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Der Kandidat
Martin Meyer, fotografiert von Sandra Ardizzone.

Der Kandidat

Um die Stelle als Ordinarius an der Universität Zürich zu erhalten, war Hans Blumenbergs Referat eine allzu schwere Kost. ­Die Publikation in dieser Zeitschrift hat den Text aber für immer erhalten.

Martin Meyer kommentiert «Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie» von Hans Blumenberg.


 

Zum Charme meiner Korrespondenz mit Hans Blumenberg gehörte, dass der Schriftverkehr (er erstreckte sich von den frühen 1980er Jahren bis nah an den Tod des grossen Philosophen im März 1996) periodisch aufgelockert werden sollte. Sei es, dass Fotografien ausgetauscht wurden, dass ich Blumenberg eine besonders gelungene Musikaufnahme (Beethoven, Bach) zusandte oder dass Blumenberg dem Brief ein Buch oder einen Sonderdruck beifügte.

Den Höhepunkt solcher Divertimenti aber bildeten unsere Telefonate. Da Blumenberg ein Nachtmensch war, begannen sie zur späten Stunde und konnten, je nach Laune und Neugier, leicht über Mitternacht hinweglaufen. Vieles und Verschiedenstes kam zur Sprache. Manchmal verfiel Blumenberg in einen schön modulierten Monolog, dessen Ziel ungewiss blieb. Manchmal ging es zügig hin und her, als ob sich der frühere Tennisspieler nochmals auf das Feld von Reiz und Reaktion hätte wagen wollen.

Bei einem dieser Gespräche kam ich auch auf die Universität Zürich zu reden. Ich wollte von Blumenberg wissen, weshalb und unter welchen Vorbereitungen er sich damals – 1967 – um die Nachfolge von Hans Barth beworben hatte.

Barth war bis zu seinem Tod im Februar 1965 Ordinarius für Philosophie und politische Theorie gewesen. Der Inhaber des einzigen Lehrstuhls war kurz nach dem Krieg an die Universität berufen worden. Die entscheidende Qualifikation hatte darin bestanden, dass Barth zuvor als Redaktor am Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung» in der Position des furchtlosen Warners aufgefallen war: In Artikeln und Aufsätzen hatte Barth das freiheitliche Gedankengut gegen den Ansturm der totalitären Ideologie verteidigt und gestärkt.

Die Bestellung des Nachfolgers hatte sich verzögert. Hermann Lübbe hatte den Ruf früh erhalten, dann jedoch zugunsten des Amts eines Staatssekretärs im Bundesland Nordrhein-Westfalen wieder freigegeben. In dem folgenden Interregnum sprang der grosse Hellmuth Plessner als Lehrbeauftragter in die Bresche. Und Plessner war es schliesslich auch, der den damals in Bochum lehrenden Blumenberg zur Bewerbung auf Barths Professur animierte.

So kam es kurz vor der grossen Studentenrevolte, die bald von Paris über Berlin bis nach Berkeley ausgreifen würde, im biederen Zürich zu einem Concours unter Philosophen. Für das Setting war Diskretion angesagt. Anlässlich einer Form von Miniaturtagung präsentierten sich Blumenberg und ein weiterer Bewerber, Christian Graf von Krockow, dem interessierten Publikum. Damit das Ganze nicht zu sehr nach Wettbewerb roch – damals war Stil keine Schande –, wurde als zusätzlicher Referent Hanno Helbling aufgeboten. Der Redaktor der NZZ für Geschichte und Theologie sollte als der dritte Mann in diesem Kreis ebenfalls zum Thema vortragen und damit für Unverfänglichkeit sorgen. Natürlich wusste jedermann, worum es bei dieser Tagung wirklich ging. So naiv waren damals nicht einmal die Zürcher.

Hans Blumenberg als politischer Philosoph? In der Tat. Zürich war aus vielen Gründen verlockend, und dem Begriff des Politischen hatte Blumenberg immer wieder nachgedacht. Die thematische Klammer der Vorlesungen zur Barth-Nachfolge bildeten die Begriffe Frieden, Ordnung, Wirklichkeit und Staat. Hanno Helbling sprach über «Ewiger Friede und zeitliche Ordnung». Graf Krockow behandelte «Die Grenze als anthropologisches und politisches Problem». Hans Blumenberg referierte über «Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie».

Ein paar Monate später, nämlich in Heft 2 vom Mai 1968, druckten die «Schweizer Monatshefte», schon damals tüchtig unterwegs, diese drei Vorträge nach. Es war schwere Kost, die auf die Leserschaft zukam. Hanno Helbling, auch er ein gefürchteter Denker, zeigte sich so klug und gelehrt, wie er nur sein konnte. Eine echte Knacknuss bildete der Text von Hans Blumenberg.

Um einzelnes kann es hier nicht gehen. Blumenberg spiegelte die Wirklichkeit des Staats in konkurrierenden Realitäten und komplexen Herausforderungen, beleuchtete seine prekär gewordene Macht unter den unruhigen Bedingungen der späteren Moderne, kam auf den Kalten Krieg und dessen Aporien zu sprechen und zitierte einen Denker absichtsvoll nicht, der gleichwohl auf bohrende Weise präsent war: Carl Schmitt.

Damit ist noch nicht alles gesagt. Erstens hatte Blumenberg diesen Vortrag eigentlich gar nicht vorgesehen: Anderes – Eingängigeres? – war ursprünglich geplant gewesen. Zweitens merkte er rasch, wie er mir viel später dann in jener Nacht erzählte, dass der Auftritt misslungen war. Drittens bestätigte mir Hanno Helbling, der unverdächtige Zeuge, diesen Befund. Man habe gerade noch in Umrissen verstanden, was Blumenberg habe sagen wollen. Viertens kompensierte Blumenberg seine schwere Stunde nachträglich, indem er den «Monatsheften» eine mindestens doppelt so lange Version des Referats zur Verfügung stellte. Sie wurde in diesem Format gedruckt.

Fünftens übermittelte mir Blumenberg auf die eingangs erwähnte Telefonfrage ein Exemplar des besagten Hefts. Sechstens hatte er darauf ein visitenartiges Kärtchen mit dem Aufdruck «Überreicht vom Verfasser» geklebt. Und siebtens hatte er das Datum dieser Nummer – «Mai 1968» – unübersehbar ominös mit dem Rotstift markiert. Als wolle Blumenberg unterstreichen, dass die Geschichte nun beglaubigte, was er im Jahr zuvor mit seinem Zürcher Vortrag hellsichtig antizipiert hatte. Der Wirklichkeitsbegriff des Staates war – wieder einmal – von innen her ins Schwanken geraten.

Als Nachfolger Barths wurde übrigens am langen Ende – 1970 – doch noch Hermann Lübbe berufen. Ein Glücksfall. Auch wenn mir die Idee, dass der wahrhaft geniale Hans Blumenberg in Zürich – fast – Einzug gehalten hätte, bis heute immer wieder einmal durch den Kopf geht. Zu unserer Korrespondenz in solcher Form wäre es dann allerdings wohl nicht gekommen.

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