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«Ein Stilmittel.» «Genau das ist 68!» «Da hast du jetzt recht.»

Die Schweiz verstehen, das wollten an diesem Abend im Neumarkttheater die fünf ehemaligen Studenten der Universität Zürich. Thomas Zaugg, Autor von «Blochers Schweiz», hat mit ihnen über die wilden Tage gesprochen – die gewesenen und die kommenden. Wir publizieren die Dokumentation des denkwürdigen Gesprächs. Special Guest: Adolf Muschg.

«Ein Stilmittel.» «Genau das  ist 68!» «Da hast du jetzt recht.»
Robert Nef, Georg Kohler, Remo Largo, Thomas Zaugg, Christoph Blocher und Elisabeth Michel-Alder, fotografiert von Caspar Urban Weber.

Thomas Zaugg: Sehr geehrtes Publikum, der Titel dieser Veranstaltung wäre korrekterweise «1968 von Mitte-links bis ganz rechts». Es war schwierig, wirklich linke Exponenten der damaligen Studentenpolitik und Revolten zu gewinnen, viele sagten ab. Die 68er Generation ist vielleicht die erste Generation im 20. Jahrhundert, für die genug Wohlstand vorhanden war, so dass sie sich die Luxusfrage stellen konnte: Wie wollen wir eigentlich wirklich leben? Im Anschluss an diese Frage hat sich ein Streit ergeben zwischen den Persönlichkeiten, die heute auf dem Podium anwesend sind. Sie alle haben damals, 1968, an der Universität Zürich studiert und sich in der Studentenpolitik engagiert. Ich habe sie alle gebeten, eine kurze Anekdote zum Einstieg vorzubereiten. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an 1968 denken, Frau Michel-Alder?

Elisabeth Michel-Alder: Ich habe die Hausaufgabe nicht mitgekriegt, aber ich versuche es dennoch. Ich war vorletzte Woche wieder einmal in Prag. Meine Erinnerung ist die an Jan Palach, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verbrannt hat. Da sass ich im Zug mit Moritz Leuenberger, um in Brünn und Prag für einen Studentenaustausch mit der Uni Zürich Verträge zu unterzeichnen. Die Polizei hat uns aus dem Zug gezogen, wieder zurück nach Wien spediert. Nach einer Woche sind wir dann doch noch eingereist und haben die Verträge unterzeichnet, die jedoch nicht mehr realisierbar waren.

Christoph Blocher: Wenn Sie das Jahr 1968 spezifisch nehmen, da habe ich mein Lizentiat abgeschlossen und die Universität verlassen, ja verlassen können. Das war für mich sehr glücklich. Ich habe eine Halbtagsstelle angenommen, um dann noch die Dissertation zu schreiben. Die 68er Bewegung habe ich vorher etwas erlebt, aber ich habe sie, das sage ich gleich, nie als eine bedeutungsvolle Bewegung betrachtet.

Remo Largo: Als Sie mich angefragt haben, da hatte ich wirklich Mühe, mich zu erinnern. Mitte 68 ging ich für ein halbes Jahr nach Amerika, nach Madison, Wisconsin, an die Medical School. Ich habe so eigentlich vieles verpasst, zum Beispiel den Globus-Krawall. Dafür machte ich intensive Erfahrungen in Amerika. Beispielsweise hatten wir an der Universität ein Büro, das dazu diente, für Vietnam rekrutierte Studenten über Nacht nach Kanada zu spedieren – also Dienstverweigerer. Das war hautnah, dieser reale Konflikt, nicht so weit weg wie in der Schweiz. Das andere Erlebnis war die Democratic Convention in Chicago, Ende August 1968. In einer sehr aufgebrachten Stimmung kamen sehr viele Protestierende zusammen, es kam zu Unruhen mit 23 000 Polizisten und sehr viel Tränengas. Das waren Dimensionen, die ich nicht gekannt habe. Das prägte für mich 68. Drei, vier Monate nachdem Martin Luther King umgebracht worden war, war das ganze Land aufgebracht. Es war das einzige Mal, dass ich Tränengas in meinem Leben roch. Aus Versehen kam ich mitten unter die Protestierenden im Grand Park, die Polizei trieb die nahezu 100 000 Protestierenden aus dem Park in die Seitenstrassen – ein unglaublicher Sog, eine unglaubliche Gewalttätigkeit, wohl nicht vergleichbar mit den Globus-Krawallen.

