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Tauziehen um die ­Neutralität

Die Neutralitätsfrage ist am Scheideweg angelangt – und könnte mittels einer Volksinitiative demnächst zur Abstimmung gelangen.
Das grosse Streitgespräch zwischen Pro-Schweiz-­Präsident Stephan Rietiker und SP-Nationalrat Fabian Molina.

Tauziehen um die ­Neutralität
Fabian Molina und Stephan Rietiker, fotografiert von Daniel Jung.

Es ist nicht so, dass sich die beiden Kontrahenten im Mitte November 2022 in Zürich geführten Streitgespräch in nichts einig sind. So bejahen sie beide, ein Nato-Beitritt sei ausgeschlossen für die Schweiz, und auch eine Lieferung von Kriegsmaterial an eine Kriegspartei komme nicht in Frage. Einig sind die beiden auch in ihrer Ablehnung von gemeinsamen Übungen mit der Nato.

 

Sollen Schweizer Soldaten an Übungen mit der Nato teilnehmen?

Fabian Molina: Ich lehne gemeinsame Übungen ab, bei denen der Bündnisfall nach Artikel 5 geübt wird. Wird ein Nato-Land angegriffen und die Schweiz leistet Unterstützung, bedeutet das, dass sie die Bündnisfreiheit aufgibt. Wir würden Teil eines bewaffneten Konflikts.

Stephan Rietiker: Gewisse Ausbildungssequenzen, die klar und stringent als solche deklariert werden, kann man ­machen. Ich bin aber grundsätzlich gegen gemeinsame Übungen mit der Nato, und ganz sicher gegen Volltruppenübungen.

 

Soll die Schweiz eigenständig Sanktionen verhängen können?

Molina: Unbedingt! Es ist ein Problem, dass sich die Schweiz als einer der grössten Finanz- und Wirtschaftsplätze der Welt nicht an der Einhaltung oder an der Aufrechterhaltung der regelbasierten Weltordnung beteiligen kann.

Rietiker: Nein, die Schweiz soll nicht eigenständig Sanktionen verhängen können. Sie muss lediglich ihren Verpflichtungen im Rahmen der UNO nachkommen. Und sie muss verhindern, dass Sanktionen, an denen sie sich nicht beteiligt, umgangen werden können.

Molina: 2014, nach der Annexion der Krim, haben wir das ja so gemacht und sogenannte Umgehungssanktionen beschlossen. In Tat und Wahrheit war die Schweiz aber eine der grössten Kriegsprofiteurinnen. Der Zufluss russischer Vermögenswerte ist ab 2014 geradezu explodiert.

 

Nun hat die Schweiz mehrere Pakete von EU-Sanktionen gegen Russland übernommen – und schreibt im Neutralitäts­bericht, sie prüfe alle einzeln. War die Sanktionsübernahme im Frühjahr 2022 eine gute Entscheidung?

Molina: Die Schweiz hat sich im Grundsatz mit der Übernahme richtig verhalten. Denn einerseits ist es ein moralischer Imperativ, dass man sich nicht einfach gegenseitig überfallen kann in der Staatengemeinschaft. Und andererseits ist es im Interesse der Schweiz, dass keine Anarchie herrscht auf dem Planeten. Für Demokratie, Frieden und für eine Linderung von Not zu sorgen, ist auch ein Bundesverfassungsauftrag nach Artikel 54.

Rietiker: Die Schweiz hat sich nicht korrekt verhalten. Sie hätte bei diesen Sanktionen, die ja nicht von der UNO, sondern von der EU verhängt wurden, nicht mitmachen dürfen. Die Neutralität hat zwei Zwecke: Einerseits muss der Bundesrat den Frieden und die Prosperität erhalten, und andererseits können wir über die Neutralität ein Zeichen setzen und als Vermittler auftreten, um den Bewohnern von Ländern, in denen Krieg herrscht, Frieden und humanitäre Unterstützung zu bringen. Das können wir nun nicht mehr, weil wir nicht mehr als neutral angesehen werden.

 

Oft war die Rede von einem immensen Druck seitens der EU und der USA zur Übernahme der Sanktionen. Wie zeigte sich der?

