Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Freiheit von, Freiheit zu…

Soll und Haben: Zum Zustand freiheitlichen Denkens in Europa im Jahr 2012

Freiheit von, Freiheit zu…

Die Freiheit steht im Gegenwind. Sie werde ständig missbraucht, liest man allenthalben, sie erlaube einigen wenigen, sich zu bereichern und sich Vorteile zu verschaffen. Stimmt das wirklich? Freiheitsfreunde und Freiheitskritiker dürften sich einig sein: Eine Freiheit, die sich nicht missbrauchen lässt, ist keine Freiheit. Sie unterscheiden sich allerdings darin, welchen Schluss sie aus diesem Umstand ziehen. Freiheitsfreunde wollen die Freiheit schützen, indem sie sich dafür einsetzen, dass alle Menschen in ihren Genuss kommen – das ist die beste Diversifikation des Missbrauchsrisikos. Freiheitskritiker hingegen wollen Missbrauch verhindern, indem sie die Freiheit einschränken. In letzter Zeit haben viele Bürger begonnen, der Freiheit zu misstrauen und neue staatliche Aufsichtsbehörden zu fordern. Das heisst nichts anderes, als dass sie begonnen haben, sich selbst zu misstrauen. Aber haben sie wirklich Grund dazu?

Beginnen wir grundsätzlich und halten positiv fest: Seit Joachim Gauck zum deutschen Bundespräsidenten gewählt worden ist, wird in Deutschland wieder über Freiheit diskutiert, darüber, was Freiheit ausmacht und wie man Freiheitsrechte sichert. Gauck lässt in seiner kleinen Schrift «Freiheit. Ein Plädoyer» offen, wie genau er den Freiheitsbegriff definieren möchte.1 Doch findet sich darin von Beginn an die Idee, dass die Freiheit des einzelnen vor Übergriffen der Staatsgewalt entscheidend sei. Dies mag all jene, die den Staat für die höchste moralische Instanz halten, weltfremd anmuten. Im Falle des einstigen DDR-Bürgers Gauck beruht diese Aussage freilich nicht auf theoretischer Einsicht, sondern ist eine Folgerung aus erlebter Geschichte. Und er hat recht: Bürger zu sein ist kein Privileg, das der Staat seinen Untertanen gewährt, sondern ein Recht, dessen Schutz – auch vor ihm selbst – seine vornehmste Aufgabe ist. Durch den Mauerfall sind – in Gaucks Worten – die Menschen in Ostdeutschland von Insassen eines Staatsgebietes zu Bürgern mit Bürgerrechten geworden, die sie auch ausüben können. Diese Freiheit von etwas, also die Freiheit, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein ausser sich selbst, müsse im nächsten Schritt zu einer Freiheit zu etwas werden, also zur Freiheit mitzureden und zu gestalten, insbesondere durch die Übernahme von Verantwortung im privaten wie im öffentlichen Raum. Hier zeichnet Gauck das Bild eines mündigen Bürgers, der ein erfülltes Leben führt. Dies ergänzt er schliesslich mit dem Plädoyer für Toleranz gegenüber Andersdenkenden und grenzt sie von Gleichgültigkeit ab.

Das klingt gut. Es ist jedoch der zweite Aspekt, die Freiheit zu etwas, der in der Vergangenheit immer wieder politisch instrumentalisiert wurde. Isaiah Berlin verdeutlicht in seinem Buch Two Concepts of Liberty diese Missbräuche durch den Rationalismus Hegelscher oder Rousseauscher Prägung seit dem 19. Jahrhundert in bis heute unübertroffen klarer Weise.2 Die Idee der positiven Freiheit, wie Berlin sie nennt, bildet den Vorwand für Bevormundung und staatliche Kontrolle mit dem vermeintlichen Zweck, den Menschen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu vermitteln: Du bist frei zu entscheiden, wenn du so entscheidest, wie ich es mir wünsche. Vertreter von Paternalismus, Nationalismus und Sozialismus haben die Idee der positiven Freiheit aufgegriffen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen und individuelle Freiheitsrechte (als Freiheit von etwas) einzuschränken. Die von Gauck angesprochene Ermächtigung zu einem verantwortungsvollen und erfüllten Leben war in diesem Fall nichts anderes als die Anleitung zu einem gegenüber den politisch Verantwortlichen wohlgefälligen Leben.