Georg Kohler: 68 beginnt für mich im Grunde viel früher als mit den Globus-Krawallen, eigentlich schon 1966 und ganz bestimmt 1967, als Benno Ohnesorg erschossen wurde, die Demonstrationen rund um den Schah-Besuch und die Universitätsreform in Deutschland stattfanden. 68 beginnt für mich beinahe in dem Moment, da ich in die Uni komme, 1965. Es war für mich eine Zeit der grossen Öffnung. Plötzlich gab es überall Themen, die mit neuen Lebensstilen und Befreiung zu tun hatten. Das lud sich bald in der Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg politisch auf. Natürlich war auch ich zuerst ein braver Angehöriger des Westens, und die Schweiz mit ihrer Neutralität war selbstverständlich – eingebunden in die Nato-Ideologie. Ich kam ursprünglich aus dem Emmental, bis etwa dreizehn wuchs ich dort auf, das hat mich geprägt: im Sinne eines Grundvertrauens ins Herkömmliche. Die Pubertät erlebte ich dann in Zürich. Dabei geriet alles in Bewegung, bei den ideologischen Basisannahmen, den kulturellen Kriterien. Die Musik der 1960er Jahre lieferte die Choreographie für ein neuartiges Existenzverständnis. Und anders als bisher eingeübt kam mir jetzt auch – wenngleich zögernd – das Verhältnis zwischen den Geschlechtern vor. Nicht zuletzt «die Pille» war ein wichtiges Ereignis dieser Zeit, leider meist eher theoretisch. Als 1968 dann aber in Paris lauthals von der Revolution geträumt wurde, Daniel Cohn-Bendit seine «situationistischen» Auftritte feierte und eigentlich von niemandem richtig ernst genommen wurde, war das für mich fast schon das Ende von «1968».

Robert Nef: Ich dachte zuerst, ich sei originell, wenn ich etwas Privates sage. Es ist aber interessant, dass diese doch sehr politischen Leute fast alle ein privates Erlebnis erwähnen. Für mich war das entscheidende Erlebnis wirklich ein privates, das aber sehr politisch ist. Im September oder Anfang Oktober 68 stand vor der Türe meiner Studentenbude mein Freund aus Prag mit dem Koffer in der Hand. Er sagte: «Ich bin geflohen, und ich komm jetzt zu dir, und ich bleibe hier.» Ich hiess ihn willkommen und ging ins Brockenhaus, um eine Matratze zu kaufen. Etwa ein Jahr lang teilte ich mit ihm meine Mansarde. Seither weiss ich, was Asyl bedeutet, was Probleme der Adaptation sind. Seither weiss ich auch, dass jemand, der aus einer totalitären Umgebung flieht, die Angst, überwacht zu werden, nie mehr loswird. Letztlich bringt so jemand die Opferrolle nie mehr weg. Mein Freund war Jazzjournalist, ich hatte ihn 1964 in Prag kennengelernt. Ich versorgte ihn und seine Freunde mit Jazzplatten, obwohl ich kein Spezialist bin. Sie wollten keine Bücher, sie wollten Jazzplatten und Bluejeans. Mehrere Pakete von beidem habe ich nach Prag geschickt. In Zürich mussten wir uns aneinander gewöhnen, er war sehr anders als ich, er war Esoteriker, er hatte völlig andere Dinge als ich gelesen.

Thomas Zaugg: Der Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnete den Begriff «68er» einmal als Schimpfwort. Man redet von «Kuschelpädagogik», von «Wohlfühlpädagogik», von den ersten «Wohlstandsverwahrlosten» des 20. Jahrhunderts und damals schon von den «Kryptokommunisten». Herr Blocher, warum redet man so? Sie sind doch auch ein 68er?

Christoph Blocher: Ich brauche diese Begriffe nicht, weil ich diese Bewegung nie – schon an der Universität nicht – sehr ernst genommen habe. Ich kam ja auf dem zweiten Bildungsweg, hatte einen abgeschlossenen Beruf als Landwirt: den einzigen Beruf, den ich abgeschlossen habe im Leben. Weil ich keinen Bauernhof hatte, musste ich etwas anderes lernen. Ich kam also an die Universität, nach kurzer Maturvorbereitung, um das Studium zu machen. Es gab damals noch nicht diese Stipendienordnung, ich war Werkstudent, habe am Abend in der Sihlpost gearbeitet und ging am Morgen wieder in die Universität. Da kamen sie dann, Söhne und Töchter aus sehr guten Häusern, alles gut Gesegnete. Für mich und nicht nur für mich war das eine pubertäre Bewegung, welche sich vom Elternhaus lösen wollte und natürlich auch von der politischen Umgebung. Sie hatten keine richtige Philosophie. Ich habe immer gefragt: Was wollt ihr denn eigentlich? Sie kamen mir vor wie pubertäre Kinder, die einfach aufbegehren gegen Eltern und Väter und Mütter. Pubertäre Kinder sagen ja nicht nur Falsches. Sie sehen auch Schwächen, diese haben die pubertierenden Studenten auch angesprochen. Aber sie haben keine Linie gehabt. Sie sind dann relativ rasch in den Kommunismus abgewandert und haben sich selbst diskreditiert.

