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Die bereichernde Idee  der Freiheit
Picture provided by courtesy of Deirdre McCloskey.

Die bereichernde Idee
der Freiheit

In den letzten zwei Jahrhunderten ist die Menschheit dreissigmal wohlhabender geworden. Der Antrieb dafür war ideeller, nicht ökonomischer Natur.

Read the English version here.

Die Bereicherung der Menschheit ist eine junge und gigantische Entwicklung. Sie wurde, so behaupte ich, durch einen anhaltenden ideologischen Wandel in Nordwesteuropa im 18. und 19. Jahrhundert ver­ursacht. Dieser verbreitete sich im Rest der Welt vor allem durch den Liberalismus, diese einzigartige neue Idee der Chancengleichheit, die in diesen Tagen von der Linken und der Rechten, von den Pikettys und Deneens, ganz zu schweigen von den Maduros und Putins, verachtet wird.

In den Jahrtausenden von den Höhlen bis zum Jahr 1800 hat der durchschnittliche Mensch auf der Erde in heutigen Preisen etwa 2 oder 3 US-Dollar pro Tag verdient und ausgegeben, wie jetzt in der Zentralafrikanischen ­Republik. Um 1800 verdiente der Durchschnittsmensch in den reichsten Ländern wie Holland, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten vielleicht 6 Dollar pro Tag, so wie heute in Afghanistan. Das ist immer noch erbärmlich.1 In der Schweiz war es noch schlimmer.

Aber im 19. Jahrhundert, nach einem unsicheren Anfang im 18. Jahrhundert in Grossbritannien, veränderte eine grosse Bereicherung die westeuropäischen Länder und ihre ehemaligen Kolonien. Später breitete sich die Bereicherung natürlich auf immer mehr Teile des Planeten aus – nicht durch die Politik, die meist kontraproduktiv war, sondern durch Ethik und Ideologie. Im Theaterstück «John Bulls andere Insel» (1904) von George Bernard Shaw hatte Irland selber mit 6 Dollar pro Kopf und Tag nicht am damaligen relativen Wohlstand Grossbritanniens teil. Noch 1970 lag es deutlich im Hintertreffen. Dennoch ist Irland heute, nachdem es liberale wirtschaftliche Ideen übernommen hat, das viert- oder fünftreichste Land der Welt. Die Chinesen, von denen man vor nicht allzu langer Zeit glaubte, sie könnten ökonomisch auf keinen grünen Zweig kommen, haben nach 1978 eine liberale Wirtschaftspolitik eingeführt und sind heute um mehr als das Zwanzigfache reicher und verdienen etwa 45 oder 50 Dollar pro Tag und Person. Das ist das Niveau der Brasilianer – was in etwa dem von der Weltbank errechneten globalen Durchschnitt entspricht. Der globale Durchschnitt liegt um den Faktor 20 über den 2 oder 3 Dollar pro Tag, die im Jahr 1800 weltweit verdient wurden. Die Zahlen sind schwindelerregend – und erfreulich. Betrachten Sie die Diagramme und staunen Sie.

Diese Daten lassen die jüngste Besessenheit der Linken von der Ungleichheit innerhalb von Ländern sehr seltsam erscheinen. Wenn man in Frankreich den Reichtum von Leuten wie der «schändlichen» Liliane Bettencourt, der «unmoralischen» Erbin des Kosmetikvermögens von L’Oréal, beschlagnahmen und ihn den Armen des Landes zukommen liesse, könnte man deren Einkommen in einem Jahr verdoppeln. Das ist gut. Aber die Einführung einer erreichbaren liberalen Chancengleichheit erhöht die Einkommen dauerhaft um das Zwanzigfache oder um viel, viel mehr. So ist es in letzter Zeit in Hongkong, Botswana oder Italien und in Frankreich selbst seit der Zeit von «Les Misérables» geschehen.

Mit der wirtschaftlichen Verbesserung kam auch eine soziale und kulturelle Entwicklung zustande. Die Lebenserwartung und die Alphabetisierung sind dramatisch gestiegen, während die Kindersterblichkeit weltweit gesunken ist. Wir haben auch die Sklaverei und die Unterwerfung der Frauen beendet, wir kümmern uns um die fernen Uiguren und um die Tiere um uns herum.

