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Die finstere Psychologie  sozialer Netzwerke
Jonathan Haidt, fotografiert von Jayne Riew.

Die finstere Psychologie
sozialer Netzwerke

Warum fühlt es sich gerade so an,als geriete die Diskussionskultur ausser Kontrolle?

 

Angenommen, die biblische Schöpfungsgeschichte wäre wahr und Gott hätte die Welt in sechs Tagen geschaffen, samt allen physikalischen Gesetzen und Konstanten, die überall im Universum gelten. Was nun, wenn Gott, so um das frühe 21. Jahrhundert herum, sich zu langweilen anfinge und zum Spass die Gravitationskonstante verdoppelte? Wie würde es sich anfühlen, eine solche Veränderung zu erleben? Wir würden alle zu Boden gehen, Gebäude würden einstürzen, Vögel vom Himmel fallen, die Erde näher an die Sonne rücken und eine neue, weit heissere Umlaufbahn einnehmen.

Transponieren wir dieses Gedankenexperiment nun von der physikalischen in die soziale und politische Welt: Die amerikanische Verfassung verdankt sich einem Akt von Intelligent Design. Die Gründerväter der USA wussten, dass sich die meisten bisherigen Demokratien als instabil und kurzlebig herausgestellt hatten. Doch waren sie ausgezeichnete Psychologen und bemühten sich daher, Institutionen und Verfahren so zu gestalten, dass sie kraft der menschlichen Natur den Mächten widerstanden, von denen so viele andere junge Republiken zerrissen worden waren.

James Madison schilderte im Federalist-Artikel Nr. 10 seine Angst vor «Parteienkampf» – womit er starken Parteigeist meinte bzw. Partikularinteressen, die Menschen «mit Feindseligkeit gegeneinander» erfüllen und sie das Gemeinwohl vergessen lassen. Madison glaubte, die unendlichen Weiten der Vereinigten Staaten böten ein gewisses Mass an Schutz gegen das Wüten des Parteienkampfs, da sich Empörung über so grosse Entfernungen nur schwer verbreiten lasse. Er nahm an, sektiererische Anführer könnten wohl «innerhalb einzelner Staaten der Union die Flamme des Aufruhrs (…) entfachen», seien aber unfähig, «eine Feuersbrunst auszulösen, die alle Staaten ergreift». In die Verfassung wurden Mechanismen eingeschrieben, die auf Verlangsamung zielten, auf Abkühlung von Leidenschaften, auf Ermutigung zur Reflexion, zur Abwägung.

Madisons Entwurf hat sich als beständig erwiesen. Doch wie würde sich die amerikanische Demokratie verändern, wenn eines Tages im frühen 21. Jahrhundert eine neue Technologie aufkäme, die – im Verlauf eines Jahrzehnts – mehrere grundlegende Parameter des gesellschaftlichen und politischen Lebens veränderte? Was, wenn diese Technologie die Menge «gegenseitiger Feindschaft» drastisch erhöhte wie auch die Geschwindigkeit, mit der sich Empörung verbreitet? Würden wir dann Zeugen der politischen Entsprechung zu einstürzenden Gebäuden, vom Himmel fallenden Vögeln und einer Annäherung der Erde an die Sonne? Möglicherweise erlebt Amerika gerade eine solche Zeit.

«Womöglich ist aber gar nicht die Vernetztheit selbst das Problem,

sondern die Art und Weise, wie Social Media unsere Kommunikation

in einen öffentlichen Auftritt verwandeln.»

Was Social Media verändert haben

Anfangs war es das Ziel von Facebook, «die Welt offener und vernetzter zu machen» – und in den ersten Jahren von Social Media gingen viele Menschen davon aus, dass ein gewaltiger weltweiter Zuwachs an Vernetzung Demokratie fördern würde. Inzwischen ist der Optimismus weitgehend verflogen und die Liste bekannter oder vermuteter Gefahren, die von Social Media ausgehen, ist angewachsen: Online-Diskussionen über Politik – oft anonym und unter wildfremden Menschen – werden als wütender und unhöflicher erlebt als solche im wirklichen Leben. Netzwerke Gleichgesinnter entwerfen gemeinsam immer extremere Weltbilder. Desinformationskampa­gnen gedeihen. Gewalttätige Ideologien ziehen Jünger an.