Thomas Zaugg: Aber nicht alle.

Christoph Blocher: Es war eine sehr führende Schicht – ich könnte Namen nennen. Mao war natürlich ihre Bibel der Zukunft. Und auch Fidel Castro haben sie verehrt – das waren alles Vorbilder. Für die meisten aus unserer juristischen Fakultät war der Sozialismus keine verfolgbare Lehre. Und dass es pubertär war, sehen sie auch daran: Allen führenden Gestalten von damals – und darum haben sie zu dieser Diskussion keinen hierherbringen können – ist die politisch bewegte 68er Vergangenheit heute peinlich. Sie haben alle Karriere gemacht, und zwar bis zuoberst, und sie sind im Mainstream drin. Thomas Held zum Beispiel hat mir im Grossen Studentenrat über die Reihen zugerufen: «In zehn Jahren gibt es keine freie Marktwirtschaft mehr, da könnt ihr machen, was ihr wollt.» Und wo ist er gelandet, wo? Held ist heute mehr Marktwirtschaftler als ich.

Thomas Zaugg: Ihr Bruder Andreas Blocher schreibt 1967 unmittelbar nach der Erschiessung von Benno Ohnesorg im «Zürcher Studenten»: «Die Unterdrückung, die viele der rebellierenden Studenten empfinden, ist viel eher eine geistige und psychologische, indem über ihnen unveränderbar ein Establishment thront, das durch ein bürgerliches Denkklischee von Politik, Religion und Moral, von einem Presse­cäsaren» – gemeint ist wohl Springer – «zärtlich gepflegt, aufrechtgehalten wird. Dazu kommt das seelische Unbehagen an der Wohlstandsgesellschaft, der Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit.» Sehen Sie es nicht auch so wie Ihr Bruder damals?

Christoph Blocher: Doch, doch, diese Zweifel hatte ich auch.

Thomas Zaugg: Haben Sie nicht auch unter Ihren Professoren gelitten?

Christoph Blocher: Ja, natürlich. Aber…

Thomas Zaugg: Die waren doch auch elitär. Als Student durften Sie damals nicht einmal den Lift benützen, der war für die Professoren reserviert.

Christoph Blocher: Stimmt. Aber wenn die Professoren Lift fahren wollen, dann sollen sie. Ich kann die Treppe hochsteigen. An solchen Dingen reibt sich jeder, der an einer Universität ist, auch heute. Mein Bruder ging damals nach Berlin, zu Dutschke. Er ist am Anfang in die Bewegung reingekommen, es war bei ihm auch eine Loslösungsfrage vom Elternhaus. Das ist für mich eindeutig, das kann ich gut nachvollziehen. Andreas hat aber relativ schnell Abschied genommen. Die Pubertät hörte früh auf.

Thomas Zaugg: Auch Herr Largo benutzt interessanterweise das Wort «pubertär» im Zusammenhang mit 68. Sie haben einmal geschrieben: «Aus der Rückschau war die 68er Bewegung eine spätpubertäre Reaktion auf unglaubwürdig gewordene Autoritäten in Familie und Gesellschaft. Was es damals reichlich gab und ich heute sehr vermisse: Visionen und Träume.»

Remo Largo: Ja, ich stehe dazu, diese Art von Reaktion war pubertär. Dennoch war der Aufstand notwendig. Er sollte eigentlich in jeder Generation geschehen, ist ein Jungbrunnen für die Gesellschaft. Ohne diese Ausbrüche vergreist sie. Heute vermisse ich den pubertären Ausbruch und die Visionen. Viele reden darüber, dass man in der Schule den Staatsbürger mehr betonen müsse. Doch das glaube ich nicht. Indem man die Institutionen eines Staates erklärt, weckt man doch kein Verständnis fürs Zusammenleben. Was fehlt, ist eine Diskussion, an der sich die ganze Gesellschaft beteiligt: Wie wollen wir leben? Dies empfinde ich als ein Manko.

Elisabeth Michel-Alder: Dass ich nicht in «Blochers Schweiz» lebe, sondern in einer anderen, das weiss ich. Aber dass 1968 jetzt auch von Ihnen, Herr Largo, zu einem entwicklungspsychologischen Episödchen stilisiert wird, das versteh ich gar nicht. An der Universität habe ich etwas mit Geschichte zu tun gehabt, und wenn ich dieses Jahrzehnt zwischen 60 und 70 oder auch von 62 bis 72 anschaue, dann sind da sehr grosse gesellschaftliche Verwerfungen geschehen. Das war nicht einfach nur ein bisschen Spätpubertät.