Es gibt also nicht nur Unterdrückung im Namen der Unfreiheit, sondern auch der Freiheit. Und damit wären wir bei der zen­tralen Frage angelangt: Was haben wir genau darunter zu verstehen? Ich möchte im ersten Teil des Essays klären, was Freiheit eigentlich bedeutet, um im zweiten Fall zu analysieren, wie es in Europa im Jahre 2012 faktisch um sie bestellt ist.

1. Was ist Freiheit?

Der Begriff der Freiheit lässt sich genauer fassen: Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Eine freiheitliche Ordnung gewährleistet dem Menschen im Grundsatz, frei und selbstbestimmt, nach eigenem Gutdünken und eigenen Vorstellungen über seine Angelegenheiten zu entscheiden. Genauso selbstbestimmt kann er sich in öffentlichen Angelegenheiten äussern und für gemeinsame Anliegen einer Gemeinschaft – der Familie, der Gemeinde, des Landes – einsetzen. Der Mensch ist frei geboren und nicht aus einer natürlichen Ordnung heraus anderen Menschen oder Organisationen untergeordnet, auch wenn er als Individuum selbstverständlich stets in Gesellschaft lebt. Wird er durch andere Menschen willkürlich unterdrückt, verspürt er den Impuls, sich der Übergriffe auf seine Freiheitsrechte zu erwehren. In freiheitlichen Gesellschaften hat er legitimerweise die Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen – in unfreiheitlichen muss er sich überlegen, ob er dies wider die herrschenden Gesetze bzw. die Obrigkeit tut.

Als ein solches Abwehrrecht hat Friedrich August von Hayek die Freiheit in seinem Opus magnum Verfassung der Freiheit verstanden:

«Ob er [der Mensch, Erg. durch Verf.] frei ist oder nicht, hängt nicht vom Bereich der Wahl ab, sondern davon, ob er erwarten kann, den Lauf seiner Handlungen nach seinen gegenwärtigen Absichten zu gestalten, oder ob jemand anderer die Macht hat, die Umstände so zu modifizieren, dass er nach dem Willen des anderen und nicht nach seinem eigenen Willen handeln wird. Freiheit setzt daher voraus, dass dem einzelnen ein privater Bereich gesichert ist, dass es in seiner Umgebung einen Bereich von Umständen gibt, in die andere nicht eingreifen können.»3

Interessierte Beobachter werden zunächst über diese klare Definition des Freiheitsbegriffs erstaunt sein. Denn in der Realität unterliegen die Menschen mannigfaltigen Freiheitsbeschränkungen. Dem Hayekschen Freiheitsbegriff ist die Tatsache, dass Freiheitsbeschränkungen in einem gewissen Ausmass notwendig sind, natürlich nicht fremd. Sie ergeben sich zunächst dadurch, dass sich die Freiheitssphären verschiedener Menschen berühren. Da Menschen verschieden sind und unterschiedliche Vorstellungen haben, was sie in einer bestimmten Situation tun oder unterlassen wollen, welche gemeinsamen Anliegen wie befolgt werden sollen, entstehen zwangsläufig Konflikte. Die Freiheit des einzelnen bedeutet in der Tat nicht, ohne Einschränkungen zu leben. Oder in den Worten James Buchanans: «Individuelle Freiheit kann nicht schrankenlos sein.»

Einschränkungen bestehen somit immer dort, wo die Freiheitsrechte anderer Menschen tangiert werden. Die Freiheit des einzelnen geht bis zur Freiheit des anderen. Gleichwohl sollte Freiheit nicht über das Mass hinaus, das Schaden von anderen Menschen abwendet, beschränkt werden. Individuen werden die so begründeten Freiheitsbeschränkungen akzeptieren können: Weil jeder einzelne nicht selbst durch Aktivitäten seiner Mitbürger geschädigt werden möchte, sind Menschen dazu bereit, eine Regelordnung zu akzeptieren, die sie in der Ausübung ihrer Freiheitsrechte beschränkt.

