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Freiheit ist Freiwilligkeit – oder sie ist nicht

«Kind. Krippe. Karriere»: Die Titelgeschichte der letzten Ausgabe (Nr. 1010) – das Streitgespräch mit Carolina Müller-Möhl – hat mir zahlreiche Zuschriften beschert. Ein Sieg nach Punkten ist nur schwer auszumachen, die Voten halten sich die Waage. Wir waren uns einig über das Ziel: Beruf und Familie müssen vereinbar sein. Der Disput entzündete sich an der […]

«Kind. Krippe. Karriere»: Die Titelgeschichte der letzten Ausgabe (Nr. 1010) – das Streitgespräch mit Carolina Müller-Möhl – hat mir zahlreiche Zuschriften beschert. Ein Sieg nach Punkten ist nur schwer auszumachen, die Voten halten sich die Waage. Wir waren uns einig über das Ziel: Beruf und Familie müssen vereinbar sein. Der Disput entzündete sich an der Frage, wer diese Vereinbarkeit künftig sicherstellen soll. Müller-Möhls Antwort: im Notfall der Staat, damit Frauen wirklich Wahlfreiheit haben. Meine Antwort: eben nicht der Staat, sondern immer nur zivilgesellschaftliche Akteure, weil Familie reine Privatsache ist und auch bleiben soll.

In der Wirklichkeit ist der Streit längst entschieden. Nehmen wir der Einfachheit halber das Beispiel Kinderkrippen. Der Bund subventioniert Kinderkrippen seit 2003; das «Impulsprogramm» wurde mehrmals verlängert, zuletzt bis am 31. Januar 2015. Die Begründung: Das Fehlen einer genügenden Anzahl von Betreuungsmöglichkeiten lasse dem Bund keine andere Wahl. In Tat und Wahrheit verknappen Kantone und Gemeinden ebendieses Angebot durch Hürden und Auflagen, die sie an Kinderkrippenbetreiber stellen (sie laufen für gewöhnlich unter dem Titel «Qualitätssicherung», sind aber de facto nichts anderes als eine [Teil-]Verstaatlichung der Betreuung, da die Auflagen für private Krippenbetreuer so hoch sind, dass sich der Aufbau kaum lohnt). Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Bund selbst Kinderkrippen baut, wie in anderen europäischen Ländern auch. Dies veranschaulicht, dass der Wohlstandsbürger im Jahre 2013 fast schon reflexartig denkt: Betreuung = Staat. Die vielbeschworene Zivilgesellschaft, die sich selbst organisiert (Nachbarn, Unternehmen, Idealisten, Wohltäter), ist bloss noch eine nette Worthülse.

Was also bedeutet (Wahl-)Freiheit in diesem Zusammenhang? Der klassische Liberalismus definiert die Freiheit negativ – und meint dies positiv: Frei ist, wer, von anderen unbehelligt, seine eigenen Ziele verfolgen kann. Nach der Sozialdemokratisierung unseres Denkens und Fühlens meint Freiheit jedoch etwas anderes: den Anspruch auf Selbstverwirklichung. Frei bin ich, wenn ich materialiter in die Lage versetzt bin, das zu tun, was ich tun will – sorglos, also gerne auch auf Kosten anderer. In unserem Fall bedeutet dies: Der Staat hat dafür zu sorgen, dass ich meine Kinder ausserhalb privater Netzwerke betreuen lassen kann. Damit privilegiert der Staat mittlerweile einen Lebensstil, nämlich die Zweiverdienerfamilie. Nein, er setzt sie zunehmend sogar voraus. Um Missverständnissen vorzubeugen (und hier bin ich mit Carolina Müller-Möhl absolut einverstanden): Ich pflege diesen Lebensstil mit meiner Frau ebenfalls (sie arbeitet zu 60 Prozent) – nur kann und möchte ich ihn anderen Familien nicht aufdrängen. Im Gegenzug will ich, dass sich der Staat aus meinem Privatleben heraushält.

Ich habe im Gespräch mit Carolina Müller-Möhl den negativen Freiheitsbegriff starkgemacht: Die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie soll ohne Zutun des Staates zustande kommen. Aber die Investorin hat recht, wenn sie mir im Gespräch ein zu dogmatisches Denken vorhält – denn der negative Freiheitsbegriff ist in unseren Wohlfahrtsstaaten de facto längst überholt und überwunden. Freiheit meint heute nicht mehr, unbehelligt tun zu können, was man will, sondern den Anspruch an andere, einen (unfreiwillig) auf dem eigenen Trip der Selbstverwirklichung zu unterstützen – ist das nur schlecht? Nicht unbedingt. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hat gezeigt, dass genau dieser Befund – wir leben erstmals in der Geschichte der Menschheit in entwickelten Wohlfahrtsstaaten – auch Befreiungspotential birgt, jedenfalls theoretisch. Denn gesetzt den Fall, ich bin bereit, auf persönliche Annehmlichkeiten zu verzichten, so gilt in Wohlfahrtsstaaten der Satz: Ich muss nicht mehr tun, was ich nicht will. Ich bin mithin frei, mich neu selbst zu belasten – zum Beispiel mit der Schaffung neuer Betreuungsangebote. Die Basis für eine Renaissance eines zeitgemässen Liberalismus (und einen Rückbau des Staates) wäre mithin die Einsicht in eine neue Kultur des Handelns aus freien Stücken. Das neue freiwillige Engagement entspringt weder Zwang noch Trieb, weder Neurose noch Mangel, sondern dem Bewusstsein des eigenen Könnens. Man könnte die These wagen: Freiheit ist im 21. Jahrhundert Freiwilligkeit – oder sie ist nicht. – Ist sie plausibel? Fortsetzung folgt laufend in diesem Magazin.

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