Thomas Zaugg: Woran denken Sie konkret?

Elisabeth Michel-Alder: Zum Beispiel an die ganze Dekolonialisierung, schauen Sie sich die Geschichte der afrikanischen Staaten in den 1960er Jahren an. In derselben Zeit ist auch zum dritten Mal eine Abstimmung über das Frauenstimmrecht vorbereitet worden, die dann 1971 sogar angenommen wurde. Das Verständnis von Wissenschaft und der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissenschaft wurde heftig und intensiv diskutiert. Dass Christoph [Blocher] das nicht mitbekommen hat, das sei ihm verziehen. Die Fragen, die wir uns gestellt haben darüber, was eigentlich Verantwortung im Forschungsprozess wäre, würde ich heute vielleicht auch anders stellen. Aber ich war bitter enttäuscht über Anspruch und Theorieverständnis vieler unserer damaligen Professoren. In Energiefragen beispielsweise. Die Schweiz hatte noch einen Atomdelegierten, bis irgendwann in diesem Jahrzehnt klar wurde, dass Atomenergie nicht die Lösung, sondern Teil des Problems ist. Oder die Stadtentwicklung – zum Beispiel in Zürich. Man sprach von der autogerechten Stadt, im Lauf jener Jahre hat man dann aber kapiert, dass stadtgerechter Verkehr das Thema ist. Oder um noch ein Thema aufzugreifen: Der Verband Pro Familia, stramm katholisch, hat sich während der 1960er Jahre sehr irritiert zu fragen begonnen, was überhaupt eine Familie sei. Man hat festgestellt, dass das, was man als Modell unterstützte, längst keine Realität mehr war. Wir haben noch erlebt, dass alle, die im Konkubinat zusammenlebten, nach Killwangen-Spreitenbach zogen, um in Ruhe zu leben. Das ist im Aargau die nächstgelegene Gemeinde, und der Aargau hatte anders als Zürich das Konkubinatsverbot schon aufgehoben. Das alles sind gesellschaftliche Umbrüche, die jedem Historiker bedeutsam erscheinen. Dass junge (und ältere!) Leute auf solch fundamentalen Wandel heftig reagierten, halte ich nicht für pubertär, sondern für den Hinweis auf massivste Orientierungsprobleme. Es fragt sich, ob Marx dabei nützliche Orientierungshilfe bot, klar. Ich denke, vieles war ein Versuch, sich für einen neuen gesellschaftlichen Entwicklungsschub zu rüsten. Wahrscheinlich ist man im ersten Anlauf nicht wahnsinnig weit gekommen, aber immerhin.

Thomas Zaugg: Sie sind als junge Frau um 1968 als Studentenpolitikerin aktiv gewesen, ohne als Staatsbürgerin das Wahl- und Stimmrecht zu besitzen. Der Nachgeborene fragt sich unweigerlich: Wie fühlt man sich da?

Elisabeth Michel-Alder: Ich muss Sie enttäuschen, es war für mich persönlich undramatisch. Ich hab’s unbeschadet überlebt. Es war klar, in welcher Umgebung ich lebte. Aber die Situation hat mich angeregt, ein bisschen nachzudenken über das so wahnsinnig senkrechte Demokratieverständnis einer Männerschweiz, die findet, Demokratie sei nur etwas für die Hälfte der Menschheit. Aber einen pubertären Schub ausgelöst? Nein.

Thomas Zaugg: Remo Largo beleuchtet in seinen Büchern die Folgen von 68, zum Beispiel die Einführung der Pille. Der Dissens zwischen Ihnen scheint mir gar nicht so stark, obwohl Sie in der Frage der «Pubertät» so uneins sind.

Remo Largo: Der Dissens besteht nicht eigentlich. Die 1968er Bewegung war für mich ein Epiphänomen. Was mich weit mehr in­teressiert, ist, was darunter liegt. Sie gehen sicher mit mir einig, Frau Michel-Alder, dass es im Untergrund Strömungen gab, welche die Gesellschaft in den folgenden Jahren grundlegend verändert haben und die wir in ihren Auswirkungen überhaupt nicht erfasst und verstanden haben. Die Emanzipation der Frau und die Pille waren der Beginn einer solchen tiefgreifenden Veränderung. Man erhoffte sich von der Pille entweder eine Befreiung oder befürchtete eine Verwilderung der Sexualität. Passiert ist etwas ganz anderes. Nach der Einführung der Pille hat die Geburtenrate in der Schweiz massiv abgenommen. Jedes Jahr wurden 25 000 bis 30 000 Kinder zu wenig geboren, um die Bevölkerung stabil zu halten. In den vergangenen vierzig Jahren kamen 1,2 Millionen Kinder nicht auf die Welt – was ziemlich genau der Anzahl Menschen entspricht, die in dieser Zeitperiode eingewandert sind! Was ist schiefgelaufen? Wir haben die Emanzipation der Frau nicht – wie in den skandinavischen Ländern – mit einer familienfreundlichen Politik unterstützt.

