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Glaubenssätze statt Aufklärung?

Bemerkungen und weitere Gedanken zum «Schlaraffenland» von Andrea Caroni im «Schweizer Monat», Ausgabe Mai 2012.

Die Argumente und Schlagworte zur Abwehr sogenannter «sozialistischer Sintfluten» haben sich in den letzten 150 Jahren nicht wesentlich verändert – die Kosten, der Markt, der totale Staat, die Freiheit des Individuums und als Schlussfolgerung immer das Damoklesschwert erhöhter Arbeitslosigkeit, sofern man diesen abstrusen Forderungen nachgeben würde.

Da sich doch einige dieser «Schlaraffenlandpolitiker» in der Vergangenheit durchsetzen konnten, arbeiten wir heute nicht mehr 12 Stunden am Tag, haben Anspruch auf 4 Wochen Ferien, sind wir obligatorisch krankenversichert und werden wir unterstützt, wenn wir arbeitslos sind oder zu denen gehören, die es trotz Chancengleichheit nicht geschafft haben. Diese Errungenschaften sind Teil eines Gesellschaftsvertrags, der wesentlich zum sozialen Frieden und somit zu Sicherheit und Stabilität einer Gesellschaft beiträgt. Die Frage ist natürlich immer, ab wann genau es sich dabei um ungesunde Übertreibungen handelt und da scheiden sich die Geister.

«Der Liberalismus achtet und schützt das Individuum.», schreibt Herr Caroni. Die Frage drängt sich auf, welches Individuum hier genau gemeint ist. Es besteht zumindest der Verdacht, dass es darum geht, die zu schützen, die die «Chancengesellschaft» mit Eigenverantwortung, der dementsprechend konsequenten Verfolgung ihrer Eigeninteressen und ja, auch mit dem notwendigen Glück, nutzen konnten. Die folgende Aussage spricht für sich und blendet nebenbei jegliche Machtstrukturen aus, indem suggeriert wird, dass ein Arbeitnehmer in dieser Lohnkategorie tatsächlich eine gleichberechtigte Verhandlungsposition wahrnimmt: «Wie ein Maximallohn verhindert auch ein Mindestlohn, dass ein Arbeitgeber und ein Arbeitnehmer den Lohn vereinbaren, der der Produktivität des Arbeitnehmers entspricht.» Welcher Arbeitgeber möchte schon 22 Franken Mindestlohn bezahlen, wenn er für bestimmte offenbar äusserst unproduktive Jobs bisher 16 Franken bezahlt hat?Freiheitliche Geister könnten ihre Energien und Fähigkeiten in konstruktivere Kanäle leiten, stattdessen reibt man sich immer noch auf in ideologischen Grabenkämpfen mit der Linken. Man ist reflexartig entsetzt, sobald ein Hauch von mehr Staat sich am Horizont abzeichnen könnte und fragt sich, wer die (freisinnige) Minderheit vor verfassungsändernden (sozialistischen) Initiativen schützen könne. Man operiert mit Schuldzuweisungen an die Adresse von Etatisten, die das Staatsversagen im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ausblenden. Staatsversagen ist aber kein inhärent sozialistisches Phänomen. Dass es sich bei den verantwortlichen Staatsmännern und -frauen keineswegs durchgängig um sozialistische Schlaraffenlandpolitiker gehandelt hat, sondern ebenso um freisinnig denkende Deregulierungspolitiker, wird nicht erwähnt.Föderalismus ist genausowenig a priori mit dem Liberalismus verknüpft wie Sozialismus mit einem Zentralstaat. Ein ultraliberaler Föderalismus in seiner extremsten Ausprägung wäre die Anarchie des nur sich selbst verpflichteten Individuums, ein zentralistischer, bis in den letzten privaten Winkel alles regulierender und kontrollierender Zentralstaat wäre der totale Staat. In ihren Extremen sind beide Formen gleichermassen abzulehnen. Und deshalb sind Aussagen, die suggerieren, Föderalismus sei a priori gut, ein zentralistischer Ansatz per se schlecht, meist politisch motivierte Simplifizierungen. Derartige Wertungen verbauen die Chance offen und flexibel, je nach Sachlage Vor- und Nachteile einer föderalistischen oder zentralistischen Lösung den Vorzug zu geben. Ideologisch verblendete Dogmatiker gibt es auf beiden Seiten leider immer noch genug, ich halte es langsam für überfällig, ideologische Verkrustungen aufzubrechen, um uns gemeinsam den gewaltigen Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Es wird beide Seiten brauchen, um das notwendige Umdenken in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft anzustossen. Wirtschaften muss Eigenverantwortung koppeln mit Verantwortung für Umwelt, Mitwelt und Nachwelt. Die einseitige Betonung der Eigenverantwortung führt nur allzu leicht zu egoistischer Nutzenoptimierung gepaart mit kurzfristigem Denken. Die für alle möglichen Entscheidungen vorgeschobenen «Zwänge der Märkte» und die vorherrschende Orientierung an einer unbedachten quantitativen Wachstumsmaxime zeugen davon.

