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Mythos «Geschlechtsidentität»
Kathleen Stock, fotografiert von Sonali Fernando.

Mythos «Geschlechtsidentität»

Die fixe Idee eines vom Körper losgelösten Geschlechts gefährdet feministische Errungenschaften und befördert den Hass auf kritische Stimmen.

Read the English version here.

Ich bin eine akademische Philosophin, die an einer Universität in Grossbritannien lehrt. Ich glaube, dass Transmenschen frei von Diskriminierung, Gewalt und Bedrohungen leben sollen. Ich unterstütze mit Nachdruck das Gleichstellungsgesetz, das «Geschlechtsangleichung» als geschütztes Merkmal ausweist und die Diskriminierung von Transmenschen, weil sie trans sind, untersagt. Gleichwohl glaube ich, dass es Menschen nicht möglich ist, wortwörtlich ihr Geschlecht zu wechseln. Ich lehne die populäre Vorstellung ab, die gegenwärtig als «Geschlechtsidentität» bekannt ist und die ein angeblich angeborenes, inneres Gefühl meint, weiblich, männlich oder etwas anderes zu sein, das nicht mit den Fakten des eigenen, geschlechtsspezifischen Körpers korrespondiert. Ich bestreite, dass dieses innere Gefühl bestimmt, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist. Ich bestreite ebenso, dass dieses Gefühl darüber entscheidet, welche Umkleideräume jemand verwenden soll, in welchem Sportteam eine Person spielen, für welche Preise oder politischen Ämter sie wählbar sein und was für Kästchen sie bei statistischen Erhebungen anklicken soll.

Tatsächlich würde ich noch weiter gehen: Ich bin misstrauisch, dass jedwedes Gefühl von «Geschlechtsidentität» angeboren ist, und noch misstrauischer, was die Behauptung angeht, dass jeder Mensch über ein solches Gefühl verfügt. So oder so glaube ich, dass es zahlreiche soziale Kontexte gibt, in denen es angemessen ist, auf Geschlecht und nicht auf «Geschlechtsidentität» zu bestehen. Hierzu zählen Sport, Raumzuweisungen und statistische Erhebungen. Ich glaube zudem, dass dem gegenwärtig populären Mantra «Transfrauen sind Frauen» zuzustimmen bedeutet, in eine Fiktion einzutauchen, die zwar wohlwollend anmutet, aber nicht unkompliziert ist: eine Fiktion, die man zwar in bestimmten Kontexten auf rationale wie leidenschaftliche Weise übernehmen kann, allerdings nicht in jedem einzelnen Fall wortwörtlich auslegen sollte. Ich glaube, dass es einer Gesellschaft nur zum Nachteil gereicht, dies nicht anzuerkennen – und zwar zum Nachteil von Frauen und Mädchen im besonderen.

Meine diesbezüglichen Ansichten werden von manchen akademischen Kolleginnen für Häresien gehalten. Seitdem ich sie laut geäussert habe, sind mein Name und meine professionelle Reputation durch den Schmutz gezogen worden. Es kam zu Protesten gegen mich auf dem Campus, mehrfach zu offenen Briefen sowie zu beträchtlichen Verleumdungen seitens anderer Akademikerinnen. Mehrere Institutionen, an denen ich hätte vortragen sollen, haben ihre Einladungen zurückgezogen, und bei meinen Vorträgen gibt es nun Security. Ich war zudem mit aufreibenden internen Nachforschungen seitens meiner Universität konfrontiert, die auf Beschwerden über meine Ansichten gefolgt waren. In ganz Grossbritannien werden Akademikerinnen und Studentinnen, die es wagen, Ansichten zu äussern, die meinen entsprechen, ähnlich behandelt, während Universitätsverwaltungen offenkundig teilnahmslos zuschauen. Viele Akademikerinnen sind zu eingeschüchtert, um über Geschlecht und Geschlechtsidentität das zu sagen, was sie tatsächlich denken. Unsere Kritiker nennen uns «transphob» und «bigott». Sie sagen, es solle #nodebate geben, was die philosophischen und politischen Fragen angeht, die wir beharrlich einwerfen. Ich wiederum sage, dass mit den britischen Universitäten einiges schiefgelaufen ist. Diese Sache ist es wert, hinterfragt zu werden, so dass andere Länder nicht in dieselbe Falle tappen.

