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Dürrenmatts «farbignoranter Rassismus»
Sabine Barben, Melanie Rohner (Hrsg.): Weisssein in der Schweizer Literatur: Facetten und Reflexionen. Zürich: Chronos, 2025.

Dürrenmatts «farbignoranter Rassismus»

Ein Sammelband überträgt das amerikanische Konzept der «whiteness» auf die Schweizer Literatur. Dort ist das importierte Konzept allerdings nur mit viel Fantasie zu finden.

Wer sich Sorgen macht, ob die Schweizer Hochschullandschaft mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet ist, kann sich damit beruhigen, dass diese immerhin eine stattliche Zahl von Dozenten und Forschern für neuere deutsche Literaturwissenschaft hervorbringt und beschäftigt. Sie vertiefen sich in Themen wie die «Entstehungsbedingungen der Matriarchatstheorie Johan Jakob Bachofens» und schreiben Bücher über «Weisssein in der Schweizer Literatur: Facetten und Reflexionen». Ein Sammelband mit diesem Titel ist gerade in Chronos-Verlag erschienen.

Nun ist das Wort «Weisssein» im Deutschen nicht wirklich gebräuchlich; wir reden so wenig von Weisssein wie von Gelbsein oder Schwarzsein. Es handelt sich um ein amerikanisches Konzept, das unter der Bezeichnung «whiteness» seit einigen Jahren zahlreiche akademische Debatten inspiriert und sogar eine eigene Fachrichtung («Critical Whiteness Studies») begründet hat. Es basiert wesentlich auf der Geschichte und ethnischen Vielfalt der USA. Das hindert die Autoren des Sammelbands indes nicht daran, den Begriff in die deutsche Sprache zu importieren und damit Schweizer Literatur zu analysieren.

Das Problem der Literaturwissenschafter ist: In der Schweizer Literatur ist das modische Konzept höchstens in Spuren zu finden. Umso eifriger suchen sie auch noch in Binnenerzählungen in den Büchern zweitrangiger Literaten nach Anflügen von «Weisssein». Und selbst auf einen grossen Namen wie Friedrich Dürrenmatt lässt sich das Konzept mit etwas Fantasie anwenden: Zwar geht er in «Der Verdacht» partout nicht obsessiv auf das Konzept Rasse ein. Kurzerhand wird ihm deshalb «farbignoranter Rassismus» diagnostiziert.

So erstaunt es denn auch nicht, dass die Autoren zum Schluss kommen, «dass Vorstellungen von Weisssein (…) in der Literatur wesentlich zur Konstitution sowohl einer westlichen als auch einer national-schweizerischen Identität beigetragen haben». Wie sich dieser Schluss rechtfertigt, bleibt zwar schleierhaft. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass die meisten Texte so kompliziert geschrieben sind, dass sie nur einem erlauchten Kreis von «Weisssein»-geschulten Literaturwissenschaftern zugänglich sind. (Lukas Leuzinger)

Sabine Barben, Melanie Rohner (Hrsg.): Weisssein in der Schweizer Literatur: Facetten und Reflexionen. Zürich: Chronos, 2025.

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