Thomas Zaugg: Das ist eigentlich eine Frage an Christoph Blocher oder an viele konservative Familienpolitiker und Vertreter einer restriktiven Einwanderungspolitik. Wie hielten Sie es damals mit der Pille?

Christoph Blocher: Als Protestant habe ich über die Pille auch mit strengen Katholiken Diskussionen geführt. Ich war anderer Meinung, ich fand, man sollte sie nehmen dürfen. Aber mit den sogenannten 68ern haben wir kaum Diskussionen führen können; da bekamen Sie Joghurt an den Kopf geschossen. Die haben gar keine andere Meinung zugelassen. Die 68er haben eher verhindert, dass über diese längerfristigen Auswirkungen im Untergrund diskutiert werden konnte. Wir haben C. G. Jung gelesen, haben uns mit Freud auseinandergesetzt, aber auf einer anderen Ebene, die an der Universität in den damaligen geistigen Strömungen nicht gefragt war. Wer in der Bewegung nicht mitmachte, wurde kurzerhand als reaktionär abgetan.

Robert Nef: Wir kommen nicht weiter, wenn wir die 68er Bewegung ins Links-rechts-Schema pressen. Ich habe es einmal versucht mit einer anderen Vereinfachung, die auch falsch ist, aber immerhin auf die Situation Bezug nimmt. Es gibt zwei Rechte und zwei Linke. Es gibt die nationale Rechte und die marktwirtschaftliche Freihandelsrechte. Das sind zwei völlig verschiedene Ansätze…

Christoph Blocher: …aber die schliessen sich nicht aus!

Robert Nef: Nicht immer, aber oft. Die antiautoritäre Linke – das waren die 68er – und die etatistische Linke – das waren nicht die 68er, aber die meisten 68er sind alsbald in dieses etatistische Lager abgeschwirrt. Die antiautoritäre Linke gibt es gar nicht mehr oder vielleicht bildet sie sich neu bei den Libertären, die überhaupt jeden Staat ablehnen und sich sehr gut identifizieren können mit einem Slogan wie «Macht aus dem Staat Gurkensalat». Aber gerade die 68er, die später in die Politik gegangen sind, haben aus dem Staat nicht Gurkensalat gemacht. Sie haben diesen Staat für ihre fragwürdigen Ziele eingesetzt. Das Establishment, das sie bekämpft haben, haben sie nachher selbst verkörpert. Die 68er Bewegung ist aus meiner Sicht zum Teil an ihren eigenen Leuten, zum Teil am eigenen Anspruch des Antiautoritären, der permanenten Kritik gescheitert. Diese Wurzel hat zu meinem Bedauern keine Fortsetzung gefunden.

Georg Kohler: Mir scheint wichtig zu unterscheiden zwischen den 68ern als einer bestimmten Gruppe, die den langen Marsch durch die Institutionen mehr oder weniger erfolgreich angetreten und dabei auch ihre Ideale verraten hat – das ist das eine. Eine andere Sache ist die damalige Zeit: Mitte der 1960er Jahre, als die von Elisabeth [Michel-Alder] angesprochenen Umbrüche stattfinden. Das ist für mich eigentlich «68»: Eine historische Schwelle, die das 20. Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte in ein Davor und in ein Danach einteilt. In vielerlei Hinsichten sind wir alle darum noch immer von dem bestimmt, was damals entstanden ist. Insofern müsste man vertiefen, was Elisabeth Michel-Alder und Remo Largo angesprochen haben. «68» ist jedenfalls die geschichtsmächtige Kulturrevolution, die den Westen tief verändert hat. Natürlich geschah das nicht aus dem Blauen heraus. Aber nun, da die unmittelbare Nachkriegszeit zu Ende war, setzten eben die Wirkungen neuer Technologien ein (wofür die Pille ein Beispiel ist). Und vor allem wurde eine Generation erwachsen, für die Sicherheit und ein gewisser Wohlstand nichts Aussergewöhnliches mehr waren. Viele der Restriktionen, die die fünfziger Jahre dominiert hatten, verloren ihre Geltung. Intellektuell, institutionell und alltagspraktisch. Das war unerhört spannend – und fruchtbar. Als damaliger Redaktor der Zürcher Studentenzeitung entdeckte ich sozusagen täglich neue Themen. Und dass das nicht bloss auf die Normalität eines jungen Menschen zurückzuführen war, der die Welt gerade kennenlernte, liess sich daran ablesen, dass unsere Zeitung Aktualität weit über das Unimilieu hinaus gewann. Auch Max Frisch schrieb für den «Zürcher Studenten». Die bekannten Namen konnte man alle haben. Wenn Frisch in der Nähe war, sagte man: «Bitte schreiben Sie uns doch noch einen Artikel, wir sollten ihn in einer Woche haben.» Da hat er ihn brav geschickt und war zufrieden mit einer Flasche Whisky. Im übrigen hat auch Christoph [Blocher] für den «Zürcher Studenten» geschrieben, in derselben Ausgabe wie der linke Philosoph Arnold Künzli. Nicht ohne Grund habe ich Christoph mal gesagt, dass auch er ein 68er sei. Seine Politik ist in vielen Fällen sehr genau kalkuliert antiautoritär. Er macht freche, den gesellschaftlichen Benimmkonsens irritierende Dinge. In aller Öffentlichkeit – und mit Lust. Ich kann mich gut erinnern, als er in den 1990er Jahren mit seinem Luftschutzregiment plötzlich auf dem Sechseläutenplatz aufmarschierte. Alle dachten: Was soll das? Ich sagte: Er ist einfach ein echter – rechter – 68er.