Butlers Erbe

Die Ursprünge dieser seltsamen Situation sind vielschichtig und reichen Jahre zurück. Manche Gründe hierfür sind recht international. Darunter fällt der im Westen seit den 1980er Jahren zu verzeichnende Anstieg des philosophischen Anspruchs, dass das biologische Geschlecht «sozial konstruiert» sei. Das bedeutet nicht nur, dass männliche und weibliche Menschen – verstanden als bereits existierende materielle Wesen – mit verschiedenen maskulinen und femininen Bedeutungen belegt werden, die vom jeweiligen kulturellen Hintergrund abhängig sind. Vielmehr handelt es sich hierbei um die weitaus radikalere Behauptung, dass Geschlecht rein sozial sei: dass es überhaupt keine materielle Untermauerung habe, sondern dass es gänzlich durch Sprache konstruiert sei. Mit anderen Worten: Es gebe nur deshalb zwei Kategorien an Menschen, weibliche und männliche, weil wir dies sagen; würden wir kollektiv etwas anderes sagen, würden diese Kategorien verschwinden. Und weiter heisst es gewöhnlich: Zu behaupten, dass es weibliche und männliche Menschen gebe, sei eine Möglichkeit, um «Heteronormativität» zu befördern – normative Standards, die Heterosexualität bevorzugen und nicht normgerechte Sexualitäten und Körpertypen ausschliessen. Die Hohepriesterin dieser Vorstellung ist die amerikanische Akademikerin Judith Butler, die dies in ihren Schriften «Das Unbehagen der Geschlechter» und «Körper von Gewicht» dargelegt hat; allerdings spielen auch Radikalfeministinnen des 20. Jahrhunderts wie Catharine MacKinnon und Monique Wittig eine Rolle, die behauptet hatten, dass die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Menschen das blosse Resultat der «Dominanz» der einen über die andere Gruppe sei.

«Viele Akademikerinnen sind zu eingeschüchtert,

um über Geschlecht und Geschlechtsidentität das zu sagen,

was sie tatsächlich denken.»

In die Populärkultur überführt und von Gender-Studies-Akademikerinnen verfochten, hat sich die absurde, antiwissenschaftliche Idee, dass Geschlecht ein unterdrückerisches, soziales Kon­strukt sei, in Teilen der gegenwärtigen Linken in ein modernes Dogma verwandelt. Dieses wird im Namen des Fortschritts eingesetzt, um den Rückbau von Frauenräumen und Ressourcen für Frauen zu rechtfertigen. So wird behauptet, dass Menschen selbstidentifiziert in jene Räume treten und jene Ressourcen nutzen sollten, die ihnen am besten zusagen. Die Vorstellung, dass es sich bei Geschlecht um ein Konstrukt handle, ist ausserdem die Quelle der nunmehr im Englischen üblichen – und auch im Deutschen zunehmend verwendeten – Formulierung, dass das Geschlecht bei der Geburt nicht etwa von Hebammen und Ärzten festgestellt, sondern «zugewiesen» werde. Im Dienste dieser absurden Idee wird die traumatische Bürde der sehr kleinen Gruppe von Menschen instrumentalisiert, die jährlich intersexuell geboren werden, um daraus ein Urteil über die gesamte Gesellschaft zu fällen. Der traditionelle Feminismus – der auf der Annahme basiert, dass Biologie einen Unterschied macht, der sich bei Männern und Frauen sozial unterschiedlich äussert – wird nun als altmodisch und bigott verunglimpft.

