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Fülle und Vergänglichkeit ordnen
Björn Hayer, zvg.

Fülle und Vergänglichkeit ordnen

Herbstlyrik lehrt uns den Verfall, aber auch die Schönheit des Lebens. Ein Streifzug entlang melancholischer und erbaulicher Abgesänge.

 

Nirgendwo sonst wird so schwelgerisch und hingebungsvoll vom nahenden Verfall geschrieben wie in der Herbstlyrik. Noch einmal bäumt sich die Natur auf, noch einmal erstrahlen die Farben der Blätter in all ihrer Pracht, bevor der Lauf der Zeit die Landschaft bald schon wieder mit einem Schleier der Ruhe bedeckt. Wollen wir wirkliche Schönheit erleben, führt uns die Lektüre zweifelsohne in die poetischen Gefilde des Spätjahres. Es ist gerade das Bewusstsein der Vergänglichkeit, das ganz im dialektischen Sinne noch einmal unser Sensorium für das Vollkommene schärft. So zu erleben etwa in dem kanonischen Gedicht «Komm in den totgesagten park und schau» aus der Feder von Stefan George, dem Fin-de-Siècle-Dichter schlechthin. Die Wege zwischen Bäumen und Büschen beschreitend, lädt uns das lyrische Ich dazu ein, die Eindrücke des Moments festzuhalten. Ein impressionistisches Gemälde bildet sich vor dem inneren Auge heraus: «Dort nimm das tiefe gelb – das weiche grau / Von birken und von buchs – der wind ist lau – / Die späten rosen welkten noch nicht ganz – / Erlese küsse sie und flicht den kranz –.» Doch auch diese noch im für Vollendung stehenden Kreismotiv gebannte Anmut findet ihr Ende: «Vergiss auch diese letzten astern nicht – / Den purpur um die ranken wilder reben – / Und auch was übrig blieb von grünem leben / Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.»

Während in der Realität der Herbst alles Blühen in Welke überführt, gewährt das Gedicht Ewigkeit. Es verschriftlicht den flüchtigen Moment, und zwar in all seiner Expressivität und Fülle. Dem Poem ist damit die Möglichkeit eingeschrieben, den natürlichen Zerfall aufzuheben. Es fusst auf der gebundenen Sprache, packt alles, was vom Wind der Zeit verweht zu werden droht, in eine Struktur aus Rhythmus, Reim und metaphorischer Vernetzung. Grammatik und Syntax offenbaren sich als Gerüst, das Ordnung in eine chaotische Welt zu implementieren vermag.

Auch Friedrich Hölderlin, dieser geniale Grenzgänger zwischen Klassik und Romantik, machte sich dieses Potenzial der Sprache in seinem Text «Herbst» zu eigen. Wie auch der Ästhetizist George umschreibt er mit reichlich Pathos den «frohen Glanz» und das «geschmückt[e] Erdenrund» vor dem bald schon aufkommenden Winter. Dass es ihm allerdings um noch mehr als die reine Feier der Landschaft geht, verdeutlichen sowohl der erste als auch die letzten beiden Verse. «Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen», erfahren wir zu Beginn. Hinter dem Reichtum an Gelb und Rot und Rosa offenbart sich demnach eine tiefere, metaphysische Macht. Sie umgibt alles und verleiht dem Dasein seine Bedeutung, denn «Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet / Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet». Während die Wirklichkeit seiner Zeit – zwischen dem Scheitern der Französischen Revolution, fehlender nationaler Einheit Deutschlands und sich beharrlich behauptender anachronistischer Monarchien – von Orientierungskrisen und bisweilen Hoffnungslosigkeit geprägt war, bot die Lyrik Hölderlin eine Chance und diente ihm als Projektionsfläche für eine bessere Welt. Jenseits aller Säkularisierungstendenzen in der frühen Moderne konnte der Autor im Gedicht eben noch den Odem des Göttlichen vernehmen.

