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Vierbeinige Philosophen
Ulf Heuner, zvg.

Vierbeinige Philosophen

Die geistigen Qualitäten von Hunden wirken zunächst überraschend, doch die Tiere genossen bereits in der griechischen Antike ein hohes Ansehen.

Ein Hund macht noch keinen Philosophen, und Philosophen sind nicht unbedingt kluge Hundehalter. Das beweist der amerikanische Philosoph Mark Rowlands, der in seinem Buch «Der Philosoph und der Wolf» über sein Leben mit dem Wolfshund Brenin berichtet, wobei er ständig betont, dass dieser mehr Wolf als Hund gewesen sei. Rowlands erweist sich als rücksichtsloser «Tut nix!»-Halter erster Güte. Weil sein Hund nicht allein zu Hause bleiben konnte, ohne die Einrichtung völlig zu zerlegen, begleitete er Rowlands überallhin mit, zum Beispiel auch zu Universitätsveranstaltungen, wo Brenin frei in den Räumen herumlief und gerne in den Taschen der Studenten nach Essbarem stöberte. Angeblich hat es von Studentenseite nie eine Beschwerde gegeben. Studenten mit Angst vor Hunden mieden wohl geschwind seine Veranstaltungen.

Auch ausserhalb der Arbeit haben Menschen Brenins Verhalten seinem Herrchen zufolge locker genommen: beispielsweise ein Rugby-Kumpel, mit dessen Hund sich Brenin mehrfach blutige Beisskämpfe geliefert hat, so dass man sich fragt, wieso die Hunde nicht gesichert worden sind. Bei der Hundeerziehung setzte Rowlands auf die Methoden des Tiertrainers William Koehler, der Mitte des 20. Jahrhunderts Tiere für Filmaufnahmen trainierte. Dies führte in Rowlandsʼ Arbeit mit Brenin unter anderem zum schmerzvollen Einsatz eines Würgehalsbandes und zur Massregelung mit einer sogenannten Wurfkette, was Rowlands damit entschuldigt, dass der Schmerz ja nur kurz, das Training aber wirkungsvoll sei.

Bei der Lektüre von Rowlandsʼ Buch schlägt man dauernd die Hände über dem Kopf zusammen. Gleichwohl beweist er, dass nicht nur Menschen allgemein, sondern auch Philosophieprofessoren im speziellen zugleich unfassbar dumm und sehr klug sein können. So kann man einigen seiner Gedanken bedenkenlos zustimmen: «Ich halte es für eine äusserst amüsante Ironie, dass manche Philosophen immer noch über die Frage nachsinnen, ob Tiere einen Verstand haben – ob sie denken, glauben, schlussfolgern oder auch nur fühlen können. Diese Leute sollten versuchen, eine Zeitlang nicht die Nase in ihre Bücher zu stecken, sondern einen Hund abzurichten.» Viele Hundehalter mögen sich fragen, wie man überhaupt darauf kommen könnte, Hunden ein Bewusstsein abzusprechen. Doch in der neuzeitlichen Philosophie, ausgehend von René Descartes, wurden Tiere und mit ihnen Hunde lange Zeit der res ­extensa, d.h. den gefühllosen Dingen, zugerechnet und leider deshalb oft wie leblose Steine behandelt. Kurt Tucholsky hat diese herzlose Sicht der Philosophie in seinem «Traktat über den Hund» persifliert, indem er Gottfried Wilhelm Leibniz das Diktum unterschob: «Der Hund ist ein von Flöhen bewohnter Organismus, der bellt.»

Platonische Hundephilosophie

Hunde hätten jedoch nicht die besten Freunde der Menschen werden können, wenn diese schon immer so über sie gedacht hätten wie Descartes und seine rationalistischen Nachfolger. In der Antike hatten die Philosophen vielmehr eine hohe Meinung von Hunden. So spricht Platon in seinem Dialog «Politeia» dem Hunde «eine herrliche Beschaffenheit seiner Natur» zu, die «wahrhaft philosophisch» sei, weil Hunde Freunde und Feinde daran unterschieden, dass sie die einen kennten und die anderen nicht kennten. Erstere begrüssten sie freundlich, letztere wollten sie beissen. Diese an Hunden erkannte kognitive und moralische Eigenschaft erklärt Platon beziehungsweise sein Alter Ego Sokrates dann zur handlungsleitenden Norm für Menschen: «Also wollen wir kühnlich auch für den Menschen festsetzen, wenn einer seiner Natur nach nur gegen Angehörige und Bekannte sanftmütig sein soll, müsse er auch philosophisch und lernbegierig sein?»