Thomas Zaugg: Ich möchte etwas gegen diese Sicht des 68ers von rechts einwenden. Christoph Blocher hat nicht nur antiautoritäre Seiten, sondern schätzt die Autorität durchaus hoch. Ich spreche insbesondere von Herrn Blochers Kolumnen aus der protestantischen Monatsschrift «Reformatio», die in den 1980er Jahren erschienen sind. Sie kämpften damals gegen das neue Eherecht und schrieben: «Sehe ich falsch, wenn ich diese Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen Mann und Frau in engster Beziehung sehe zu demselben Verhältnis zwischen Christus und der Gemeinde, zwischen Gott und der Welt, ja zwischen Gott Vater und Gott Sohn selbst? Ich sah es bisher so: die Bibel sieht die Liebe allein in Gott – und dort hat die Liebe die Struktur der Autorität.» Meinen Sie hier die männliche Autorität, die biblische Führungsrolle des Mannes?

Christoph Blocher: Ich habe diese Kolumnen in der «Reformatio» geschrieben, das war eine neugegründete, theologische Zeitschrift. Ich hatte nichts damit zu tun, Pfarrer Vogelsanger vom Grossmünster…

Elisabeth Michel-Alder: Fraumünster!

Christoph Blocher: …war die treibende Kraft. Die Autoren wollten eigentlich ein Gegengewicht bilden zur offiziellen Kirche. Da haben geschrieben Kurt Marti, Georg Thürer und so weiter. Einer meiner Professoren an der Universität, Werner Kägi, kam auf mich zu, ein Völkerrechtler, nicht auf meiner Seite, weil er Naturrechtler war. Kägi fragte, ob ich nicht Kolumnen schreiben könnte, die eine Diskussion entfachen. Ich habe daraufhin sehr provokativ geschrieben – das war das erklärte Ziel. Es gab aber nie ein Echo. Meine Kolumnen zeigten den Niedergang der Kirche: Alle diese Herren und Damen, die sich in diesen Themen theologisch zu Hause zu fühlen glaubten, konnten gar nicht entgegnen. Nicht einmal auf diese sehr provokativen Sätze, die Sie zitieren. Ich habe dann aufgehört zu schreiben, weil es langweilig wurde. Aber ich muss Ihnen sagen, diese Fragezeichen, die ich gesetzt habe, sind natürlich nicht aus der Luft gegriffen. Der Mann sei – biblisch betrachtet – das Haupt der Familie, so wie Jesus Christus das Haupt der Gemeinde war. Und was ist passiert mit dem Haupt der Gemeinde? Er wurde gekreuzigt. Ich habe gesagt: Das wird unheimlich, wenn der Mann das Haupt der Familie ist.

Thomas Zaugg: Dann wollen wir’s nicht mehr sein.