Wir treffen hier auf das Grundparadox jeder freiheitlichen Ordnung: Es bedarf des Zwangs, um den Zwang zu minimieren. Eine freiheitliche Grundordnung bedeutet nicht, dass absolut kein Zwang ausgeübt wird, sondern dass er auf ein notwendiges Minimum reduziert sein muss, um dem Menschen in seinem privaten Bereich eine weitgehende Entfaltungsmöglichkeit nach eigenem Gutdünken zu gewähren. Die Instanz zur Bewahrung einer solchen Regelordnung ist für gewöhnlich der Staat. Dazu Karl Popper:

«Aber ich verlange, dass der fundamentale Zweck des Staates nicht aus dem Auge verloren werde; nämlich der Schutz jener Freiheit, die den anderen Bürgern keinen Schaden zufügt. Daher fordere ich, dass der Staat die Freiheit der Bürger auf möglichst gleiche Weise einschränke, aber nicht mehr, als nötig ist, um eine gleiche Begrenzung der Freiheit zu erreichen.»4

Nur ein starker (wenn auch beschränkter) Staat ist mächtig genug, diese Funktion als Wächter der Freiheitsrechte des Menschen effektiv wahrzunehmen. Zugleich gerät er jedoch natürlicherweise in Versuchung, diese Macht nicht zwingend im Sinne der Bürger einzusetzen. Der Staat ist daher immer zugleich eine Quelle von Unfreiheit. Gerade weil ihm Zwangsrechte zur Sicherstellung individueller Freiheit übertragen werden, stellt sich die Frage, wer den Staat daran hindert, seine Macht zu missbrauchen. Die alte von Juvenal im 1./2. Jahrhundert n. Chr. aufgeworfene Frage «Quis custodiet ipsos custodes?» – wer wacht über die Wächter? – stellt sich immer wieder aufs neue. Eine Verfassung der Freiheit muss daher sicherstellen, dass der Staat der Herrschaft des Rechts unterliegt. Staatliche Entscheidungsträger müssen dem Recht unterworfen sein. Ist dies nicht mehr der Fall – wie in autoritären Regimes oder in Krisenzeiten von Demokratien –, schwindet mit der Zeit das Rechtsbewusstsein der Bürger. Der Staat wirtschaftet ab und verliert in den Augen des Souveräns seine Legitimität.

Die durch den Staat mit Zwang durchgesetzten Beschränkungen individueller Freiheitsrechte lassen sich somit letztlich auf eine freiwillige Aufgabe ihrer Freiheit durch die einzelnen Individuen zurückführen. Da niemand schädigende Übergriffe auf seine eigene Freiheitssphäre erfahren möchte und im Prinzip einsieht, dass ein Hauen und Stechen unter grundsätzlich freien Menschen nicht sinnvoll ist, akzeptiert der Mensch die Freiheitsbeschränkung durch eine Regelordnung, die durch staatliche Instanzen durchgesetzt wird – wenn zugleich die staatlichen Instanzen dieser Regelordnung unterworfen sind. Ob dies im Sinne eines Gedankenexperiments zur Analyse der Sinnhaftigkeit von Freiheitsbeschränkungen zu verstehen ist oder ob eine tatsächliche Willenserklärung von Seiten der betroffenen Bürger vorliegen sollte, ist in der politischen Theorie umstritten. Die individualistische Rekonstruktion einer Gesellschaftsordnung ist für den freiheitlichen Ansatz jedoch kennzeichnend.

Das Pendant zur individuellen Freiheit ist die Selbstverantwortung: Du bist frei zu tun, was du willst, sofern du niemandem schadest, aber du trägst dafür die Verantwortung. Menschen, die autonom handeln, die ihre Vorstellungen nach eigenem Gutdünken weitgehend umsetzen können, müssen sich der Konsequenzen ihres Handelns bewusst sein. Nur wenn der einzelne mit diesen Konsequenzen konfrontiert ist, wird er auch wohlüberlegte Entscheidungen treffen. Er trägt die Vorteile und Nachteile, die Gewinne und Verluste, die individuelles Handeln mit sich bringt. Wird dieser Nexus durchbrochen, werden individuelle Entscheidungen verzerrt: Ich kann tun, was ich will; nützt es mir, übernehme ich die Verantwortung, sonst überlasse ich sie anderen. Kommen die Menschen nicht in den vollen Genuss der Vorteile, so strengen sich die Menschen weniger an. Müssen sie nicht die vollen Nachteile in Kauf nehmen, so werden die Menschen übermütig, gehen zu hohe Risiken ein und belasten die Allgemeinheit.