Vor 20 Jahren, als die vernunftkritischen Theorien der sogenannten postmodernen Denker hoch im Kurs standen, hätte man solch ein schematisches Freund-Feind-Denken, das von Platon sogar zum Ausdruck philosophischen Denkens erklärt wird, schlicht abgelehnt als typisches Beispiel eines Dualismus, den es zu überwinden gelte. Da sich seit einigen Jahren nicht nur ein striktes Freund-Feind-Denken wieder grosser Beliebtheit erfreut, sondern es auch wieder en vogue geworden ist, von Reflexion ungebrochen Vernunft für sich zu reklamieren – oft bei solchen, denen dies noch vor kurzem höchst verdächtig war –, scheint die platonische Hundephilosophie heute wieder anschlussfähig zu sein. Man kann von einer Renaissance des Platonismus sprechen; vielleicht wurden auch deshalb in der Pandemie so viele Hunde angeschafft. Hoffen wir, dass die neuen Hundehalter ihren Philosophen auf vier Beinen so viel Respekt zollen wie Platon und sie zugleich gut sichern, wenn Leute ins Blickfeld geraten, die Halter wie Hunde als Feinde identifizieren.

Die Überlegenheit der Hunde

Platon unterschätzte die kognitiven beziehungsweise die philosophischen Fähigkeiten der Hunde. Bereits ihr moralisches Verhalten auf einen simplen Bekannt-Fremd-Schematismus zu reduzieren, wird dem komplexen Sozialverhalten der Hunde untereinander wie auch in ihrer Beziehung zu den Menschen nicht gerecht. Solche Denkmuster wirken indes in aktuellen Hundeerziehungsmethoden nach, unter anderem in der Trainingsmethode der positiven Verstärkung, der zufolge man Hunde zum Beispiel von unerwünschtem Verhalten abbringen soll, indem man ihnen alternative Verhaltensweisen mit Hilfe von Belohnungen schmackhaft macht.

Vor meinem jetzigen Hund hatte ich einen Kooikerhondje-Rüden, den ich von klein auf mit Leckerchen auf den Rückruf «Hier» konditionierte. Im Alter von zwei Jahren lief er einmal plötzlich Rehen hinterher. In der Folge packte ihn das Jagdfieber, und er war bei Spaziergängen ständig auf der Suche nach Wild und Wildspuren. Wenn ich dann auch ohne konkreten Anlass «Hier!» rief, übte er sich in eigener paradoxer Intervention, indem er, statt zu mir zu laufen, sofort ein paar Meter auf das Feld lief und sich in freudiger Erregung umschaute: «Herrchen hat gerufen, da muss doch irgendwo etwas Interessantes sein, wo ich nicht hinsoll.» Auch überlegte er sich ständig Strategien, wie er mich hinter die Fichte führen konnte. So liess er sich auf einem Feldweg in einem bestimmten Bereich immer gern zurückfallen und tat so, als ob er gerade intensiv etwas am Wegesrand beschnüffeln würde. Ein paar ­Meter weiter war allerdings ein Loch im Zaun, und hinter dem Zaun gab es seiner Meinung nach etwas zu jagen. Er wusste, dass ich wusste, dass er wusste, dass bald dieses Loch kommt, durch das er unerlaubterweise schlüpfen wollte, und hat sich deshalb eine Strategie überlegt, um mich zu täuschen.

Das sind meines Erachtens erstaunliche kognitive Leistungen, die mit Konditionierung, Instinkten und Reflexen allein nicht erklärbar sind. Hirnforscher, die die Möglichkeit der Willensfreiheit in Abrede stellen, haben noch keinen Kooiker­hondje kennengelernt. Auch ist dem bekanntesten Philosophen mit Hund, dem Pudelliebhaber Arthur Schopenhauer, vehement zu widersprechen, wenn er in «Die Welt als Wille und Vorstellung» behauptet: «Eines eigentlichen Vorsatzes nämlich ist kein Tier fähig: Ihn zu fassen und zu befolgen ist das Vorrecht des Menschen, und ein höchst folgenreiches.» Wenigstens heben sich ihm zufolge Hunde von anderen Tieren dadurch ab, dass «ein Instinkt […] eine Sehnsucht, wie die des Hundes nach seinem abwesenden Herrn, den Schein des Vorsatzes hervorbringen [kann]». Meine eigenen Erfahrungen als Hundehalter legen jedoch den Verdacht nahe, dass dieser Schein des Vorsatzes selbst bereits Vorsatz ist und Hunde uns längst nur noch vorgaukeln, was Schopenhauer ihnen unterstellt, nämlich Verstand, aber keine Vernunft zu haben. «Die Überlegenheit der Hunde anzuerkennen, fällt menschlichem Selbstbewusstsein selten freiwillig zu», stellt der Philosoph Rainer Otte lakonisch im Buch «Die sokratische Hundeschule» fest. Die Anerkennung erfolgt spätestens dann, wenn man unfreiwillig durch ein Loch im Zaun kriecht, weil man Opfer eines Betrugs geworden ist.

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