Es besteht kaum eine Chance, dass die grosse Bereicherung jetzt gestoppt wird, es sei denn, wir versuchten es mit aller Kraft – wie es zum Beispiel mit dem europäischen ­Bürgerkrieg 1914–1945 geschah, der bis 1989 nachwirkte. Ein weniger gewaltsamer Weg, die Bereicherung der Welt zu stoppen, besteht darin, eingebildeten Ängsten zum Opfer zu fallen und alle paar Jahre einen neuen «Gegenwind» zu erfinden, der eine dringende Kursänderung des Staatsschiffs erfordert. Der Wirtschaftswissenschafter Robert Gordon verwies beispielsweise 2016 auf einen solchen Gegenwind, um die Ausweitung der dirigistischen Politik zu rechtfertigen.2 Auch der Ökonom Tyler Cowen sorgte sich 2011 und 2013 um den Gegenwind, wenn auch mit weniger Enthusiasmus für eine staatliche Kursänderung.

Weder Gordon noch Cowen erkennen, dass es international – abgesehen von Covid-19 – keine Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums gibt. Die Weltbank rechnet mit einem langfristigen Wachstum des Welteinkommens von etwa 2 Prozent pro Jahr, und zwar auf unbestimmte Zeit. Die Realeinkommen werden sich innerhalb einer langen Generation verdoppeln. Wenn wir es vermeiden können, das Wachstum durch blutige Kriege oder eine panische Politik zu bremsen, dürfte sich in den nächsten fünfzig oder hundert Jahren die grosse Bereicherung fortsetzen, die alle Menschen aus der Armut der Geschichte herausführen kann.

Die Macht der Ideen

Warum ist es passiert? Der Zeitpunkt, der Ort und das Ausmass der Bereicherung setzen möglichen wissenschaftlichen Erklärungen enge Grenzen.

Dennoch neigen Ökonomen und Wirtschaftshistoriker dazu, sich auf die Frage zu konzentrieren, warum das Wachstum von Ort zu Ort ein wenig oder stark variiert, wie in der alten Debatte über das britische gegenüber dem amerikanischen und deutschen Wachstum im späten 19. Jahrhundert oder in der neueren Ökonometrie der Konvergenz oder in der Geschichte der grossen Divergenz des Westens von, sagen wir, einem rückständigen China. Eine solche Wendung ist vergleichbar mit der Behauptung von Atheisten, dass eine Darstellung dessen, was nach dem Urknall geschah, dazu diene, eine theistische Erklärung dafür zu widerlegen, warum es überhaupt zu einem Knall kam. Sie suchen an den falschen Stellen nach der Antwort auf die Frage, warum die Bereicherung überhaupt geschehen ist. Und die Antwort auf diese tiefere Frage ist entscheidend für das Verständnis des einen Grundes, warum Nationen erfolgreich sind, im Gegensatz zu den unzähligen Wegen, die sie gefunden haben, um zu scheitern. Alle glücklichen Familien sind gleich; jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.

Warum ist es dann nach 300 000 Jahren der Stagnation beim Homo sapiens dazu gekommen?

Jede Innovation – ob mechanisch, biologisch, institutionell, wissenschaftlich, künstlerisch oder persönlich – beginnt natürlich mit einer neuen Idee in einem befreiten menschlichen Geist. Dieser Punkt ist offensichtlich. Aber in den Wirtschaftswissenschaften ist er nicht sehr bekannt. Der Akteur in den Wirtschaftsmodellen hat keine Handlungsmacht. Er unterwirft sich lediglich einer Budgetlinie oder einem Gesetz oder einem Brauch oder einer Denkgewohnheit, die seiner bereits bekannten Nutzenfunktion gegenübersteht. Er schafft also nicht, sondern reagiert in der erforderlichen Weise. Das menschliche Handeln, der befreite Wille, ist abwesend. Er ist ein Automat, kein Innovator, nicht einmal ein wählerischer Konsument, der seinen Geschmack erkundet.

Daher wurde das beispiellose Wirtschaftswachstum seit 1800, eine grosse Bereicherung mit einem Anstieg des Realeinkommens pro Person um 3000 Prozent, von den Ökonomen nicht auf «Innovationen» zurückgeführt, wie man es anstelle des irreführenden Wortes «Kapitalismus» nennen könnte. Die Bereicherung wurde auf verschiedene routinemässige und dazwischenliegende, weitgehend materielle Ursachen zurückgeführt – Kapitalinvestitionen, Ausbeutung von Kolonien, Rechtsstaatlichkeit. Einige davon sind notwendig, aber keine reicht aus, um unsere Bereicherung zu erklären. Viele sind uralt. Viele sind trivial. Keine ist stark genug, um die grosse Bereicherung zu erklären.