2. Abgrenzungen des Freiheitsbegriffs?

Das Tun-und-lassen-können-was-man-will ist vor diesem Hintergrund ein falsch verstandener Freiheitsbegriff. Freiheit bedeutet darum auch nicht, den Menschen alle materiellen Ressourcen kostenlos zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um ihre Bedürfnisse tatsächlich zu befriedigen. Denn die Ressourcen fallen nicht vom Himmel, sondern verdanken sich stets dem freiwilligen Engagement der einen, die sich zur Arbeit, mithin zu deren Vor- und Nachteilen, aus freien Stücken entschieden haben.

Bedürfnisse sind dadurch gekennzeichnet, dass sie unbegrenzt sind. Aber selbst wenn sich eine Gesellschaft auf ein Mindestmass an Bedürfnissen einigt, gilt es festzulegen, wie viel Bedürfnisbefriedigung anderen verwehrt wird. Die sich daraus eröffnenden Übergriffsmöglichkeiten auf die Freiheits­sphäre der einzelnen können leicht ausufern. Sie sollten daher als Beschränkungen der Freiheit anerkannt und demokratisch legitimiert sein und nicht in einer völligen Verdrehung des Freiheitsbegriffs vorgeprägt werden. Umgekehrt ist es klug für den Erhalt einer Ordnung der Freiheit, aus sozialpolitischen Massnahmen resultierende Freiheitsbeschränkungen zu akzeptieren. Hans Albert hat in Freiheit und Ordnung zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Ordnung der Freiheit die Interessenlage derjenigen berücksichtigen muss, die sich für die Unterstützung von Freiheitsbeschränkungen mobilisieren lassen.5 Eine solche Ordnung müsse so attraktiv wie möglich sein, indem Problemlösungen ausgearbeitet werden, die für diejenigen akzeptabel sein können, die eine Ordnung der Freiheit nicht allein wegen ihrer freiheitlichen Aspekte bevorzugen.

Doch gilt es eine wichtige Unterscheidung zu beachten. Freiheit als Abwesenheit von Zwang ist nicht gleichzusetzen mit politischer Freiheit. Politische Freiheit ist die Möglichkeit zur politischen Teilhabe in einem Gemeinwesen, also die Möglichkeit zur Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen: «Aber ein in diesem Sinne freies Volk ist nicht notwendig ein Volk freier Menschen; und man braucht an dieser kollektiven Freiheit nicht teilzuhaben, um frei zu sein.»6 Hayek hat recht. Denn die politische Teilhabe sichert die individuelle Freiheit nicht, wenn sie die Ausübung totalitären, weil nicht an unveräusserliche Freiheitsrechte rückgebundenen Zwangs ermöglicht. Demokratie ist somit nicht gleichzusetzen mit Freiheit, aber einer ihrer Garanten, weil sie die einzige bislang bekannte Methode friedlichen Machtwechsels ist.

Individuelle Freiheit ermöglicht wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt in stärkerem Masse, als dies staatliche Planung je erreichen könnte. Dies nicht nur, weil sie Kreativität freisetzt, sondern in einem viel grundsätzlicheren Sinne. Die grundlegende Erkenntnis, die wesentlich für die Begründung einer freiheitlichen Verfassung ist, findet sich in der Unkenntnis des Menschen über das, was sein wird: über das Neue, über nicht intendierte Wirkungen menschlichen Verhaltens und Handelns. Wegen dieser Wissensbeschränkung tun die Menschen gut daran, die Ordnung so zu gestalten, dass jeder nach bestem Wissen seine Fertigkeiten und Kenntnisse zu seinem Wohle und zum Wohle aller einbringen kann. Das dezentral vorhandene Wissen garantiert das Fortkommen einer Gesellschaft am besten. Karl Popper bringt dies auf den Punkt:

«Wir können wieder zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um, so gut wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit.»7

Der Mechanismus, der das dezentral vorhandene Wissen bestmöglich zum Vorschein bringt, ist der Wettbewerb zwischen den Menschen und zwischen Organisationen wie den Unternehmen oder den staatlichen Gebietskörperschaften. Der Wettbewerb fungiert als Entdeckungsverfahren der bestmöglichen Lösungen, die nicht a priori bekannt sein können.