Christoph Blocher: Ja, dann wollen wir’s nicht mehr sein. Das war natürlich meine Reaktion. Also ich möchte das nicht! Aber ich habe es zur Diskussion gestellt. Beim Eherecht war ich immer der Meinung, dass der Satz im Zivilrecht – «Der Mann ist das Haupt der Familie» – gestrichen werden muss. Aber im Eherecht hat man gesagt, es seien beide verantwortlich in Notsituationen. Dabei ist klar: eine Doppelverantwortung wird nie funktionieren. Man hat gesagt, es werde weniger Scheidungen geben. Sie können aber selber schauen, ob es bis heute mehr oder weniger gegeben hat. Mein zweiter Kritikpunkt betraf die eherechtliche Teilung. Bei Scheidungen führt das zu Katastrophen für alle, die Unternehmen besitzen. Meine Kinder müssen beispielsweise bereits bei der Heirat an die Scheidung denken und einen Vertrag aufsetzen. Wir sollten ein Eherecht, ein Güterstandsrecht haben, das hier fortschrittlicher ist. Das hat nichts zu tun mit Rückständigkeit. Das war auch die Schwierigkeit damals, das Eherecht zu bekämpfen und zu sagen: Wir müssen es ändern, aber nicht so.

Thomas Zaugg: Warum drücken Sie sich eigentlich nicht immer so differenziert aus wie jetzt? Warum schreiben Sie solche Dinge wie in der «Reformatio»?

Christoph Blocher: Das ist eine Frage der Taktik. Sie müssen manchmal provozieren – provozieren heisst ja «hervorrufen» im Lateinischen. Es ist ein Stilmittel, um etwas in Bewegung zu setzen.

Georg Kohler: Eben, genau das ist «68»!

Christoph Blocher: Ja, da hat er jetzt recht. Ich habe an den 68ern nie bemängelt, dass sie provokativ waren, Diskussion wollten und Fragen gestellt haben. Ich habe nur gesagt: Die haben nichts bis in die Tiefe behandelt. Es war nur revolutionär, und Revolutionen bringen ja nie etwas, die reissen alles herunter.

Elisabeth Michel-Alder: Die Form deiner Stellungnahmen, Christoph [Blocher], mag gewollt provokativ sein, mich stören die kümmerlichen Inhalte. Was du da an Kirchenverständnis, an Familien­verständnis vertreten hast und anderes bis heute vertrittst, da muss ich sagen: Ich bin heilfroh, dass ich nicht in der Blocherschen Schweiz lebe. Ich erinnere mich: Du hast in diesen 1960er und frühen 1970er Jahren ein Kirchenverständnis zum besten gegeben, das für sehr viele Theologen im Kanton Zürich eine bare Katastrophe war. Es gäbe nur Verkündigung, um Himmels willen im Christentum keine sozialen Dimensionen, hast du gesagt. Befreiungstheologie war ein Thema in dieser Zeit, und auch dagegen hast du dich wacker gesträubt.

Christoph Blocher: Jaja, auch heute noch!

Elisabeth Michel-Alder: Die Befreiungstheologie in Lateinamerika war hochbedeutsam für die gesellschaftliche und demokratische Entwicklung. Und die Einflussnahme aufs Eherecht ist ein Misserfolg für dich gewesen. Die Schweiz hat damals versucht, die familiären und ehelichen Verhältnisse neu zu regeln. Du hast dich quergestellt, und das war nicht nur Provokation. Auch wenn du dich nicht provokativ geäussert hättest, müsste man sagen: Die Geschichte ist ganz schön über dich hinweggerollt.

Christoph Blocher: Ich habe in meiner politischen Tätigkeit mehr verloren als gewonnen. Deshalb tue ich auch nicht so wichtig, wenn ich einmal gewinne.

Thomas Zaugg: Eine ganz grosse Niederlage betrifft die 68er Generation, also Sie alle. Viele Ihrer studentenpolitischen Vorstellungen gingen spätestens mit der Bologna-Reform unter. Studentische Mitbestimmung gibt es heute kaum mehr.

Robert Nef: Ich bedaure, dass die Hochschulfragen von damals heute überhaupt kein Thema mehr sind. Damals ging es um die Frage der Mitbestimmung, die Studenten forderten Drittelsparität. Heute hat die Universität ihre Autonomie völlig preisgegeben. Die Studierenden interessieren sich nicht mehr dafür. Der Mittelbau ist so fixiert darauf, in den Oberbau zu kommen, dass er gar keinen eigenen Stand mehr bildet. Wir können mit einer gewissen Romantik auf die früheren Bestrebungen zurückschauen, müssen uns aber bewusst sein, dass inzwischen alles abgeschafft worden ist – jedoch nicht von Leuten meines Geistes. Es ist beseitigt worden von Leuten, die alles zentral und bürokratisch organisiert haben wollen und die mit einer Autonomie einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden überhaupt nichts anfangen können. Das ist nur noch ein Service public, der letztlich von Brüssel aus organisiert wird. Ich erinnere mich an die Sit-ins, als man «Ho-Ho-Hochschulreform, Ho-Ho-Hochschulreform!» skandiert hat. Diese Reform war damals wichtig und richtig. Und wenn es jetzt einen Grund gäbe, dann müsste man gegenüber der Hochschule, wie sie jetzt ist, genau so skandieren! Ich bin ja nicht Professor, aber ich habe sehr viele Freunde, die klagen und mir sagen: Weisst du, das ist überhaupt nicht mehr dasselbe, das ist furchtbar. Wir leben in einer Institution, die wir gar nicht mehr mitgestalten und mitverantworten können. Wenn es irgendeinmal wichtig war, dieses Ho-Ho-Hochschulreform, dann wäre es heute und in Zukunft.

