Mathematikmanie: Ursache oder Erscheinungsform der Krise?
In seinem Artikel «Mathematikmanie und die Krise der Ökonomie» behauptet Viktor Vanberg, dass sich die traditionelle Ökonomie in einer Krise befinde. Er führt dies auf den «ungebrochenen Trend zur Formalisierung» zurück, gegen den es «eigentlich schon immer ein Unbehagen gab». So sehr ich Vanbergs Beurteilung der Lage der traditionellen Ökonomie auch zustimme, so sehr habe […]
In seinem Artikel «Mathematikmanie und die Krise der Ökonomie» behauptet Viktor Vanberg, dass sich die traditionelle Ökonomie in einer Krise befinde. Er führt dies auf den «ungebrochenen Trend zur Formalisierung» zurück, gegen den es «eigentlich schon immer ein Unbehagen gab».
So sehr ich Vanbergs Beurteilung der Lage der traditionellen Ökonomie auch zustimme, so sehr habe ich mich doch über die vorgebrachten Argumente gewundert. Es wird behauptet, die Mathematikmanie sei die Ursache der Krise der traditionellen Ökonomie. Die Argumentation Vanbergs beruht dabei vor allem auf dem «Autoritätsbeweis», nach welchem man den Wahrheitsgehalt einer Aussage an der Autorität erkennt, die die Person in dieser Frage hat. So werden reihenweise namhafte Ökonomen, bekannte Zeitschriften und sogar Studenten zitiert, die behaupten, Mathematik sei per se ungeeignet für Ökonomie. Schliesslich wird die Biologie, vor allem die Evolution, als neues Leitbild der Ökonomie propagiert und diese wiederum wird als nicht mathematisierbar dargestellt.
Nun könnte man natürlich ebenso viele namhafte Ökonomen, bekannte Zeitschriften und Studenten zitieren, die genau das Gegenteil behaupten. Was ist also durch diese Argumentation gewonnen? Nicht viel, denke ich. Diese Erkenntnis führt mich zum Kern meines Leserbriefes: Die Wahrheit ist kein Kind der Autorität sondern ein Kind der Zeit. Genau dieser Aspekt, die Entwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin in der Zeit, bleibt aber in Vanbergs Artikel unberücksichtigt.
Auch eine wissenschaftliche Disziplin wie die Ökonomie unterliegt dem von Vanberg in anderem Zusammenhang erwähnten kreativen Prozess der schöpferischen Zerstörung. Entlang diesem Prozess spielt die Mathematik eine wesentliche Rolle. Nehmen wir das Beispiel der traditionellen Ökonomie. Am Anfang stand ein provokativer Gedanke: der Wohlstand der Nationen beruhe nicht auf dem Reichtum des Königs, sondern er gründe auf dem Fleiss von Millionen nach Eigennutz strebenden Bürgern und Arbeitern, die auf Märkten miteinander interagieren. Dieser interessante Gedanke wurde in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts anhand des Modells der traditionellen Ökonomie präzisiert, wodurch die Vielzahl der Voraussetzungen klar wurde, die für die Richtigkeit der Behauptung wichtig sind. Erst diese Präzisierung hat den ehemals vagen Gedanken zur herrschenden Sichtweise erhoben. Hierbei war diejenige Mathematik, die zur Beschreibung der klassischen Mechanik geeignet ist, sehr hilfreich. Und wie bei vielen Dingen, die erfolgreich sind, kam es in der traditionellen Ökonomie auch zu Exzessen, wie zum Beispiel zu der von Vanberg beschriebenen Mathematikmanie, in der das mathematische Argument das ökonomische verdrängt.
Die Mathematikmanie ist deshalb nicht Ursache der Krise einer wissenschaftlichen Disziplin, sondern nur eine Erscheinungsform derselben. Und jede Krise birgt letztlich eine Chance auf Erneuerung. Die Möglichkeit zu einer Erneuerung der traditionellen Ökonomie sehe ich ebenso wie Vanberg in der Theorie der biologischen Evolution. Diese kann für die Ökonomie ein Leitbild sein, da sie den ständigen Wandel von ökonomischen Systemen am besten beschreiben kann. Die Mathematik der klassischen Mechanik dagegen ist hierzu aber leider völlig ungeeignet. Natürlich gibt es auch in der Mathematik Fortschritte. Zum Beispiel ist die Theorie zufälliger dynamischer Systeme eine junge Disziplin der Mathematik, die ideal erscheint, ökonomische Prozesse der Evolution zu beschreiben. In der sogenannten «Evolutionary Finance», einem Teilgebiet der evolutorischen Ökonomie, sind mit dieser Mathematik in den letzten Jahren einige Fortschritte erzielt worden.
Die Co-evolution von Ökonomie und Mathematik ist ein sehr fruchtbarer wissenschaftlicher Prozess. Das Verteufeln der Mathematik ist Unsinn. Solange interessante Gedanken vage bleiben und ebenso richtig wie auch falsch sein können, fällt man allzu leicht auf den Autoritätsbeweis zurück. Lässt man sich auf diese Ebene herab, dann könnten auch ebensogut wieder Politiker und Priester an der wissenschaftlichen Argumentation teilnehmen. Eine pauschale Verteufelung der Mathematik führt letztlich hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück ins Mittelalter. Mein Unbehagen bei dieser Vorstellung ist jedenfalls weitaus grösser als dasjenige, das ich beim Lesen eines allzu mathematischen Artikels in einer ökonomischen Zeitschrift empfinde.
Thorsten Hens, Professor für Finanzmarktökonomik, Universität Zürich.