Die für eine freiheitliche Regelordnung notwendige gesellschaftliche Offenheit einer Nutzung dezentralen Wissens legt es nahe, eine dezentralisierte staatliche Organisation vorzusehen. Gebietskörperschaften suchen im Wettbewerb miteinander nach den besten staatlichen Lösungen für öffentliche Angelegenheiten. Wie im privatwirtschaftlichen Bereich gilt ebenso für den staatlichen Bereich, dass dies nur im Rahmen einer Wettbewerbsordnung geschehen kann, die weitgehende Offenheit und Bestreitbarkeit von Positionen sicherstellt.

Freiheit lebt durch Toleranz: Ich habe eine Idee, eine Lösung, aber ich bin offen gegenüber neuen Vorschlägen, die besser sein können als meine. Lernbereitschaft gegenüber anderen Menschen und anderen Lösungen für gemeinsame Anliegen folgt zwingend aus der Erkenntnis der Wissensbeschränkung. Sie erlaubt zudem, das menschliche Zusammenleben konfliktfreier zu gestalten. In einer offenen Gesellschaft wird die Verallgemeinerbarkeit der eigenen Interessen hinterfragt. Dies bedeutet allerdings keine Beliebigkeit und Gleichgültigkeit, sondern gerade die Möglichkeit, an der Durchsetzung der eigenen Interessen festzuhalten. Lediglich die Offenheit für andere Ideen, die Fähigkeit, eigene Vorstellungen zu revidieren, sind für die Funktionsweise einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung unerlässlich.

3. Ordnung der Freiheit und Wirtschaftsordnung

Die Ordnung der Freiheit ist demokratisch ausgestaltet, weil die friedliche Übergabe von Macht nur so garantiert werden kann. Der Zwang für die Regierung und die Legislative, sich regelmässig zur Wiederwahl zu stellen, sichert unter rechtsstaatlichen Bedingungen eine Beschränkung der politischen Macht. Zu diesen Bedingungen gehört ein weitgehender Wettbewerb zwischen unterschiedlichen politischen Positionen in einem transparenten Verfahren. Der ordoliberale Jurist Franz Böhm bezeichnete den Wettbewerb als das «genialste Entmachtungsinstrument der Ge­schichte».

Dieser politische Wettbewerb um Wählerstimmen, der zu unterscheiden ist von einem Kauf von Wählerstimmen durch illusionäre politische Versprechungen, wird daher ergänzt durch den Wettbewerb zwischen staatlichen Institutionen. Die Gewaltenteilung erlaubt es, Machtkonzentration abzuschwächen. Es sind die Checks and Balances zwischen Exekutive, Legislative und Judikative im Sinne einer horizontalen Gewaltenteilung und zwischen verschiedenen gebietskörperschaftlichen Ebenen im Sinne einer vertikalen Gewaltenteilung, die eine privilegienfreie Ordnung erlauben sollen. Einer unabhängigen Gerichtsbarkeit kommt dabei eine wichtige Rolle zu, weil sie der Herrschaft des Rechts besonderen Ausdruck verleiht.

Die freiheitliche Grundordnung konstituiert sich zudem über eine Wirtschaft, die durch private Verfügungsrechte und Vertragsfreiheit gekennzeichnet ist und damit wirtschaftliche Freiheit garantiert. In gleicher Weise wie im staatlichen Bereich muss der Wettbewerb zwischen Leistungsanbietern gewährleistet sein. Walter Eucken fasst dies in seinen Grundsätzen der Wirtschaftspolitik folgendermassen zusammen:

«Der Wirtschaftspolitik des Laisser-faire lag ein grosser Gedanke zugrunde. Freiheit soll gegeben werden, damit sich die natürliche, gottgewollte Ordnung entwickelt. […] Aber die faktische Entwicklung zeigte, […] dass die Gewährung von Freiheit eine Gefahr für die Freiheit werden kann, wenn sie die Bildung privater Macht ermöglicht […].

Das Recht der Vertragsfreiheit durfte auch dazu benutzt werden, um Konkurrenz zu beseitigen und um – durch Sperren, Boykott usw. – die Freiheit anderer zu beschränken. Das Prinzip der Vertragsfreiheit geriet in offenen Konflikt mit dem Prinzip des Wettbewerbs. … Nun wurde die Vertragsfreiheit selber dazu benutzt, um einen Zustand herzustellen, in dem sie faktisch ausgeschaltet war. […] Das hier liegende Machtproblem wurde […] nicht gesehen.»8

Eine Marktwirtschaft benötigt daher einen starken Staat, der frei ist vom Einfluss der Interessenten, der sich nicht durch die Gewährung von Privilegien, d.h. durch Protektionen und Subventionen, in das Wirtschaftsgeschehen einmischt. Daneben gestellt ist eine gewisse soziale Absicherung als notwendiger Zwang, um jene aufzufangen, die weniger glücklich oder erfolgreich sind – dies ist ein wesentlicher Bestandteil einer freiheitlichen Ordnung, weil Unglück und Scheitern jeden treffen können.