Rietiker: Ich bin ja oft in den USA unterwegs, und ich habe überhaupt keinen Druck seitens der USA festgestellt. Gerade in Wirtschaftskreisen hat man sich mir gegenüber sehr erstaunt geäussert, dass wir die Neutralität so leichtfertig aufgegeben haben. Was es gab, war Druck aus der EU, doch den gibt es immer wieder. Wir müssen da nicht alles mitmachen, denn wir sind eigenständig und keine Befehlsempfänger. Wir verhandeln mit der EU auf Augenhöhe.

Molina: Natürlich gab es Druck, zum Teil sogar massiven Druck. Doch wenn man es zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder mit einem Angriffskrieg in Europa zu tun hat, sollte man nicht nur auf der Seite der Angegriffenen stehen, sondern auf der Seite des internationalen Rechts. Man hat das eingeführt, um das friedliche Zusammenleben der Nationen auf lange Frist zu garantieren. Hält man dieses Prinzip nicht mehr hoch, kann jedes Land ungestraft angegriffen werden. Die Schweiz als doch eher kleines Land hat daran sicher kein Interesse. Auch Schweizer Unternehmen sind auf Rechtssicherheit und auf Stabilität angewiesen.

 

In der Rede anlässlich der Gründungsversammlung von Pro Schweiz haben Sie, Herr Rietiker, die EU militärisch als «mehr oder weniger am Boden und völlig von der Nato abhängig und damit von den USA» bezeichnet. Warum?

Rietiker: Die deutsche Armee beispielsweise zeigt klare Zer­setzungszeichen. Sie ist schwach in Führung und Ausbildung, und sie hat Materialprobleme. In der EU gibt es daneben vor allem noch Frankreich, das auch mit Atomwaffen ausgerüstet ist. Davon abgesehen verfügt die EU über keine nennenswerte Armee. Bemühungen zum Aufbau von Kapazitäten sind zwar im Gang, aber es ist klar: Die USA haben die Nato im Griff.

Molina: Herr Rietiker hat natürlich recht, dass es für Europa ein unwürdiger Zustand ist, derart abhängig von den USA zu sein. Es ist schwierig, europäische Interessen durchzusetzen, wenn man von einer – leider im Moment sehr instabilen – Demokratie wie den USA abhängig ist. Wir wissen spätestens seit Donald Trump, dass die USA kein verlässlicher Partner mehr sind, und sie haben in der Vergangenheit auch gezeigt, dass sie einen eher instrumentellen Zugang zum Völkerrecht haben. Ich hoffe, dass sich Europa auch sicherheitspolitisch zu einem stärkeren Akteur entwickelt.

«Es ist schwierig, europäische Interessen durchzusetzen, wenn man von einer – leider im Moment sehr instabilen – Demokratie

wie den USA ­abhängig ist.»

Fabian Molina

 

Besteht die sozialdemokratische Sicherheitspolitik nicht mehr oder weniger darin, sie komplett in die Hände der EU zu legen, mit oder ohne EU-Beitritt?

Molina: Die Schweiz sollte sich stärker an Österreich orientieren, einem verlässlichen und stabilen Land innerhalb der europäischen Familie; es ist neutral, Mitglied der EU, aber nicht der Nato: So ähnlich sollte es auch die Schweiz machen. Die beste Sicherheitspolitik ist es, die europäischen Staaten zu einen: wirtschaftlich, politisch, durch ­gemeinsame Institutionen. So können wir verhindern, dass es je wieder zu einem Krieg kommt auf europäischem Boden.

Stephan Rietiker, fotografiert von Daniel Jung.

«Die Schweiz hätte bei diesen Sanktionen, die ja nicht von der UNO,

sondern von der EU verhängt wurden, nicht mitmachen dürfen.»

Stephan Rietiker

 

Im 2022 publizierten SP-Strategiepapier zur Neutralität steht: «Die Schweiz erhöht ihre Sicherheit und jene des ­europäischen Kontinents, indem sie sich unmissverständlich zur Wertegemeinschaft der EU bekennt, deren sicherheits­politische Massnahmen sie vollumfänglich mitträgt.» Das klingt nicht so, als ob Sie ­wollen, dass die Schweiz irgend­etwas selbst entscheidet.

