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Der Strohhalm, der die Welt zum Schreien bringt

Der Strohhalm, der die Welt zum Schreien bringt

Francesco Micieli: Der Auftrag.

 

Es sind beiläufige Aufzeichnungen, Notate vermeintlicher Alltagsbanalitäten, denen Francesco Micieli in seinen neuen Gedichten auf ungeahnte Weise Bedeutung verleiht. Wir treffen auf Tiere, die einem Camper des Nachts die Nahrung stehlen, erfahren die Anonymität eines Gasthauszimmers oder bemerken «auf der Mauer ein(en) ­Becher / des grössten Fleischfressers der Welt». In dessen Plastikstrohhalm deutet sich «der Schrei der Tiere / Der Strich, den das Flugzeug / durch den Himmel zieht» an, der aussieht «wie der Strich unter einer Rechnung». Was das lyrische Ich in einem einfachen Gegenstand erkennt, ist mehr als blosse Materialität: Die Assoziationskette reicht zurück zu dessen Herstellung und den damit verbundenen Folgen für die ­Umwelt. Um Kunststoff zu produzieren, bedarf es Ressourcenverbrauchs. Die Natur, repräsentiert in den klagenden Tieren und dem zerfurchten Horizont, wird zum elegischen Opfer.

Glücklicherweise verharren die Poeme des 1956 in Kalabrien geborenen und seit seiner Kindheit in der Schweiz lebenden Schriftstellers jedoch nicht in der mitunter tristen Realität. Mal sind sie von Geistern bevölkert, mal scheint das jenseitige Leben einer verstorbenen Heuschrecke auf. In derlei Überwindungen der Wirklichkeit schimmert eine geradezu metaphysische Dimension der Gedichte durch. Offensicht­lich wird dann der ihnen eingelagerte Mög­lichkeitsüberschuss, die Sprache, welche alle Gesetze und Konventionen hinter sich lässt.

Bedauerlicherweise vermag Micieli diese Qualität nicht konstant durchzuhalten. Zu häufig gleitet er in Deskription ab. Welcher Mehrwert etwa hinter der Aufzeichnung ­einer Mahlzeit im Café oder der Wiedergabe von Haarwuchswerbung liegt, erschliesst sich nicht. Auch abgehalfterte ­Bilder wie dasjenige vom golden glänzenden Hahn, der einem «Leuchtturm» gleichkomme, nehmen der Kompilation empfindlich ihre Originalität. Wozu darf man also raten? Am besten hält man sich an die gelungenen, verspielten, ja zwischen den Sphären ­changierenden und bisweilen politischen Gedichte. So kann man Genuss ­erleben und Lektüre als erfreuliche Entgrenzung erfahren.


Francesco Micieli: Der Auftrag. Biel: Verlag Die Brotsuppe, 2021.

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