
Mythos «Geschlechtsidentität»
Die fixe Idee eines vom Körper losgelösten Geschlechts gefährdet feministische Errungenschaften und befördert den Hass auf kritische Stimmen.
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Ich bin eine akademische Philosophin, die an einer Universität in Grossbritannien lehrt. Ich glaube, dass Transmenschen frei von Diskriminierung, Gewalt und Bedrohungen leben sollen. Ich unterstütze mit Nachdruck das Gleichstellungsgesetz, das «Geschlechtsangleichung» als geschütztes Merkmal ausweist und die Diskriminierung von Transmenschen, weil sie trans sind, untersagt. Gleichwohl glaube ich, dass es Menschen nicht möglich ist, wortwörtlich ihr Geschlecht zu wechseln. Ich lehne die populäre Vorstellung ab, die gegenwärtig als «Geschlechtsidentität» bekannt ist und die ein angeblich angeborenes, inneres Gefühl meint, weiblich, männlich oder etwas anderes zu sein, das nicht mit den Fakten des eigenen, geschlechtsspezifischen Körpers korrespondiert. Ich bestreite, dass dieses innere Gefühl bestimmt, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist. Ich bestreite ebenso, dass dieses Gefühl darüber entscheidet, welche Umkleideräume jemand verwenden soll, in welchem Sportteam eine Person spielen, für welche Preise oder politischen Ämter sie wählbar sein und was für Kästchen sie bei statistischen Erhebungen anklicken soll.
Tatsächlich würde ich noch weiter gehen: Ich bin misstrauisch, dass jedwedes Gefühl von «Geschlechtsidentität» angeboren ist, und noch misstrauischer, was die Behauptung angeht, dass jeder Mensch über ein solches Gefühl verfügt. So oder so glaube ich, dass es zahlreiche soziale Kontexte gibt, in denen es angemessen ist, auf Geschlecht und nicht auf «Geschlechtsidentität» zu bestehen. Hierzu zählen Sport, Raumzuweisungen und statistische Erhebungen. Ich glaube zudem, dass dem gegenwärtig populären Mantra «Transfrauen sind Frauen» zuzustimmen bedeutet, in eine Fiktion einzutauchen, die zwar wohlwollend anmutet, aber nicht unkompliziert ist: eine Fiktion, die man zwar in bestimmten Kontexten auf rationale wie leidenschaftliche Weise übernehmen kann, allerdings nicht in jedem einzelnen Fall wortwörtlich auslegen sollte. Ich glaube, dass es einer Gesellschaft nur zum Nachteil gereicht, dies nicht anzuerkennen – und zwar zum Nachteil von Frauen und Mädchen im besonderen.
Meine diesbezüglichen Ansichten werden von manchen akademischen Kolleginnen für Häresien gehalten. Seitdem ich sie laut geäussert habe, sind mein Name und meine professionelle Reputation durch den Schmutz gezogen worden. Es kam zu Protesten gegen mich auf dem Campus, mehrfach zu offenen Briefen sowie zu beträchtlichen Verleumdungen seitens anderer Akademikerinnen. Mehrere Institutionen, an denen ich hätte vortragen sollen, haben ihre Einladungen zurückgezogen, und bei meinen Vorträgen gibt es nun Security. Ich war zudem mit aufreibenden internen Nachforschungen seitens meiner Universität konfrontiert, die auf Beschwerden über meine Ansichten gefolgt waren. In ganz Grossbritannien werden Akademikerinnen und Studentinnen, die es wagen, Ansichten zu äussern, die meinen entsprechen, ähnlich behandelt, während Universitätsverwaltungen offenkundig teilnahmslos zuschauen. Viele Akademikerinnen sind zu eingeschüchtert, um über Geschlecht und Geschlechtsidentität das zu sagen, was sie tatsächlich denken. Unsere Kritiker nennen uns «transphob» und «bigott». Sie sagen, es solle #nodebate geben, was die philosophischen und politischen Fragen angeht, die wir beharrlich einwerfen. Ich wiederum sage, dass mit den britischen Universitäten einiges schiefgelaufen ist. Diese Sache ist es wert, hinterfragt zu werden, so dass andere Länder nicht in dieselbe Falle tappen.
Butlers Erbe
Die Ursprünge dieser seltsamen Situation sind vielschichtig und reichen Jahre zurück. Manche Gründe hierfür sind recht international. Darunter fällt der im Westen seit den 1980er Jahren zu verzeichnende Anstieg des philosophischen Anspruchs, dass das biologische Geschlecht «sozial konstruiert» sei. Das bedeutet nicht nur, dass männliche und weibliche Menschen – verstanden als bereits existierende materielle Wesen – mit verschiedenen maskulinen und femininen Bedeutungen belegt werden, die vom jeweiligen kulturellen Hintergrund abhängig sind. Vielmehr handelt es sich hierbei um die weitaus radikalere Behauptung, dass Geschlecht rein sozial sei: dass es überhaupt keine materielle Untermauerung habe, sondern dass es gänzlich durch Sprache konstruiert sei. Mit anderen Worten: Es gebe nur deshalb zwei Kategorien an Menschen, weibliche und männliche, weil wir dies sagen; würden wir kollektiv etwas…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1087 – Juni 2021 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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