Molina: Wir entscheiden ja auch heute nichts selbst, denn wir sind eine Art blinder Passagier der Nato. Wir tragen nichts bei zur Nato, aber wir profitieren massiv von deren Schutzschirm. Der Wert der Neutralität gemäss Haager Abkommen von 1907 ist, dass die Schweiz eine besondere Rolle als Friedensmacht einnehmen kann. Als bündnisfreier Staat können wir im Gegensatz zu den Nato-Staaten in die Friedensförderung investieren, können als Vermittlerin auftreten und Türen öffnen. Das sollten wir viel stärker nutzen, als wir das in der Vergangenheit getan haben.

Rietiker: Da bin ich einig mit Ihnen, die Schweiz hat eine friedensfördernde Ausstrahlung. Würden wir dieses sehr positive und überzeugende Modell fördern und uns aus den kriegerischen Akten heraushalten, hätten wir ein wesentlich stärkeres Standing in der Welt. Herr Molina, Sie haben von europäischer Einigkeit gesprochen. Doch die EU kann sich nicht einmal zu einer gemeinsamen Energiepolitik durchringen.

Molina: Doch! Es gibt ein gemeinsames Sparziel, es gibt Solidaritätsmechanismen…

Rietiker: Frankreich will Kernkraftwerke bauen, Deutschland will zur Kohle zurück. Da gibt es überhaupt keine Einigkeit, sondern Missstimmungen. Das SP-Strategiepapier halte ich für eine Mogelpackung: Der SP geht es nicht primär um das Wohl der Schweiz, sondern um die grosse Umverteilung. Sie nimmt nicht zur Kenntnis, dass sich nun selbst die Jungen von der EU abwenden. Doch auch wenn kaum noch jemand in die EU will, geht die Zwängerei der SP immer weiter. Schafft man es nicht auf dem Abstimmungsweg, versucht man es mit einer Annäherung. Denn in der EU herrscht eine Beamtenmentalität, eine grosse Umverteilung ist im Gange, wirtschaftlich läuft es lausig, und was das Volk will, interessiert niemanden – es sind die Beamten in Brüssel, die entscheiden, was läuft. Und das sind paradiesische Verhältnisse für die SP! Darum drängen sie uns in die Nähe der EU. In diesem Strategiepapier geht es genau darum und nicht um aussenpolitische Massnahmen.

 

Herr Molina, Sie preisen die ­Neutralität der Schweiz, und tatsächlich wäre eine universell als neutral angesehene Schweiz die perfekte Plattform für einen Dialog. Vor den ­Sanktionen gab es ja auch Gespräche zwischen ­Biden und Putin in Genf. Jetzt sehen aber weder die USA noch Russland die Schweiz als neutral an.

Molina: Man darf da vielleicht auch nicht alles glauben, was die Propaganda erzählt. Die Schweiz hat nach wie vor ein Schutzmachtmandat für Russland in Georgien und umgekehrt, das funktioniert bestens. Hätte Russland ein riesiges Problem mit der Schweiz, wäre das doch schon längst gekündigt worden. Im Moment hat die Schweiz keine Rolle inne, weil es im Moment leider keine Rolle gibt. Wir sind mitten in einem heissen Krieg, in dem beide Seiten kein Interesse an Friedensgesprächen haben, und das sagen sie auch. Die Zeit von Friedensgesprächen wird aber wiederkommen und das hoffentlich bald. Und dann hat die Schweiz auch eine Rolle zu spielen.

Rietiker: Nicht beide Seiten wollen keine Friedensverhandlungen. Es sind vor allem die USA, welche die Verhandlungen torpedieren. Je rascher die Ukraine und Russland an einen Tisch kommen und verhandeln, desto schneller wird der Krieg beendet sein. Im Moment gibt es da aber keine diesbezüglichen Bestrebungen, das stimmt. Tatsache ist dennoch, dass die Schweiz Kriegspartei ist für Russland, der Kreml bezeichnet uns so. Was diesen Konflikt betrifft, werden wir kaum in eine Vermittlerrolle hineinwachsen. Es ist eine Chance, die wir vertan haben.