Die Schaffung neuer Ideen in den Köpfen der Menschen ist also von den Ökonomen lange Zeit ignoriert worden . Die Nichtökonomen, die den ideellen Aufbruch in ein neues Zeitalter verstehen könnten, haben sich derweil an den falschen Erklärungsansätzen festgebissen, wie etwa dem angeblichen Aufkommen des Individualismus oder der Aufklärung.

Das wirtschaftliche Problem mit den nichtideellen Ursachen der Ökonomen wie Investitionen und Institutionen oder Ausbeutung besteht darin, dass sie Ressourcen lediglich zuteilen und darüber hinaus stark abnehmende Erträge oder sogar Nullsummen konstatieren. Sie beruhen auf Routine, sind nicht umwälzend. Sie sind eine Kleinigkeit neben der 3000prozentigen Steigerung des menschlichen Wohlstands.

Und das historische Problem ist, dass die meisten von ihnen und sogar die meisten der ideellen Ursachen der Nichtökonomen sehr, sehr lange bestehen – das alte Rom hatte gute Eigentumsrechte, das alte China hatte lange Kanäle, das frühe moderne Japan erlebte einen langen Frieden, im modernen Russland gibt es ausgeprägtes Profitstreben, das alte Athen hatte manch eine Erleuchtung. Dennoch kam es zu keiner grossen Bereicherung.

Früh wurden die von Adam Smith hervorgehobene Anhäufung von Sachkapital und die Arbeitsteilung als Ursache für die Bereicherung genannt. Dann kamen ideelle Ursachen hinzu, die von Antiökonomen auf der linken oder rechten Seite des politischen Spektrums vorgebracht wurden, wie etwa der Aufstieg des «Kapitalismus», des «besitzergreifenden Individualismus» oder des «säkularisierten Asketentums». Alle wurden in der späteren Forschung zurückgewiesen. Dann war es die angebliche Routinisierung der Innovation, an die Joseph Schumpeter glaubte, entgegen seinem frühen Glauben an die menschliche Kreativität. Dann war es das Humankapital. Dann waren es Institutionen verschiedener Art, von rechtlichen bis hin zu wissenschaftlichen.

Aber sie alle hängen natürlich von Ideen ab, die in den Köpfen der Menschen entstehen – und vor allem von ihren Ideen über Ideen, wie Ethik, Ideologien, politische Philosophien, die die befreite Vorstellungskraft unterstützen. Der Wandel der Ideen in den Köpfen der Menschen scheint eine vielversprechende Hypothese zu sein.

Die ideelle Veränderung wird als Liberalismus bezeichnet. Die Idee einer Nicht-Sklaven-Gesellschaft, so lässt sich zeigen, hat den Schwung und die Neuartigkeit, um die 3000 Prozent zu erklären.

Der Kernpunkt war die Liberalisierung auf der Ebene der Ideen in den Niederlanden und dann in Grossbritannien, die eine Kultur der freien Rede und eine Wirtschaft des Unternehmertums begünstigte. Im nächsten Jahrhundert folgte die tatsächliche Liberalisierung – in Grossbritannien die zivile Emanzipation der Katholiken, die Abschaffung der Sklaverei in Jamaika, die freie Einfuhr von Weizen aus Kansas und der Ukraine und dann ähnliche Liberalisierungsmassnahmen in den USA, Schweden, Italien, Japan, der Schweiz und anderen Ländern.

Der Glaube an den Fortschritt

Adam Smith, Thomas Jefferson und Mary Wollstonecraft hatten in der angelsächsischen Welt die damals bizarre Vorstellung vertreten, dass niemand ein Sklave sein sollte, dass alle Menschen gleich geschaffen seien und frei sprechen, frei wählen und frei kaufen und verkaufen dürfen sollten. Die Chancengleichheit im Liberalismus führte dazu, dass die Ungleichheiten der Hierarchien, die seit jeher lähmend waren, untergraben wurden. Sie machte die Menschen kühn, etwas zu wagen. Wie die Briten in ihrer sportlichen Art sagen, erlaubte der Liberalismus den einfachen Leuten zum ersten Mal, «to have a go», zum Beispiel nach der Französischen Revolution (1789) oder mit der Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten (1865). Und das taten sie auch. Der Liberalismus setzte sich in Nordwesteuropa allmählich durch, und in letzter Zeit sogar im fernen China und Indien, jedenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht. Und die grosse Bereicherung kam.