Eucken entwickelt auf Basis dieser Überlegungen seine kon­stituierenden Prinzipien der Wirtschaftspolitik. Ausgehend von einem funktionsfähigen Preissystem und echter Konkurrenz sollte eine vernünftige Wirtschaftsordnung durch offene Märkte, Vertragsfreiheit, Privateigentum, die Korrespondenz von Haftung und Risiko und die Konstanz der Wirtschaftspolitik gekennzeichnet sein. Besonders bedeutsam für eine vernünftige Wirtschaftsordnung ist die Währungspolitik. Ohne eine funktionierende Geldordnung kann die Marktwirtschaft ihre wesentlichen Funktio­nen einer effizienten Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen nicht erfüllen. Insbesondere intertemporale Entscheidungen und Vermögensdispositionen sind erheblich verzerrt, wenn Geldwertstabilität nicht gesichert ist.

Die Steuerungsideale einer solchen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sind die Bürgersouveränität im politischen Bereich und die Konsumentensouveränität im wirtschaftlichen Bereich. Die Bürgerinteressen stellen die einzige Legitimationsquelle für Entscheidungen in der politischen Handlungsarena dar. Analog zu dieser Herangehensweise liefert das Ideal der Konsumentensouveränität das Kriterium, mit dem existierende Wirtschaftsordnungen daraufhin untersucht werden können, inwiefern sie den Interessen der Individuen als Konsumenten folgen. Mit diesem Konzept ist die Suche nach Regeln verbunden, die gewährleisten, dass der Wirtschaftsprozess an den Konsumentenwünschen ausgerichtet ist. Eine dem Ideal der Konsumentensouveränität folgende Wirtschaftsverfassung zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr den Konsumenteninteressen gegenüber denen der Produzenten Priorität zukommt – die Konsumenten (also alle) in letzter Instanz den Wirtschaftsprozess steuern. Eine solche Gesellschaftsordnung verheisst Vielfalt in und Wohlstand für alle Bereiche menschlichen Seins. Und sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich Neues immer wieder auf ungekannte Weise entwickeln kann.

4. Bedrohungen der Freiheit in der heutigen Zeit

So weit, so gut. Doch ist Freiheit im beschriebenen Sinne fortwährend bedroht. Wie also steht es tatsächlich um sie?

Eine der grössten Bedrohungen für die Freiheit entsteht aufgrund der Massnahmen im Bereich der öffentlichen Sicherheit. Nach dem 11. September 2001 sind weitreichende Beschränkungen der Freiheit in Kraft getreten, die den Missbrauch durch staatliche Instanzen ermöglichen. Sie reichen von Guantánamo über den Zwang zur Preisgabe umfangreicher privater Informationen bis zu den intensivierten Kontrollen an den staatlichen Aussengrenzen. Die Freiheitsordnung, die sich verteidigt, läuft Gefahr, die Freiheit zu stark zu beschneiden. Die Massnahmen, die eine Gesellschaft ergreift, um sich vor Übergriffen zu schützen, müssen daher ständig hinterfragt werden und rechtsstaatlich rückgebunden sein.