 

Im neuen Neutralitätsbericht der Schweiz steht: «Die Neutralität ist kompatibel mit der Übernahme von EU-Sanktionen.» Auch bisher hat die Schweiz schon mehrfach EU-Sanktionen übernommen. Wieso war das bisher kein Problem?

Rietiker: Es ist eine Tatsache, dass wir bisher nicht immer gradlinig waren. Genau deshalb ist die Zeit nun reif, die Frage zu definieren. Das Volk wird entscheiden können über die Volksinitiative zur «Wahrung der schweizerischen Neutralität».

 

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1938 ist die Schweiz mit Einwilligung der Staaten­gemeinschaft von der differen­tiellen Neutralität zur integralen Neutralität zurückgekehrt.
Nun verlangt diese Volksinitiative ­eigentlich genau das Gleiche.

Rietiker: Wir müssen aufhören, zu lavieren zwischen verschiedenen möglichen Auslegungen der Neutralität. Wir können uns nicht immer wieder anpassen und uns je nach Situation etwas auf die eine oder die andere Seite neigen. Ist die Sachlage gemäss Bundesverfassung klar definiert, dann halten wir uns daran, und die ewigen Diskussionen dazu sind vorbei. Neutralität, wie wir sie verstehen, ist integral, bewaffnet und immerwährend.

Molina: Was sich seit 1938 natürlich verändert hat, ist 1945 – eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Seit Inkrafttreten der UNO-Charta gilt der Krieg nicht mehr als legitimes politisches Mittel, sondern ist grundsätzlich verboten. Früher gab es ein Recht auf Krieg, das gibt es heute nicht mehr. Es gibt nur noch zwei Fälle, in denen der Krieg erlaubt ist: zur Selbstverteidigung oder wenn der UNO-Sicherheitsrat die Anwendung von Gewalt zur Einhaltung der internationalen Sicherheit legitimiert.

 

Herr Rietiker, wie relevant ist die UNO für Sie?

Rietiker: Wir halten die vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der UNO ein: Beschliesst die UNO Sanktionen, übernehmen wir diese. Wichtig ist, dass wir Klartext ­sprechen und ein verlässlicher Partner sind. Im Prinzip setzt sich Neutralität zusammen aus unserem Verhalten und wie dieses andere wahrnehmen. Je schwammiger wir uns verhalten, desto schwammiger werden wir auch wahrgenommen.

Molina: Die nun lancierte Volksinitiative will die Handlungsfähigkeit der Schweiz in der Aussenpolitik massiv einschränken. Sie ist ein Bruch mit der Tradition der Schweiz, denn sie will, dass sich die Schweiz zu gar nichts mehr äussern kann. Sie ist eigentlich eine Kastrationsinitiative, denn sie untersagt es uns, zu reagieren, je nachdem, wie sich die Situation international entwickelt.

Rietiker: Das glauben Sie ja selbst nicht. Die Bürger entscheiden, was in diesem Land läuft, niemand sonst. Und die Bürger wollen nicht, dass der Bundesrat Machtpolitik betreibt oder sich in «fremde Händel» einmischt – er soll lediglich dafür sorgen, dass wir in Frieden und Prosperität leben. Ebenfalls wollen die Bürger, dass wir unsere guten Dienste anbieten, wenn diese gefordert sind. Nicht nur unsere Vermittlerrolle hat eine lange Tradition, sondern auch das Internationale Rote Kreuz. Die Initiative wird den Bundesrat nicht kastrieren, sie gibt ihm lediglich eine Leitplanke. Weil er nämlich offensichtlich nicht weiss, was er machen muss.

Molina: Ich bin einig mit Ihnen, dass der Bundesrat nicht immer weiss, was er machen muss. Das IKRK mit seinem ehemaligen Präsidenten Peter Maurer hat den Bundesrat wiederholt dazu aufgerufen, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterschreiben. Der Bundesrat macht dies nicht, unter anderem aus neutralitätspolitischen Überlegungen. Ein fundamentaler Fehler! Nach Artikel 54 der Bundesverfassung ist es unser Auftrag, Menschenrechte, Demokratie und Frieden auf der Welt zu fördern, und das beinhaltet immer, sich in «fremde Händel» einzumischen. Das ist auch richtig so. Schliesslich sind Menschenrechte das zivilisatorische Fundament, auf dem wir als Staatengemeinschaft leben.

