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Mit den neuen EU-Verträgen steigt die Schweiz auf die Stufe von Entwicklungs- und Schwellenländern ab

Die Idee eines Rahmenabkommens war ursprünglich eine Schweizer Erfindung. Das Streitbeilegungsmodell hingegen ist von EU-Abkommen mit ehemaligen Sowjetrepubliken inspiriert. Die Chronik eines Kniefalls.

Mit den neuen EU-Verträgen steigt die Schweiz auf die Stufe von Entwicklungs- und Schwellenländern ab
Hat das letzte Wort: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Hier im Bild der grosse Konferenzsaal. Bild: Keystone/imageBROKER/Hans-Werner Rodrian.

Nach dem EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 gelang es der Schweiz, zwei Pakete von institutionenfreien (Ausnahme: Luftverkehrsabkommen) bilateralen sektoriellen Abkommen mit der EU abzuschliessen. Sie sicherte ihrer Industrie damit den präferenziellen Zugang zum Binnenmarkt, musste aber im Gegenzeug die Personenfreizügigkeit übernehmen.

Von der Wünschbarkeit eines «Rahmenabkommens» mit der EU war in der Schweizer Politik ab 2005 die Rede. Dem Urheber, dem damaligen CVP-Ständerat Philipp Staehelin, ist allerdings zugutezuhalten, dass er sich wohl nicht vorstellen konnte, was das EDA aus seinem Vorstoss machen würde. Die Union nahm den Ball 2008 auf und forderte die Einrichtung eines supranationalen Überwachungs- und Gerichtsmechanismus.

In der Folge machte die EU einen grosszügigen Vorschlag: Die Schweiz sollte an die Institutionen des EFTA-Pfeilers im EWR «andocken». Das hätte bedeutet, dass die Schweiz bei Beibehaltung des sektoriellen Ansatzes ihre Verträge mit der EU der Überwachung durch die EFTA-Überwachungsbehörde und der Gerichtsbarkeit des EFTA-Gerichtshofs unterstellt hätte, mit je einem Vertreter in beiden Institutionen.

Diesen Vorschlag lehnte der Bundesrat im Jahr 2013 auf Betreiben von Aussenminister Didier Burkhalter und Staatssekretär Yves Rossier ab. Das EDA hatte eine Kampagne von unwahren Behauptungen über den EuGH einerseits und den EFTA-Gerichtshof andererseits geführt. Die gravierendsten falschen Aussagen waren, dass Urteile des EFTA-Gerichtshofs für die EU nicht verbindlich seien und dass der EuGH lediglich «Gutachten» zuhanden des Gemischten Ausschusses erstatten würde.

EU-Beitritt durch die Hintertür

Es ist klar, dass das EDA damit einen «Point of No Return» auf dem Weg zum EU-Beitritt setzen wollte. Denn offen konnte dieses Ziel seit einer 2001 gescheiterten Volksinitiative nicht mehr angestrebt werden. Verhandlungen über die Unterstellung unter Kommission und EuGH begannen 2014. Der institutionelle Kern sollte aus drei Elementen bestehen: erstens der Pflicht der Schweiz zur dynamischen Rechtsübernahme, zweitens dem Recht der Europäischen Kommission, die Schweiz im Falle eines Konflikts einseitig, d.h. ohne ihre Zustimmung, vor den EuGH zu ziehen, und drittens einem Auslegungsmonopol des EuGH für das bilaterale Recht.

Unter das institutionelle Dach sollten die fünf bestehenden sektoriellen Verträge betreffend Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, Landwirtschaft und gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen plus ein neues Abkommen betreffend Strom fallen.

«Es ist klar, dass das EDA damit einen ‹Point of No Return› auf dem Weg zum EU-Beitritt setzen wollte.»

Das «Schiedsgericht» ist nur Camouflage

Ab 2015 gelangten einflussreiche Parlamentarier und schliesslich auch der Bundesrat zur Überzeugung, dass der Ansatz mit dem EuGH in einer Volksabstimmung keine Chance hätte. Die Europäische Kommission schlug in der Folge das Streitbeilegungsmodell vor, das die EU für die vier beitrittswilligen postsowjetischen Entwicklungs- und Schwellenstaaten Armenien, Georgien, Moldawien und Ukraine entwickelt hatte und das auch für die Staaten Nordafrikas vorgesehen war. Danach sollten Konflikte formell von einem paritätisch besetzten Schiedsgericht entschieden werden, das allerdings den EuGH immer dann um ein verbindliches Auslegungsurteil zu ersuchen hatte, wenn es um EU-Recht ging (oder um inhaltsgleiches Abkommensrecht).

Es war vollkommen klar, dass dieser Mechanismus ein Trick war, um den Souveränitätstransfer hin zur EU zu kaschieren. Mit einem Schiedsgericht im Sinne des Wortes hatte das nichts zu tun. Im Fall der Schweiz bestand freilich eine Besonderheit: Der Begriff «Schiedsgericht» hat im Lande Wilhelm Tells aus historischen Gründen einen besonders guten Klang. Bei den wechselnden Allianzen der Orte in der Alten Eidgenossenschaft wurde jeweils ein nicht beteiligter Ort als Schiedsgericht eingesetzt. Hinzu kommt der heutige Ruf des Landes als führender Platz für Handelsschiedsgerichtsbarkeit.

