre Souveränität stärker gemeinsam zu verteidigen. Die Renaissance der Nato erklärt sich auch dadurch. Die souveränen Demokratien müssen wieder ein gemeinsames Sicherheits- und Verteidigungsverständnis entwickeln, wie es im Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion bestand.

Gemeinsame Strategie

Souveräne Demokratien, deren Souveränität auch von Grossmächten anerkannt und respektiert wurde, sind die Ausnahme in der Weltgeschichte. Die Kriege Russlands in Georgien, auf der Krim, in der Ukraine sind die Regel. Wenn es dem Westen und seinen wenigen Verbündeten nicht gelingt, eine gemeinsame Wertehaltung und gemeinsame Verteidigungsstrategie zu finden und diese gegenüber aggressiven Grossmächten auch durchzusetzen, werden die Ausnahmen nur weniger. Wenn der Westen es nicht schafft, eine regelbasierte Konfliktordnung global durchzusetzen – und sie selbst auch einzuhalten! –, dann wird die Regel weiterhin und vermehrt das sein, was Galizien nie anders kannte.

Die Herausforderungen für den Westen durch die Grossmacht China habe ich nicht erwähnt. Nicht, weil sie weniger wichtig wären. Im Gegenteil. Der Westen hat sich gegenüber China in der Globalisierung in viel grössere Abhängigkeiten begeben als gegenüber Russland. Der drohende Wohlstandsverlust, den eine konsequentere Haltung des Westens gegenüber China mit sich bringen kann, wird zur noch grösseren Herausforderung für westliche Demokratien und ihre Souveränität. Bis jetzt hat die konsequente Haltung des Westens gegenüber Russland verhindert, dass die Ukraine gefallen ist. Für den Schutz der Souveränität westlich geprägter Demokratien in Asien, wie Taiwan oder Südkorea, ist das eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung. Denn deren Herausforderungen sind noch grösser als die der Ukraine. Sie spüren nicht den Atem des Zaren, sondern den des Kaisers von China.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!