Womöglich ist aber gar nicht die Vernetztheit selbst das Pro­blem, sondern die Art und Weise, wie Social Media unsere Kommunikation in einen öffentlichen Auftritt verwandeln. Kommunikation im herkömmlichen Sinne ist eigentlich etwas Gegenseitiges. Man wechselt sich mit dem Reden ab, lacht über des anderen Witze, eröffnet einander Geheimnisse, Vertrautheit entsteht. Was aber, wenn rund um ein solches Duett herum plötzlich Tribünen errichtet werden und sich mit Freunden, Bekannten, Konkurrenten und Fremden füllen, die das Geschehen kommentieren und bewerten? Der Sozialpsychologe Mark Leary prägte das Wort «Soziometer» als Begriff für das innere Messinstrument, das uns sagt, wie gut wir gerade in den Augen anderer dastehen. Es ist nicht Selbstachtung, auf die es uns wirklich ankommt, meint Leary, sondern die Einstufung durch andere als begehrenswerter Partner für Aktivitäten verschiedenster Art. Mit der Zurschaustellung von Likes, Freunden, Followern oder Retweets machen Social Media unseren inneren Soziometer für jedermann sichtbar.

Wer in persönlichen Gesprächen ständig seinem Ärger Luft macht, wird von seinen Freunden bald als ermüdend empfunden. Wenn es aber ein Publikum gibt, kann dieselbe Eigenschaft sich als einträglich erweisen – sich zu empören, wirkt unter Umständen statuserhöhend. In einer Studie ermittelten Forscher um William J. Brady von der New York University die Reichweite einer halben Million Tweets. Dabei zeigte sich, dass auf Twitter jedes moralisch oder emotional aufgeladene Wort die Viralität eines Tweets um 20 Prozent steigerte. In einer anderen Studie von 2017 zeigten Wissenschafter des Pew Research Centers, dass Posts, die «empörten Widerspruch» zum Ausdruck brachten, fast doppelt so viel Reaktionen erzeugten – einschliesslich Likes und Shares – wie andersartige Inhalte auf Facebook.

Die Philosophen Justin Tosi und Brandon Warmke schlagen den nützlichen Begriff «moralische Grosssprecherei» («Moral Grandstanding») vor, um auszudrücken, was passiert, wenn Menschen moralisieren, um ihr öffentliches Ansehen zu vermehren. Wie eine Abfolge von Rednern, die vor ein skeptisches Publikum treten, versucht jeder, seinen Vorgänger zu übertrumpfen, was zu gewissen Mustern führt. Solche Grosssprecher «fabrizieren moralische Vorwürfe, betreiben masslos Shaming, verkünden, dass jeder, der nicht ihrer Meinung ist, offenkundig unrecht hat – oder legen übertriebene Gefühlsausbrüche an den Tag». In diesem Kampf um Bestätigung durch das Publikum sind Wahrheit und Nuancen die ersten Opfer. Moralische Grosssprecher klopfen jedes Wort ihrer Gegner – manchmal sogar ihrer Freunde – daraufhin ab, ob sich damit öffentliche Empörung erregen lässt. Der Kontext wird ausgeblendet, die Absicht des Sprechers ignoriert.

Die Evolution hat im Menschen die Neigung zum Tratschen, Angeben, Manipulieren und Ächten angelegt. Wir lassen uns leicht in diese modernen Gladiatorenkämpfe hineinziehen, obwohl wir wissen, dass sie uns grausam und oberflächlich erscheinen lassen. Wie die Yale-Psychologin Molly Crockett bemerkt, versagen die üblichen Hemmschwellen, die uns daran hindern, Teil eines empörten Mobs zu werden – etwa Auszeiten zum Reflektieren und Abkühlen oder Empathie angesichts eines gedemütigten Mitmenschen –, sobald wir das Gesicht der Person nicht sehen können. Hinzu kommt, dass wir immer wieder aufgefordert werden, die ächtenden Kommentare zu liken.

Mit anderen Worten: Social Media verwandeln viele der politisch engagiertesten Bürger in Madisons Albtraum – Brandstifter, die darum wetteifern, die brisantesten Kommentare abzugeben und Bilder zu posten. Diese verbreiten sich augenblicklich rund um die Welt, während die öffentlichen Soziometer der Brandstifter anzeigen, welche Reichweite sie bereits gewonnen haben.

«Viele Kräfte zerren an Amerikas politischer Mitte.

Doch seit 2013 sind Social Media zu einem mächtigen

Brandbeschleuniger für jeden geworden,

der sich als Feuerteufel versuchen will.»