Herbstlyrik als Ausdruck puren Lebens

Und so erweist sich gerade das Herbstpoem stets als Spiegel menschlicher Befindlichkeit: Es animiert zum Nachsinnen über den Sinn der Existenz, über das Altern und den Umgang mit der Endlichkeit. In Rainer Maria Rilkes «Herbsttag» etwa stellt sich Besinnlichkeit ein. So heisst es im abschliessenden Quintett der Miniatur: «Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben / und wird in den Alleen hin und her / unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.» In diesem und anderen Werken entfaltet Lyrik all ihre emotionale Wirkung. Sie ist dazu imstande, uns unmittelbar zu berühren.

Viele erfahren kaum noch solcherlei Begegnungen mit Gedichten, weil mit ihnen früh das Klischee von der allzu komplexen, schweren Kost verknüpft wird. Nicht nur im Bekanntenkreis trifft man auf eine derartige Ablehnung, selbst in literaturwissenschaftlichen Seminaren ist sie keine Seltenheit. Nur woher rührt das Unbehagen? Offensichtlich liegen bei vielen bis weit in die Schulzeit zurückgehende Traumata vor. Was die meisten mit Eichendorff, Goethe oder Brecht verbinden, lässt sich wohl am ehesten mit dem schrecklichen Begriff der «Königsinterpretationen» fassen. Dieser suggeriert: Im Falle des Gedichts geht es erstens nur um Deutung und zweites kann es davon überhaupt nur eine richtige geben. Ganz zu schweigen davon, dass viele Stunden Deutschunterrichts der Eindruck vermittelt wird, Dichtung bestünde nur aus verstaubten Klassikern.

«Der Herbst trägt den Verlust in sich, der in

Worten so leicht wird, dass ihn Winde

in eine uns entgegenschimmernde Ferne tragen.»

Dem ist nicht so, und erst recht nicht im Falle der sich durch alle Epochen ziehenden Herbstlyrik. Obgleich sie im Zeichen des Lamentos steht, besingt sie nichts anderes als das pure Leben. Ihr entspringt die reinste Sehnsucht. Selbst in der «breiten Pfütze», genährt vom «müde[n] Regen», wie es in Christine Lavants «Herbst» heisst, spiegelt sich die «unerfüllte Bitte / nach einem Sommer, der längst entschwand…» Noch klagender klingt der Ruf nach Fülle und Vitalität bei der im Zwangsarbeitslager umgekommenen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger: «Die Sehnsucht zieht / Und – geigt. // Der Herbst ist da / Und weint mich an / Mit Augen, die / Erloschen sind. // Ich weiss, er sah: / Das Glück verrann, / Zwang mich ins Knie / Und – ging.» Was mit dem personifizierten Herbst kam, sind Leerstellen, die insbesondere die Gedankenstriche markieren: Räume der Erinnerung, Ereignisse, die blasser werden mit jedem vergehenden Tag.

Schwelgerische Sprachmalerei

Lässt sich Dichtung zum Spätjahr vor allem als Ausdruck des Allzumenschlichen, als Äusserung von Innerlichkeit und Träumen verstehen? Gewiss knüpft sich an das Genre ein gewisser Hang zur Introspektion und vielleicht auch zur Sentimentalität. Nachdem Herbstlyrik bis ins ausgehende 20. Jahrhundert hinein immer wieder zur Reflexion des humanen Standpunktes gedient hat, scheint sich indessen ein Wendepunkt abzuzeichnen. Allen voran der Klimawandel und die Umweltzerstörung rücken ins Zentrum der Gegenwartsdichtung und verändern nachhaltig den Blick der Autorinnen und Autoren auf die Ökosphäre. Statt anthropozentrischer Selbstbespiegelung – um eine zynische Zuspitzung zu gebrauchen – herrscht nun ein teils ins Dystopische ausschlagendes Nachdenken über die Gefährdung von Flora und Fauna durch Gesellschaft, Wirtschaft und Politik vor. Herbst scheint nun keine Jahreszeit mehr zu sein, sondern eine Art endzeitlicher Grundzustand. Zahlreiche Texte in der wegweisenden, von Anja Bayer und Daniela Seel herausgegebenen Anthologie «all dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän» geben von der globalen Verfinsterung der Natur kund, die letztlich auf eine hemmungslose Fortschrittshybris zurückzuführen sein soll.