«Die Chancengleichheit im Liberalismus führte dazu, dass die
Ungleichheiten der Hierarchien untergraben wurden.
Sie machte die Menschen kühn, etwas zu wagen.»

Mit anderen Worten: Sowohl die Ökonomen als auch ihre Feinde müssen die Bedingungen für das Gedeihen der Freiheit und ihrer Früchte in Form von neuen Ideen für die Bereicherung verstehen und erkennen, dass faire Gesetze und lange Eisenbahnstrecken und kreative Wissenschaft und starke Institutionen und eifrige Innovatoren zwar gut sind, aber nicht aus sich selbst heraus entstehen. Sie hängen von der Freiheit und ihren ethischen Begleiterscheinungen ab, und zwar in jedem Fall. Die ethische und ideologische Befreiung hat zu Innovationen geführt, nicht zu einem «Kapitalismus», wie man ihn 1492 n.Chr. in Meso­amerika finden kann.

Um ein mechanisches Bild zu gebrauchen: Das Getriebe der wirtschaftshistorischen Uhr waren natürlich Investition und Institution, notwendig für jede Volkswirtschaft zu jeder Zeit, von den Höhlen von Lascaux bis zu den Höhlen der Wall Street oder auf der Insel von Robinson Crusoe. Aber das liberale Denken war die neue und weitgehend ausreichende Feder, die der alten Schweizer Uhr Bewegung verlieh. Es geschah in Grossbritannien, aber nicht sofort in, sagen wir, Frankreich. Es hätte auch in Japan oder im Osmanischen Reich geschehen können, aber der Zufall der Geschichte wollte es nicht.

 

Lass mich in Ruhe und ich mach dich reich

Die Konsequenz für die Politik ist einfach zu ziehen. Die Welt wird weitgehend von den Ideen in den Köpfen der Menschen geprägt. Die Ukrainer verteidigen sich im Namen der Freiheit, nicht einer Politik der Linken, der Rechten oder der Mitte. Die Förderung einer liebevollen und verantwortungsvollen Freiheit mit ihren mächtigen materiellen und geistigen Folgen sollte unser Hauptziel sein. Zwanghafte, unliberale Massnahmen wie Steuern, Vorschriften, Geld- und Haftstrafen, die von den Politikern so gern eingesetzt werden, sind nicht der richtige Weg. Der liberale Pfad eines ehrlichen und kompetenten, aber beschränkten Staates, in dem es den einfachen Leuten erlaubt ist, sich ohne Behinderung durch andere Leute zu entfalten, hat in vielen Teilen der Welt bereits zu einer erstaunlichen Bereicherung der Ärmsten geführt. Lass mich in Ruhe und ich mache dich reich: Diese Haltung verspricht, in den nächsten Generationen auch dem Rest der Elenden auf der Erde zu ermöglichen, sich zu bereichern.

Der illiberale Weg des Etatismus hingegen führt zu den radikalen Populismen von links und rechts, zu Maduro und Putin. Und selbst sein Mittelweg der Regulierung und Umverteilung führt Erwachsene zurück in die kindliche Abhängigkeit von einem herrischen Staat. Er führt zurück in die Unterordnung, welche die Agrargesellschaften bis 1776 kennzeichnete, und in die entsprechende Armut von Körper, Geist und Seele. Der Liberalismus arbeitete daran, diese Unmündigkeit und Unterordnung zu überwinden.Freiheit funktioniert noch immer.

  1. Die historischen Zahlen im Text sind grobe Schätzungen auf der ­Grundlage der Zahlen von Maddison, die durch spätere Untersuchungen weitgehend bestätigt wurden. Alle aktuellen Zahlen stammen von der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds.

  2. Robert Gordon: The Rise and Fall of American Growth. The U.S. Standard
    of Living Since the Civil War. Princeton: Princeton University Press, 2016.

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