Ich nehme an, die meisten Menschen würden den folgenden zwei Behauptungen zustimmen:

1. Die Voraussetzung für Wohlstand und Stabilität ist Wirtschaftswachstum.

2. Unser Ökosystem ist endlich.

Wir sind 7 Milliarden Menschen, Tendenz steigend. Der Wohlstand ist global sehr ungleich verteilt. Sehr viele Volkswirtschaften haben in Bezug auf Wachstum einen grossen und legitimen Nachholbedarf. Mit vermehrter Technologieeffizienz wird eine gewisse relative Entkopplung erreicht – wir erwirtschaften heute in den hochentwickelten Ländern mehr mit weniger Ressourcenverbrauch und weniger Umweltschäden. Bei einer global ständig wachsenden Wirtschaft und zunehmenden Bevölkerung, ist aber eine absolute Entkopplung notwendig, damit auch zukünftige Generationen noch eine Grundlage zum Wirtschaften haben. Ressourcenverbrauch und Umweltschäden müssen in absoluten Zahlen abnehmen. Um eine absolute Entkopplung mit einer Steigerung der Technologieeffizienz zu erreichen, müsste die Technologieeffizienz schneller wachsen als die Wirtschaft. Davon sind wir weit entfernt. Behauptung 2, die Endlichkeit unseres Planeten ist eine Tatsache, die wir akzeptieren müssen, auch wenn wir sie gerne ausblenden. Behauptung 1, dass das einzig denkbare Wirtschaftssystem zwingend auf Wachstum basieren muss, ist nichts als eine Behauptung, ein Glaubenssatz, keine in Stein gemeisselte Wahrheit. Hier können wir ansetzen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir zukünftigen Generationen eine Chance geben wollen. Könnte es sein, dass der Zwang zu Wachstum und Konsum sich als Hamsterrad erweist, das wir als natürliche, selbstverständliche und einzige Lebensform verabsolutieren, vielleicht aus Angst vor den Konsequenzen der Antwort auf die Grundsatzfrage, die für die Zukunft dieses Planeten matchentscheidend ist: Kann die globale Wirtschaft in einem endlichen Ökosystem unendlich wachsen?

Unser liberal-marktwirtschaftliches Herz in der Brust will dieses Wachstumsdilemma nicht wahrhaben und deshalb tun wir so, als ob wir ewig so weiterwirtschaften könnten. Wachstum als Grundlage und Ziel unseres globalen Wirtschaftssystems ist der schnellste Weg, in nicht so ferner Zukunft keine (lebenswerte) Lebens- und Wirtschaftsgrundlage mehr zu haben.

Gerade von freiheitlichen Geistern hört man nicht viel Konstruktives zu diesem Thema. Im schlimmsten Fall existiert nicht einmal die Bereitschaft sich mit den Analysen von derartigen «wirtschaftsfeindlichen Phantasten» auseinanderzusetzen. Das ist sehr schade. Um diesem Planeten langfristig eine Chance zu geben, müssen wir uns von einigen überkommenen Glaubenssätzen verabschieden – der Freisinn genauso wie die Linke. Statt reflexartiger Abwehr und Schubladendenken braucht es den Mut zu Offenheit und Unvoreingenommenheit. 

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