Minderheiten-Lobbyismus

Ein weiterer wichtiger Faktor für diese Entwicklung war die weltweit zunehmende Macht von LGBT-Lobbygruppen. Trotz des Umstandes, dass «trans» keine Sexualität ist, haben diese den existierenden Schwulenaktivismus mit Transaktivismus vermengt. Für diese aktivistischen Kreise liegt die radikale Sache nun darin, jede öffentliche Debatte über das biologische Geschlecht zu unterbinden. Ihr Ziel besteht in absoluter Akzeptanz von «Geschlechts­identität» in jedwedem Kontext. Demnach sei «Geschlechtsidentität» das, was eine Frau oder einen Mann (oder nichts davon) ausmache und folglich als innere, grundlegende Angelegenheit einer Person zu handhaben sei, weswegen es eine Menschenrechtsverletzung wäre, sie zu unterdrücken oder zu ignorieren. Lobbygruppen behaupten emsig, dass Personen männlichen Geschlechts nur deshalb das Recht auf einen Zugang zu weiblichen Umkleiden, Gefängnissen, Hostels und Krankenhausabteilungen hätten, weil sie sich als Frauen fühlen. Diesen Gruppen zufolge sind weder genitale Operationen noch die Einnahme von Hormonen entscheidend, sondern einzig ebenjene Geschlechtsidentität. LGBT-Lobbygruppen fordern zudem, dass in Geburtsurkunden und in Reisepässen nicht das Geschlecht, sondern Geschlechtsidentität anzuerkennen sei und dass statistische Erhebungen auch nicht mehr nach dem Geschlecht, sondern nach der Geschlechtsidentität fragen sollten. Kinder, bei denen geschlechtliche Identitätsstörungen festgestellt werden, sollen in ihrem Glauben «bestätigt» werden, dass sie «wirklich» das andere Geschlecht seien, während alles andere als totale Bestätigung – beispielsweise, die Angelegenheit mit einem skeptischen Therapeuten zu besprechen –, als «Konversationstherapie» abgetan und auf eine Stufe mit zwangsweisen Versuchen gestellt wird, die sexuelle Orientierung zu verändern. Letztere wird nun als Belang der Geschlechtsidentität, nicht von Geschlecht verstanden: Demnach könnten beispielsweise männliche Menschen «Lesben» sein, solange sie sich durch weibliche Geschlechtsidentitäten auszeichneten und sich sexuell zu anderen Menschen hingezogen fühlten, die diese ebenfalls vorzuweisen haben (mit anderen Worten: heterosexuelle männliche Menschen können Lesben sein). Operationen und Medikamente gelten dort, wo sie zum Einsatz kommen, als Mittel, um den «äusseren» Körper dem anzugleichen, was stets «in» jemandem selbst angelegt gewesen sei: seine wahre Natur.

Die antifeministischen Kosten der Diversity

In Grossbritannien heisst die einflussreichste und bestfinanzierte LGBT-Lobbyorganisation Stonewall. Auf ihrem wohlverdienten Renommee aufbauend, was die wirksame Verteidigung von Schwulenrechten angeht, hat Stonewall 2015 begonnen, sich für Transbelange einzusetzen, und war seither ausserordentlich erfolgreich darin, nationale Organisationen und politische Parteien von den vorgenannten Behauptungen zu überzeugen – und davon, dass jegliche Abweichung hiervon «Hassrede» sei, die aus persönlicher Animosität gegenüber Transmenschen resultiere. Teils wegen Stonewall gibt es nun in Frauengefängnissen und in weiblichen Sportteams, auf Preisverleihungslisten für Frauen und in für diese vorgesehenen politischen Ämtern männliche Menschen, die weibliche Geschlechtsidentitäten für sich reklamieren, offenkundig ungeachtet jedweder Auswirkung auf die weiblichen Menschen in den jeweiligen Arealen. Zudem ist unter Therapeuten eine weitverbreitete Ablehnung jeglicher Hinterfragung von Geschlechtsidentität zu verzeichnen, so dass Psychologieorganisationen nun den Ansatz, der nur Bestätigung erlaubt, gestatten. Angesichts dieser Umstände ist der massive Anstieg an Zahlen, was transidentifizierte Kinder im Vereinigten Königreich angeht, nicht überraschend: insbesondere an lesbischen und autistischen jungen Frauen, die meinen, dass sie eigentlich heterosexuelle Männer oder «nichtbinär» seien und sich Operationen und Hormonbehandlungen unterziehen, sobald ihnen dies möglich ist.