Dabei wäre es zu einfach, in der im Jahr 2000 von den Meteorologen Crutzen und Stoermer ausgerufenen, neuen Erdzeitepoche des Menschen, der nunmehr als geophysikalische Macht massgeblich die Entwicklung des Planeten bestimmt, von einer schlichten Opposition zwischen Zivilisation und Wildnis auszugehen. Vielmehr wird erkennbar, dass sich beide vermeintlich getrennten Hemisphären zunehmend durchdringen: Wir können Gene modifizieren und bald vielleicht schon über das Wetter regieren. Wir entscheiden, wann etwas wächst, geerntet wird oder sterben soll. Dieses Ineinander von Ursprung und menschlichem Einfluss ist ein wichtiges Thema in Marion Poschmanns Band «Nimbus». Eines der darin abgedruckten Gedichte führt uns ans Meer: «Algen am Strand» rufen in einem lyrischen Ich Erinnerungen an körperliche Nähe wach und entpuppen sich als «Strömung / geisterhafter Geschmeidigkeit». Das «Kunststoffwunder» trägt derweil dazu bei, dass manche sich «enger verbunden mit ihrer Umgebung [sehen], als hätte / Verseifung stattgefunden, Vulkanisierung, Bestrahlung». Hinzu kommt, dass Wänden Felle wachsen und «Waldmuster» und «Musterwald» schon unversehens eins geworden sind.

Sicherlich dürfte man derartige Gedichte, die letztlich von der Unschärfe subjektiver Wahrnehmung erzählen, nicht als Inbegriff einer klassischen Herbstlyrik sehen. Aber wo wird man heute schon noch schwelgerischer Sprachmalereien zur alljährlichen Vanitas gewahr? Vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern unserer Tage erscheinen sie ohne Zweifel als zu unpolitisch, als zu naiv, gar epigonal.

Zerfallendes macht Platz für Neues

Zu behaupten, die Monate von September bis November seien in zeitgenössischen Werken allein zu Chiffren für Gesellschaftskritik und Untergangsszenarien verkommen, wäre allerdings genauso unzureichend. Als gutes Beispiel dafür lässt sich Sepp Malls Poem «September» nennen. Hierin vernimmt man «gellende[n] Schmerzens- / laut / wenn das Sägeblatt sich ins Holz / frisst», was bedeutet: «So läutet man den Herbst hier ein (hier) / mit einem Tötungsritual.» Mag nun erneut der Mensch die Vergänglichkeit der Natur sinnbildlich einleiten, so läuft das Setting nicht zwangsläufig auf eine depressiv stimmende Pointe über grenzenlosen technologischen Eifer hinaus. Denn das lyrische Ich weiss durchaus Rat: «Denk es dir als Trost / dass / Sägemehl auch nur ein Aggregat- / zustand sei / wie Asche und Rauch.» Wie zerteilte Baumstümpfe durchtrennt der Lyriker seine Verse und vermittelt am Schluss doch ein wenig Zuversicht. Was der Mensch treibt, so die Botschaft, währt nie ewig. Am Ende geht alles in die Ökosphäre zurück, möglicherweise als Rest von Verbrennungen. Aber auch der kann ja wieder Teil eines Kreislaufs werden. Kurzum, Poesie birgt das Potenzial zur Verwandlung und Umdeutung. Aus Zerfall kann Neues hervorgehen. Der Herbst trägt den Verlust in sich, der in Worten so leicht wird, dass ihn Winde in eine uns entgegenschimmernde Ferne tragen. Seine Melancholie gleicht eben immer einem Anfang, selbst und gerade in Zeiten ökologischer Krisenerfahrungen. Erst sie schürt ein kaum zu verachtendes Bedürfnis, das in uns allen insbesondere an Abenden vor dem bald schon hereinbrechenden Winter schlummert: jenes nach Verzauberung.

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