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Nichts ist unerträglicher als die Freiheit…

Fjodor Dostojewskij (1821 bis 1881) Von dem russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewskij stammt – aus seinem Roman «Die Gebrüder Karamasow» – eines der leidenschaftlichsten Plädoyers für die persönliche Freiheit. Iwan Karamasow erzählt seinem Bruder Aloscha von einer Dichtung, die sich um die Wiederkehr Jesu im 16. Jahrhundert in Sevilla dreht. Der Grossinquisitor lässt Jesus gefangennehmen und hält, ihm zugewandt, einen Monolog über das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und Bevormundung, aus dem wir hier zitieren.

«Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit einem Versprechen von Freiheit, das sie [die Menschen] in ihrer Einfältigkeit und angeborenen Schlechtigkeit nicht einmal begreifen können, das ihnen Furcht und Schrecken einflösst – denn nichts ist jemals für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit! Aber siehst Du die Steine hier in dieser nackten, glühenden Wüste? Verwandle sie in Brot, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde nachlaufen, dankbar und gehorsam, wenn auch in stetem Zittern, Du könntest Deine Hand abziehen, und es hätte dann mit Deinen Broten für sie ein Ende. Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit berauben und verschmähtest den Vorschlag; denn was ist das für eine Freiheit, so urteiltest Du, wenn der Gehorsam durch Brot erkauft wird? Du erwidertest, der Mensch lebe nicht vom Brot allein; aber weisst Du wohl, dass im Namen eben dieses irdischen Brotes der Erdgeist sich gegen Dich erheben und mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird und alle ihm nachfolgen werden mit dem Rufe: ‹Wer tut es diesem Tiere gleich? Es gab uns das Feuer vom Himmel!› Weisst Du wohl, dass nach Verlauf von Jahrhunderten die Menschheit durch den Mund ihrer Weisen und Gelehrten verkünden wird, es gebe gar kein Verbrechen und folglich auch keine Sünde, sondern es gebe nur Hungrige? Mache sie satt, und dann erst verlange von ihnen Tugend! Das werden sie auf das Panier schreiben, das sie gegen Dich erheben werden und durch das Dein Tempel gestürzt werden wird. An Stelle Deines Tempels wird ein neuer Bau aufgeführt werden; es wird sich von neuem ein furchtbarer babylonischer Turm erheben, und obgleich auch dieser ebensowenig wie der frühere zu Ende gebaut werden wird, so hättest Du doch diesen neuen Turmbau vermeiden und die Leiden der Menschen um tausend Jahre abkürzen können; denn zu uns, zu uns werden sie ja kommen, wenn sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turme abgequält haben werden! … Sie werden uns zuschreien: ‹Macht uns satt; denn diejenigen, die uns das Feuer vom Himmel versprachen, haben es uns nicht gegeben.› Und dann werden wir auch ihren Turm zu Ende bauen; denn zu Ende bauen wird ihn der, der sie satt macht; satt machen aber werden nur wir sie, in Deinem Namen. Oh, niemals, niemals werden sie ohne uns satt werden! Keine Wissenschaft wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben werden; aber es wird damit enden, dass sie uns ihre Freiheit zu Füssen legen und zu uns sagen: ‹Knechtet uns lieber, aber macht uns satt!› Sie werden schliesslich selbst begreifen, dass Freiheit und reichliches irdisches Brot für einen jeden zusammen undenkbar sind; denn niemals, niemals werden sie verstehen, untereinander zu teilen!»

zitiert aus: Fjodor Dostojewskij, «Der Grossinquisitor» (entspricht einem Kapitel aus dem Roman «Die Gebrüder Karamasow»). Stuttgart: Reclam-Verlag, 2002, S. 19 ff.

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