Täglich wird die Freiheit durch den Zwang zur politischen Korrektheit bedroht. Die Schere im Kopf, die durch übermässigen Gebrauch der gesellschaftsopportunen Selbstbeschränkung entsteht, überschreitet die feine Trennlinie zwischen Toleranz und Selbstbestimmung. Es ist für die individuelle Freiheit unerlässlich, sich den Zwängen der Konformität zu entziehen, Unkonventionelles zu denken und auszudrücken, ohne dafür sanktioniert zu werden.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007 ff. hat gezeigt, dass ein Auseinanderfallen von Haftung und Risiko ebenfalls zu einer Bedrohung der Freiheitsrechte führt. Finanzinstitute, die zu gross oder zu sehr im Finanzsystem vernetzt sind, als dass man sie bankrott gehen lassen könnte, haben eine solche Schieflage des Finanzsystems hervorgerufen, dass sich der Staat genötigt sieht, als Retter der letzten Instanz einzuspringen und sie herauszuhauen. Die Dispositionsfreiheit der Steuerzahler, die mit ihren finanziellen Mitteln einspringen, wird dadurch erheblich eingeschränkt. Hinzu kommt, dass solche Finanzinstitute sich ihres Status bewusst sind und Anreize haben, in ruhigeren Zeiten erneut übermässige Risiken einzugehen. Der Steuerzahler bleibt dadurch in einer unerwünschten Haftung. Dieses Problem lässt sich bewältigen, wenn Banken und Versicherungen genügend Eigenkapital vorhalten müssen, um eine solche Schieflage durchzustehen. Zudem sollten internationale Regeln zur Insolvenz von Finanzinstituten vereinbart werden, die eine Abwicklung zu grosser oder zu eng vernetzter Institute mit möglichst wenig Schaden für die Allgemeinheit erlauben.

Bedrohungen der Freiheit entstehen nicht zuletzt durch die Reaktionen auf solche wirtschaftlichen Krisenphänomene. Wirtschaftliche Freiheit gerät in Misskredit, die Gier von Menschen wird als ihr vornehmliches Merkmal betrachtet. Sie zu bändigen wird zum Ziel der Politik. Im Ergebnis resultieren weitreichende Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Private Verfügungsrechte werden ausser Kraft gesetzt. Beispiele dafür sind die Diskussionen um die richtigen Löhne und Gehälter oder der Ruf nach einer Verstaatlichung des Bankensystems. Die privat autonome Lohn- und Gehaltsfindung wird derzeit von unten durch Mindestlöhne und von oben durch den Ruf nach Beschränkungen der Managergehälter ausser Kraft zu setzen versucht. Haftung und Risiko im Finanzbereich zusammenzubringen, meinen manche nur durch die Verstaatlichung des Bankensystems erreichen zu können, obwohl gerade die deutschen Erfahrungen mit der Rolle der staatlichen Landesbanken dagegen sprechen, dass durch den Staat als Banker irgendetwas zum Besseren gewendet wird.

Aber auch der Staat gebärdet sich zunehmend als Instanz, die too big to fail ist. Die Exekutiven haben sich mit tatkräftiger Unterstützung der Legislative ungeachtet ihrer parteipolitischen Couleur und über Jahrzehnte verschuldet, um wohlfahrtsstaatliche Versprechungen zu nähren, die sich nun als unhaltbar herausstellen. Politiker haben sich in modernen Demokratien darauf kapriziert, Stimmen durch finanzielle Zuwendungen zu ergattern. Es wäre hier Aufgabe eines starken Staates, einen Riegel vorzuschieben, indem er sich beispielsweise eine automatische Schuldenbremse auferlegt.

Die internationale politische Koordinierung hält aufgrund ihrer zunehmenden exekutivischen Orientierung ebenfalls Bedrohungen für die Freiheit bereit. Immer häufiger lässt sich beobachten, dass sich Regierungen international in zuweilen mit Mühe getroffenen Kompromissen staatsvertraglich binden und vor den eigenen Parlamenten und Wählern den Anspruch vertreten, solche Vereinbarungen dürften nicht mehr in Frage gestellt werden. Wenn Regierungen sich der demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle durch die Entscheidungen in internationalen Gremien zu entziehen vermögen, wird die freiheitliche Gesellschaftsordnung allmählich ausgehöhlt. Die Checks and Balances verschieben sich zugunsten der Exekutive in dem Masse, in dem diese sich mit dem Verweis auf internationale Gremien in der nationalen Politik durchsetzt. Die Legislative und die Gerichtsbarkeit, letztlich vor allem der Stimmbürger und Wähler, tragen die Lasten.

