«Die Hamas ist eine  genozidale Bewegung»
Yehuda Bauer. Bild: Jonas Opperskalski/ Laif.

«Die Hamas ist eine
genozidale Bewegung»

Ohne Antisemitismus ist Israel nicht zu verstehen. Doch während der jüdische Staat noch immer von aussen bedroht wird, zeichnen sich mittlerweile deutlich Gefahren aus seinem Inneren ab.

Yehuda Bauer ist einer der bedeutendsten israelischen Historiker. 1926 als Martin Bauer in Prag geboren, wanderte er mit seiner Familie 1939, am Tag des Einmarsches der Wehrmacht in die Tschechoslowakei, nach Palästina aus. Dort nahm der Heranwachsende den Namen Yehuda an und schloss sich der zionistischen Untergrundbewegung Haganah an. Später studierte er Geschichte und verfasste in den kommenden Jahrzehnten grundlegende Arbeiten zum Holocaust. Bauer lehrte lange an der Hebrew University in Jerusalem und leitete bis zum Jahr 2000 das International Center for Holocaust Studies in der Gedenkstätte Yad Vashem, die er nach wie vor wissenschaftlich berät. Heute lebt er in einem Jerusalemer ­Seniorenheim, in dem das Gespräch auch stattfand, und kommentiert rege das Zeitgeschehen.

 

Herr Bauer, wo steht Israel heute?

Es steht nicht, es liegt am Boden. Wir haben eine rechte, teils fundamentalistische Regierung mit einer Mehrheit im Parlament, in der Knesset, die es ihr ermöglicht, den Einfluss der Judikative zu mindern. Sollte ihr das gelingen, würde es hier eine Art Mischform zwischen Demokratie und Autokratie geben. Das nenne ich «Demotaktur».

 

Worauf würde diese basieren?

Auf einem starken Nationalgefühl unter den israelischen Juden. Die Bedrohung, die vom Konflikt mit den Palästinensern und der Besatzung des Westjordanlandes ausgeht, provoziert eine Reaktion, die teils gewalttätig ist. Eine ­zunehmende Anzahl von Menschen, die mit der aktuellen Politik nicht einverstanden sind, gehen nun aber auf die Strasse. Mütter mit kleinen Kindern, die in solch grosser Anzahl ­demonstrieren, sind etwas, das ich nicht erwartet hätte.

 

Israel ist nun 75 Jahre alt. ­Welche Rolle spielt es heute in der Weltpolitik?

Israel ist ein kleines, aber sehr starkes Land. Es verfügt über ein äusserst schlagkräftiges Militär, das es bis jetzt geschafft hat, sich über alle zivilgesellschaftlichen Konflikte hinwegzusetzen. Historisch gesehen erfüllt Israel die Rolle eines stationären Flugzeugträgers für die Vereinigten Staaten, der nicht eingesetzt werden kann, aber da ist. Wer auch immer die US-Regierung stellt, kann sich nicht leisten, dieses Verhältnis zu gefährden. Erstaunlich ist auch Israels Wirtschaft, denn wir haben eigentlich keine bedeutsamen natürlichen Ressourcen, sondern einzig Hochtechnologie und Intelligenz. Die Gefahr lauert im Inneren.

«Historisch gesehen erfüllt Israel die Rolle eines stationären

Flugzeugträgers für die Vereinigten Staaten.»

Wen meinen Sie?

Die Ultraorthodoxen. Sie werden durch die Arbeit der säkularen, traditionellen oder weniger fanatisch-religiösen Menschen am Leben gehalten. Sie dienen nicht in der Armee, und die Arbeit, der sie nachgehen, ist bestenfalls mittelmässig, was sie auch wissen. Das Ergebnis ist, dass die israelische Politik eine Tendenz zum Fundamentalismus hat – nicht weil die Menschen hier mehrheitlich fundamentalistisch sind, sondern wegen des Einflusses, den Fundamentalisten auf die Regierung haben. Wenn ich das in der Öffentlichkeit sage, mache ich mich nicht sehr beliebt.

 

Aber Ihr Einwand ist doch keine Minderheitenmeinung.
Auch israelische Konservative vertreten diese Position.

Ja, denn Konservatismus bedeutet, dass man das Bestehende, die Sozialstruktur und die Traditionen beibehält.

 

Denken Sie, dass das ultraorthodoxe Segment der Gesellschaft exponentiell wachsen wird?

Das glaube ich nicht. Während der Anteil der Charedim aktuell bei etwa 15 Prozent liegt, ist die Zahl der Vertreter der Ultraorthodoxen in der Knesset in den letzten 30, 40 Jahren nicht gestiegen. Dennoch bewegen sich junge Menschen weg von der Ultraorthodoxie und hin zur konservativen Orthodoxie oder zur liberalen Orthodoxie, bisweilen sogar zum Säkularismus. Die gerade populäre Vorstellung, dass wir von den Ultraorthodoxen überschwemmt würden, ist meiner Meinung nach nicht wahr.

«Die gerade populäre Vorstellung, dass wir von den Ultraorthodoxen überschwemmt würden, ist meiner Meinung nach nicht wahr.»

Sie haben sich Ihr ganzes Leben lang mit Antisemitismus beschäftigt. Hat sich Ihr Verständnis des Phänomens verändert?

Allerdings. Zuallererst hatte ich mich gefragt: Woher kommt es? Ich meine, warum hasst man…