 

Publikumsdiskussion: Muschg und Blocher

Adolf Muschg: Ich möchte mich eigentlich an Herrn Nef anschliessen. Und auch an den Befund, dass die jüngere Generation gewissermassen den nächsten Sauerstoffstoss verpassen müsste für das Aufwirbeln der sozialen Probleme, für die Wahrnehmung dieser Probleme. Ich bin damals genau wie Sie, Herr Largo, in Amerika gewesen und habe genau dieselben Eindrücke mitgebracht. Ich habe nichts verpasst in Europa, ich hatte das Gefühl, ich sei dort an der Quelle realer Probleme, es waren keine Erfindungen. Was ich jetzt als bald 80jähriger vermisse, ist, dass diese Bewegung, die wir mit «68» bezeichnen, vollkommen verschwunden ist, genau so wie die Autonomie der Universität. Und daran würde ich nun nicht nur den durchmarschierten 68ern Schuld geben, sondern einer verallgemeinerten Betriebswirtschaft, die gewissermassen die neue Scholastik, die neue Leitwissenschaft der Periode geworden ist und die jeden Studenten, Patienten, was auch immer, zum Faktor in einer Statistik macht, ihn auch nicht dazu ermutigt, die Werte, von denen die Rede war und die wir suchen, in Frage zu stellen – jedenfalls wenn er weiterkommen will. Kein Student kann es sich heute leisten, unbequem zu sein. Er kann es sich nicht leisten, ein Modul abzuwählen, das gefragt ist. Schuld sind aber nicht nur die staatlichen Bürokraten, die ehemaligen, die arrivierten 68er, sondern es ist eine globalisierte Rechnungswirtschaft, die dazu geführt hat, dass wir nach der Statistik leben und sterben und dass man dort, wo von Werten die Rede sein muss, mit Qualitäten zu rechnen hätte und nicht nur mit Quantitäten – und heute haben wir eine absolut durchquantifizierte Gesellschaft. Um es historisch zu betrachten: Natürlich sind die Popanzen und die Autoritäten von damals weg, ich möchte fast sagen: Sie sind zu sehr weg. Es gibt keine Widerstände mehr. Die grosse Rolle, die Herr Blocher in unserer Demokratie spielt, hat auch damit zu tun, dass er Widerstand herausfordert und dass er Widerstände mag und an Widerständen wächst. Das Blocher-Buch von Helmut Hubacher ist ein einziges Sich-an-die-Brust-Schlagen, warum man dem Blocher immer nur Nein gesagt hat und nicht sehen wollte, was dieser Krypto-68er alles Gutes für diese Gesellschaft getan hat. So hätte man ihm den Wind aus den Segeln nehmen können, statt dass sich die Hälfte der Bevölkerung sich nach diesem Wind richtet. So, jetzt habe ich genug geredet.

Christoph Blocher: Herr Muschg, ich muss Ihnen sagen, Sie reden mir aus dem Herzen. Nur, hätten Sie damals – nicht nur Sie – bei der Einführung von Bologna so geredet! Ich war derjenige, der diese Reform verhindern wollte. Ich habe schon an der Universität damals gesagt: Hört auf mit der Einführung von Zwischenprüfungen! Das engt den Studenten ein zum Schüler, zum folgsamen Schüler. Die Studenten haben das aber selbst vorangetrieben, weil sie gesagt haben: Sonst studieren wir acht bis zehn Semester und fliegen dann raus. Die Bologna-Reform haben wir deshalb bekämpft, weil wenn man alle Universitäten in ganz Europa gleichstellt, dann gibt es keine Besonderheit mehr. Dann können Sie auch die Werte nicht mehr pflegen, das ist ein Register, das können Sie abhaken. Gegen diesen Widerstand von meiner Seite ist aber natürlich gesagt worden: Ja, der ist nur dagegen, weil es jetzt europäisch wird und Bologna heisst und so weiter und so fort.

 


Das Gespräch, das wir hier exklusiv dokumentieren, fand unter dem Titel «Schweiz verstehen I: 1968 von links bis rechts» im Theater Neumarkt statt. Es wurde in der vorliegenden Version von den Podiumsteilnehmern autorisiert.

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