Die heutige Situation in der Europäischen Union lässt sich als Beleg dafür heranziehen. In der Tat binden die Staaten der Eurozone ihre Steuerzahler mit erheblichen Haftungsversprechen. Tritt der Haftungsfall ein, so müssen die betroffenen Steuerzahler in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Finnland und Luxemburg erhebliche Einschränkungen ihrer Disposi­tionsmöglichkeiten hinnehmen. Die hoch überschuldeten Länder in der Eurozone – Griechenland, Irland und Portugal – erhalten Kredite aus den neugeschaffenen Liquiditätsmechanismen (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität EFSF und Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM) und verpflichten sich im Gegenzug, Auflagen zu erfüllen, die unangenehme Konsolidierungen der öffentlichen Haushalte und Strukturreformen der Arbeits- und Produktmärkte erzwingen. Auch Nichtprogrammländer wie Italien und Spanien gehen solche Verpflichtungen ein, um gar nicht erst in die Lage zu kommen, Liquiditätshilfen in Anspruch zu nehmen.

Zwischen der mit dem Argument der Alternativlosigkeit erzwungenen Haftung in stabilen Ländern und jener in Ländern, die sich zu Anpassungsprogrammen verpflichten, besteht ein kleiner, aber feiner Unterschied. Während die Steuerzahler in stabilen Ländern potentiell für etwas in Haftung genommen werden, das ausserhalb ihres Einflussbereichs und desjenigen ihrer Regierungen liegt, treten die Arbeitnehmer, Unternehmen und Steuerzahler in den übermässig verschuldeten Ländern für die hohe Verschuldung ihrer Staaten ein, die das Ergebnis der in der Vergangenheit in völliger politischer Autonomie getroffenen Entscheidungen über öffentliche Einnahmen und Ausgaben ist. Sie übernehmen bloss die Anpassungslasten, die sich aus den falschen, von ihnen selbst oder von ihren Eltern und Grosseltern getroffenen Entscheidungen ergeben.

Unterwirft sich ein Land einem Anpassungsprogramm im Gegenzug für den Erhalt eines Kredits, so tut es dies in einer autonomen vertraglichen Entscheidung. Dieser Vertragsabschluss kann zuhause politisch in Frage gestellt werden. Der Vertrag muss nicht ratifiziert werden. Dann würde abzuwarten sein, wie sich das betroffene Land an den Finanzmärkten refinanziert und ob es seine Rechnungen weiter bezahlen kann. Jedes Land in der Eurozone behält dabei weitgehende finanzpolitische Autonomie. Es unterwirft sich keinem Diktat. Insofern geht die Kritik an Konsolidierungsauflagen und Auflagen für Strukturreformen fehl. Durch Anpassungsprogramme werden Freiheit und Demokratie in den betroffenen Ländern nicht in Frage gestellt. Vielmehr zeigt sich, wie sehr die Schuldenpolitik der Vergangenheit heute die Handlungsfreiheit der Staaten einschränkt.

Kritischer sind hingegen Vorstellungen, weitreichende haushaltspolitische Befugnisse auf der europäischen Ebene einzurichten, wie etwa einen europäischen Finanzminister, der Durchgriffsrechte auf die nationalen Haushalte hätte. In diesem Fall müsste Autonomie in einem Kernbereich demokratischer Selbstbestimmung, nämlich dem Haushaltsrecht, abgegeben werden. Das deutsche Bundesverfassungsgericht zieht solchen Vorhaben glücklicherweise deutliche verfassungsrechtliche Grenzen.

Die Freiheit steht im Gegenwind, habe ich am Anfang geschrieben. Sie tut dies zu Unrecht. Wollen wir unsere liberalen Demokratien für unsere Kinder und Kindeskinder erhalten, brauchen wir mehr richtig verstandene Freiheit – und nicht weniger, wie die Kulturpessimisten wieder einmal fordern. 

 


 

1 Siehe dazu: Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer. München: Kösel, 2012.
2 Siehe dazu: Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty. Oxford: Clarendon Press, 1958.
3 Siehe dazu: Friedrich A. von Hayek: The Constitution of Liberty. Chicago: ­University of Chicago Press, 1960.
4 Siehe dazu: Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen: Mohr Siebeck, 1945. 7. Auflage 1992, S. 232.
5 Siehe dazu: Hans Albert: Freiheit und Ordnung. Tübingen: Mohr Siebeck, 1986.
6 Siehe dazu: Friedrich A. von Hayek: The Constitution of Liberty. Chicago: ­University of Chicago Press, 1960.
7 Siehe dazu: Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen: Mohr Siebeck, 1945. 7. Auflage 1992, S. 405.
8 Siehe dazu: Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen: Mohr Siebeck, 1952. S. 53 und 170.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!