Im März 2018 wurde das Verhandlungsmandat entsprechend angepasst. Auf eine Forderung der damaligen Ständerätin Karin Keller-Sutter, das Andocken an den EFTA-Gerichtshof zu prüfen, ging der Bundesrat nicht ein. Dasselbe Modell der Überwachung und Streitbeilegung bot die EU den Brexit-Briten an, die ihm den Namen «Ukraine Model» oder «Ukraine Mechanism» gaben. Sie lehnten es als «judiziellen Imperialismus» für das Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU ab und traten aus dem Binnenmarkt aus.

Ende 2018 erklärte die EU die Verhandlungen über das «Institutionelle Rahmenabkommen» (kurz «InstA») für beendet. Der Bundesrat behauptete, er habe die meisten Ziele erreicht, unterschrieb aber nicht, weil er den Vertrag wegen drei materiellrechtlichen Regelungen für gefährdet ansah: wegen des geschwächten Lohnschutzes beim Arbeiten über die Grenze, der Unionsbürgerschaftsrichtlinie und der Beihilfenkontrolle. Am «Ukraine-Modell» hatte der Bundesrat nichts auszusetzen. In der Folge wurde nur noch über die genannten Nebenfragen gefeilscht.

Dilettantisches Vorgehen

Am 26. Mai 2021 brach der Bundesrat die Verhandlungen ab, nahm aber gestützt auf ein angeblich neues Konzept bereits im Frühjahr 2022 wieder nicht öffentliche «Sondierungen» mit der EU auf. In der Vergangenheit war man von einem «horizontalen» Ansatz ausgegangen, mit dem Rahmenabkommen als institutionellem Dach über den einzelnen sektoriellen Verträgen. Nun wollte man zu einem «vertikalen» Modell wechseln. Die institutionellen Fragen sollten in jedem einzelnen Vertrag gesondert geregelt werden. Das sollte (angeblich) das Aushandeln von Ausnahmen von der Institutionalisierung ermöglichen. Zugleich wollte man neue Verträge in den Bereichen Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit abschliessen.

Am 15. Dezember 2023 präsentierten beide Seiten ein faktisch verbindliches «Common Understanding», das institutionell wiederum auf dem Prinzip der dynamischen Rechtsübernahme und dem «Ukraine-Mechanismus» fusste. Ein Verhandlungsmandat bestand nicht – es war bereits alles hinter verschlossenen Türen vereinbart worden.

Verhandelt wurde ab März 2024 wiederum nur über Nebenpunkte. Der Verhandlungsabschluss wurde im Voraus auf Ende 2024 festgesetzt – wohl um der abtretenden Bundespräsidentin Viola Amherd eine Freude zu bereiten. Geschäftsleute wissen natürlich, dass ein solches Vorgehen gelinde gesagt suboptimal ist.

Am 20. Dezember 2024 nahm der Bundesrat das materielle Ergebnis der Verhandlungen über die Nebenpunkte «mit Befriedigung» zur Kenntnis und stimmte ihm zu, obwohl er den damals bestehenden Text nicht gesehen hatte und obwohl die Verhandlungen formell nicht abgeschlossen waren. Alles, was vorlag, waren von der Bundesverwaltung verfasste Faktenblätter, die in entscheidenden Punkten nicht wenige unrichtige Behauptungen sowie semantische Manipulationen enthielten. In den Monaten danach wurden die Verträge zu Ende redigiert. Mir ist kein anderer Fall bekannt, in dem beim Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages so verfahren wurde.

«Ein Verhandlungsmandat bestand nicht – es war bereits alles hinter verschlossenen Türen vereinbart worden.»

Verschwiegene Herkunft

Es folgte der formelle Abschluss der Verhandlungen und die Charade um die Geheimhaltung der Verträge. Diese wurden zunächst einem Ständerat zugänglich gemacht, der seine Meinung zum EuGH geändert hatte, dann allen Parlamentariern.

Am 13. Juni 2025 wurde die Vernehmlassung mit der Publikation der Verträge und eines «erläuternden Berichts» eröffnet. Der Bericht verschweigt unter anderem die Herkunft des Streitbeilegungsmechanismus aus den Verträgen der EU mit den ehemaligen Sowjetrepubliken. Und er stellt die unhaltbaren beziehungsweise irreführenden Behauptungen auf, das Schiedsgericht entscheide selbstständig, ob es den EuGH anrufe, der EuGH könne keinen Einfluss auf das Verfahren nehmen und das Schiedsgericht sei allein zum Schlussentscheid berechtigt.

Mir ist kein unabhängiger ausländischer Spezialist bekannt, der die wahre Funktion des Schiedsgerichts nicht erkannt hat. Das hat sich in Charakterisierungen wie «Mittel zur Tarnung der Unterwerfung unter den EuGH» (Guillaume van der Loo),  «Trojanisches Pferd mit dem EuGH im Bauch» (Joë Lemmer), «Feigenblatt für den EuGH» (Beth Oppenheim), «Briefkasten» und «Stempelkissen» (Martin Howe), «judizieller Imperialismus» (Franklin Dehousse), «EWR des armen Mannes» (Mads Andenas) oder «extraterritoriale Ausdehnung der Zuständigkeit des EuGH» (Nikos Lavranos) niedergeschlagen. Die letztere Bezeichnung lässt auch an die extraterritorialen Gerichte der imperialistischen Mächte im China und Japan des 19. Jahrhunderts denken, die den asiatischen Staaten durch ungleiche Verträge bzw. «Unequal Treaties» aufgezwungen wurden.

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