Fabian Molina, fotografiert von Daniel Jung.

«Die nun lancierte Volksinitiative ist eigentlich eine Kastrationsinitiative, denn sie untersagt es uns, zu reagieren, je nachdem,

wie sich die Situation international entwickelt.»

Fabian Molina

 

Viele glauben ja, sich neutral zu verhalten, sei per se amoralisch. Ist das so?

Rietiker: Amoralisch? Nein, im Gegenteil. Neutralität ist einer der höchsten moralischen Werte. Wenn alle Länder neutral wären und eine aktive, bewaffnete Neutralität vertreten würden, gäbe es keinen Krieg mehr in dieser Welt.

Molina: Man tut immer so, als wäre die Staatengemeinschaft irgendein hingeworfener Legohaufen, den man etwas schütteln kann. Aber es gibt Regeln, die durchgesetzt werden müssen. Es gibt den UNO-Sicherheitsrat, die OSZE, den Europarat. Die UNO-Charta erinnert an die kollektive Verantwortung aller Mitgliedsstaaten, diese regelbasierte Werteordnung hochzuhalten.

Rietiker: Die kollektive Verantwortung stelle ich nicht in
Abrede. Die Frage ist, wie sich ein Kleinstaat hier einbringen kann. Um Weltpolizist zu spielen, sind wir viel zu klein, das ist auch gar nicht glaubwürdig. Glaubwürdig sind wir, wenn wir es schaffen, Neutralitätspolitik auch in andere Länder
zu exportieren. Schaffen wir das, haben wir einen enormen Beitrag zum Weltfrieden geleistet und werden dafür auch anerkannt.

Molina: Ich bin ja immer wieder überrascht, wie es nationalistische Kreise schaffen, die Schweiz zu verzwergen. Sie stellen es so dar, als könne die Schweiz als Kleinstaat nichts ausrichten. Dabei ist sie eines der reichsten Länder der Welt, die zwanzigstgrösste Wirtschaftsmacht der Welt, mit einem sehr grossen Einfluss auf das Weltgeschehen.

 

«Wenn alle Länder ­neutral wären und eine aktive, bewaffnete Neutralität vertreten würden, gäbe es keinen Krieg mehr in dieser Welt.»

Stephan Rietiker

 

Herr Molina, was haben Sie in der Schule über Neutralität gelernt?

Molina: Nichts, ehrlich gesagt. Neutralität war kein Thema.

 

Und Sie, Herr Rietiker?

Rietiker: Wir hatten ein Jahr lang Schweizer Geschichte, das ganze fünfte Jahr im Gymnasium, das gehörte früher dazu.

 

Ich frage, weil Sie, Herr Rietiker, in Ihrer Rede zur Gründung von «Pro Schweiz» ausgerufen haben: «Wir haben eine bewaffnete und umfassende Neutralität. Ende der Durchsage. Daran gibt es nichts zu rütteln!» Für mich klang das etwas trotzig. Menschen unter vierzig Jahren scheint das gar nicht bekannt zu sein.

Rietiker: Wir müssen das also dem Nachwuchs wieder beibringen im Unterricht. Ein ganzes Jahr Schweizer Geschichte muss es ja nicht sein – es gibt auch vieles sonst, was wissenswert ist. Aber drei Monate im Lehrplan könnte man sicher einplanen. Wir lernten noch, wie man abstimmt, wie man kumuliert und panaschiert auf dem Wahlzettel.

Molina: Das lernten wir auch.

Rietiker: Wie sich das Schweizer Bildungswesen verändert, sehe ich bei meiner Tochter. Die ist jetzt im 5. Gymi und hat es an sich voll drauf – aber über die Geschichte der Schweiz weiss sie gar nichts.

 

«Mit unseren heutigen Mitteln wäre nach ein paar Wochen Schluss», sagte Armeechef Thomas Süssli auf die Frage, wie lange die Schweizer Armee allein auf sich gestellt einen Verteidigungskrieg führen könnte. Ist auch die Zeit der gloriosen Schweizer Milizarmee vorbei, Herr Rietiker?