Besonders enge Beziehungen hat Stonewall im Vereinigten Königreich mit den Universitäten geschmiedet. Seitdem die britische Regierung 2015 die jährlichen Zulassungsbeschränkungen für die Hochschulen aufgehoben hat, wettstreiten diese untereinander, um einen begrenzten Pool an Studierenden anzuwerben. Aus diesem Grund versuchen sie nun besonders hart, junge Menschen anzusprechen, wozu zählt, so «divers» und «inklusiv» wie nur möglich zu sein – wenn auch nur oberflächlich. Um dem nachzukommen, zahlen viele Universitäten Stonewall einen Beitrag, um sich selbst als «Stonewall Diversity Champions» vermarkten zu können. Im Gegenzug erhalten sie eine Menge an Anweisungen, wie sie ihre Institutionen für Transmenschen «inklusiver» machen können. Diese Anweisungen reichen weit über gewöhnliche Antidiskriminierungsmassnahmen hinaus und beinhalten – was alarmieren sollte – Ansichten, wie akademische Rede über Geschlechtsidentität kontrolliert und unterdrückt werden kann. Ein spezifisch auf Universitäten zugeschnittenes Stonewall-Dokument behauptet, dass Kritikerinnen der Geschlechtsidentitätsideologie (wie ich) dafür verantwortlich seien, dass sich «LGBT-Menschen zutiefst unsicher fühlen» würden. Das impliziert, dass solche Kritikerinnen nicht für Vorträge eingeladen werden sollten. Als Reaktion auf solchen Druck und/oder Ansporn haben Universitäten «Trans-Richtlinien» eingeführt, von denen manche aufgrund ihres Autoritarismus und Antiintellektualismus auffallen. Mehrere Universitäten haben Richtlinien, die besagen, dass «jegliches in Lehrveranstaltungen verwendetes Material Transleben positiv darstellen wird». (Wie soll man dann eigentlich noch mit Studierenden darüber diskutieren, dass männliche Sexualstraftäter in Frauengefängnissen untergebracht werden sollen? Wie soll die Vorstellung einer männlichen «Lesbe» kritisiert werden oder die Auswirkungen, die diese Idee auf die lesbische Community haben wird? Wie soll die medizinische Behandlung von transidentifizierten Jugendlichen diskutiert werden? Und so weiter.) Derweil verwechseln die meisten universitären Trans-Richtlinien das absichtliche Unterlassen von «Respekt» gegenüber der Geschlechtsidentität einer Person mit «Mobbing und Belästigung». Die Richtlinie des University College London geht sogar so weit, zu behaupten: «Wenn eine Transperson eine Fakultätsangehörige darauf hinweist, dass ein Wort oder eine Formulierung ­unangebracht oder beleidigend ist, hat diese Fakultätsangehörige sie beim Wort zu nehmen und ihre Ausdrucksweise entsprechend anzupassen.»

Ein recht ortsspezifischer Faktor, der das klägliche Scheitern der britischen Universitäten zu erklären vermag, was ihr Eintreten für den Schutz der akademischen Freiheit in der Debatte um Geschlechtsidentität angeht, ist das relativ neue Beharren der Kostenträger darauf, dass Forschung nachweisbare «Auswirkungen» auf die breitere, nichtakademische Gesellschaft haben sollte, um finanzierbar zu sein. Damit korrespondiert die Annahme, dass «Wissensaustausch» und «öffentliches Engagement» als Kernanliegen der Universitäten begriffen werden sollten. Oder wie es die London School of Economics auf ihrer Website festhält: «Wissensaustausch und öffentliches Engagement decken sämtliche Aktivitäten ab, die ein nichtakademisches Publikum in die Forschung mit einbeziehen, z.B. als Partner, Teilnehmer, Mitwirkende und Koproduzenten oder als Publikum und Nutzer.»

Praktisch heisst das, dass dort, wo die breite Öffentlichkeit bereits von Lobbygruppen überzeugt worden ist, dass die Geschlechtsidentität wichtiger als das Geschlecht sei, es für Universitäten einfacher ist, mit dem Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen statt in die andere Richtung. Akademische Aktivisten, die die Ideologie der Geschlechtsidentität unter dem trügerischen Deckmantel «Trans-Menschenrechte» verteidigen, sind ein leichter Verkauf für Universitäten wie für die allgemeine Öffentlichkeit, und ihre Konferenzen und Publikationen werden gefeiert, während Dissidentinnen wie ich als Peinlichkeit oder als etwas noch Schlimmeres behandelt werden.

In diesem repressiven, intellektuell einseitigen Klima, in dem das Wohlergehen von Frauen und Mädchen auf dem Spiel steht, ist es wichtiger als jemals zuvor, dass abweichende Stimmen in die Öffentlichkeit durchdringen. Diesen Mai ist mein Buch «Material Girls» erschienen, das meinen Standpunkt für die Allgemeinheit erläutert und verteidigt. Ich denke, dass es für die britische Öffentlichkeit entscheidend ist, dass sie die politischen, ethischen und medizinischen Verflechtungen begreift, die sich hinter den Wohlfühl-Mantren von Lobbygruppen und akademischen Aktivisten verbergen. Für Transmenschen ist das ebenfalls ausserordentlich wichtig. «Transrechte sind Menschenrechte» lautet eine aktivistische Parole, und wie es bei Parolen oftmals der Fall ist, ist auch diese absolut akkurat. Es ist allerdings kein verweigertes Menschenrecht, wenn die materiellen Fakten des eigenen Geschlechts in allen Kontexten ignoriert werden, und es besteht auch kein Menschenrecht darauf, die eigenen, inneren Gefühle um jeden Preis von der Gesellschaft anerkannt zu bekommen. Und es schadet vielen Menschen – darunter auch Transmenschen selbst –, so zu tun, als wäre das Gegenteil der Fall.

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