Rietiker: Wenn unsere Durchhaltefähigkeit tatsächlich so schwach ist, müsste man die Armeeführung in corpore absetzen. Erstens macht man so eine Aussage nicht in der Öffentlichkeit und zweitens müssten wir sofort unsere Hausaufgaben machen, wenn es so wäre. Tatsache ist, dass die Armee keine richtige Strategie hat. Wichtig wäre es zum Beispiel, eine flächenabdeckende Flugabwehr zu haben, also den von Israel her bekannten Iron Dome umzusetzen.

 

Was haben Sie für eine Vorstellung von der Schweizer Armee, Herr Molina? Vielleicht bekommt die SP ja nun eine Bundes­rätin, die dieses Departement reformieren darf.

Molina (lacht): Ich glaube nicht, dass die Bürgerlichen uns das geben werden. Wir haben schon vor Jahren eine ausgebaute Boden-Luft-Abwehr gefordert; überteuerte Luxuskampfjets, die uns durch die Hintertür in die Nato führen, brauchen wir keine. Alles, was wir mittelfristig brauchen, ist eine kleine, auf das Defensive ausgerüstete Armee, die mit europäischen Nachbarländern kooperieren kann. Was ist, realistisch gesehen, das Szenario, in dem die Schweizer Armee eingesetzt werden muss? Im absolut unwahrscheinlichen Fall, wenn wir von einem Nachbarland angegriffen werden. Alles andere ist gar nicht möglich, denn ein Angreifer müsste ja durch den Nato-Gürtel hindurch. Passiert das, sind wir sowieso verloren.

 

Herr Molina, melden Sie sich bei der Milizarmee, wenn die Schweiz angegriffen wird?

Molina: Ich bin nicht an der Waffe ausgebildet.

Rietiker: Sie haben keinen Dienst geleistet?

Molina: Nein.

Rietiker (lacht): Dann sprechen Sie aber noch mutig mit in militärischen Strategiefragen.

Molina: Ich bin Bürger und als solcher habe ich eine Meinung zu solchen Dingen, als Citoyen. Ich habe mir die Frage allerdings durchaus ernsthaft gestellt im Zusammenhang mit der Ukraine. Wenn ein Land von einem Gegner angegriffen wird, der dessen Souveränität und Existenz auslöschen will – was macht das mit einem? Ich kann nicht sagen, ob ich den Mut und die Fähigkeit dazu hätte in einem solchen Moment, dem entgegenzutreten. Aber ich habe den grössten Respekt für all die ukrainischen Soldaten, die das im Moment machen.

 

Vielleicht wären Sie als Sanitäter einsetzbar?

Molina: Nun gut, ich habe zwei linke Hände. Aber es gäbe wahrscheinlich schon auch eine Funktion für mich.

Rietiker: Ein unwahrscheinliches Kriegsszenario ist, dass uns ein europäisches Land angreift. Immer noch hypothetisch, aber realistischer wäre ein Zerfallen des Nato-Gürtels, ein US-Präsident, der sich nicht mehr für Europa interessiert, ein Angriff von Russland oder China, ein Einknicken unserer Nachbarländer. Dann müssten wir uns verteidigen. Und dann ist es eben wichtig, dass das Kräfteverhältnis so bestellt ist, dass wir mindestens die wesentlichen Teile der Schweiz über längere Zeit halten könnten. Der Preis muss so hoch sein, dass sich ein potentieller Angreifer einen Einmarsch zweimal überlegt.

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Der Völkerbundsrat an seiner 100. Sitzung im Januar 1938, dem Schicksalsjahr für die Schweizer Neutralität. Bild: United Nations Archives Geneva.
Als die Schweiz zur integralen Neutralität zurückkehrte

1938 stimmte der Völkerbund dem Antrag der Schweiz zu, von der differentiellen zur integralen Neutralität überzugehen. Die «Schweizer Monatshefte» feierten diesen Schritt, wenn auch zurückhaltend. Ein Auszug aus dem 84jährigen Originaltext.

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