Upgrade für die Empörungsmaschine

Anfänglich fühlten Social Media sich deutlich anders an als heute. Friendster, Myspace und Facebook starteten allesamt zwischen 2002 und 2004. Mit ihrer Hilfe konnten Nutzer sich mit Freunden verbinden. Sie animierten die Menschen, stark aufgehübschte Versionen ihres Lebens online zu stellen – boten aber noch keine Möglichkeit, virale Empörung auszulösen. Das änderte sich erst mit einer Reihe kleiner Modifikationen, die das Nutzererlebnis verbessern sollten. In deren Folge veränderte sich die Art und Weise, wie Nachrichten und Wut sich in der amerikanischen Gesellschaft verbreiteten. Um Social Media zu korrigieren – und die Gefahr zu mindern, die sie für die Demokratie darstellen –, müssen wir diese Entwicklung verstehen lernen.

Als 2006 Twitter aufkam, war seine hauptsächliche Neuerung die sogenannte Timeline: eine ununterbrochene Abfolge von 140-Zeichen-Updates, die Nutzer auf ihren Handys lesen konnten. Die Timeline war eine neue Art, Informationen zu konsumieren – ein endloser Strom von Inhalten, der sich für viele anfühlte, als tränken sie aus einem Feuerwehrschlauch. Im selben Jahr lancierte Facebook eine eigene Version der Timeline unter dem Namen News Feed. 2009 kam der Like-Button hinzu. Jetzt gab es erstmals einen öffentlichen Massstab für die Beliebtheit von Inhalten. Eine weitere bahnbrechende Neuerung war ein Algorithmus, der entschied, welche Inhalte ein Nutzer sah. Die Entscheidung beruhte auf einer Einschätzung darüber, wie wahrscheinlich es war, dass eine Person auf einen bestimmten Post reagieren würde. Diese Berechnung wiederum beruhte auf früheren Like-Klicks des Nutzers. Damit war der Schwall aus dem Feuerwehrschlauch gebändigt und in einen kuratierten Fluss verwandelt.

Die algorithmische Filterung von Inhalten ebnete die Hierarchie der Glaubwürdigkeit ein. Jeder Post jedes Posters konnte sich nun an die Spitze eines Feeds setzen, wenn er nur genug Interaktion erzeugte. «Fake News» sollten später in einem solchen Umfeld fröhlich gedeihen, da ein persönlicher Blogpost fast genauso aussah und sich genauso anfühlte wie eine Story der «New York Times».

Twitter führte 2009 ebenfalls eine entscheidende Änderung ein: den Retweet-Button. Bis dahin mussten Nutzer alte Tweets in ihr Status-Update kopieren – eine kleine Hürde, die ein paar Sekunden Aufmerksamkeit benötigte. Der Retweet-Button ermöglichte sozusagen die reibungslose Verbreitung von Inhalten. Mit einem einzigen Klick konnte nun der Tweet eines anderen an die eigenen Follower weitergereicht werden. Der Retweeter strich ein wenig Ruhm für das Weiterreichen des viralen Inhalts ein. 2012 reagierte Facebook mit seiner eigenen Version des Retweet-Buttons, dem «Teilen»-Button, der auf die am schnellsten wachsende Kundengruppe zielte: Smartphone-Nutzer.

Chris Wetherell war einer der Entwickler des Retweet-Buttons bei Twitter – was er inzwischen bereut, wie er jüngst auf BuzzFeed gestand. Während Wetherell den ersten Twitter-Mobs zusah, die den Button einsetzten, dachte er bei sich: «Genauso gut hätten wir einem vierjährigen Kind eine geladene Waffe geben können.»

Der Gnadenstoss erfolgte 2012 und 2013, als Upworthy und andere Websites begannen, aus den neuen Features Kapital zu schlagen. Sie bereiteten den Weg für die Kunst, Schlagzeilen in Dutzenden Varianten auszuspielen, um diejenige Formulierung zu ermitteln, die die meisten Klicks erhielt. Das war der Anfang jener «Sie werden nicht glauben …»-Artikel und ihresgleichen, mit Bildern kombiniert, die auf maximale Attraktivität optimiert waren. Solche Artikel zielten normalerweise nicht auf Empörung ab (die Gründer von Upworthy waren eher an Erbaulichkeit inter­essiert), doch der Erfolg der Strategie sorgte dafür, dass andere – digitale und herkömmliche – Medien sie übernahmen und ihre Storys ähnlich emotional verpackten. In den nächsten Jahren gediehen grelle, moralisch aufgeladene Schlagzeilen. Luke OʼNeill erklärte das Jahr 2013 in einem Artikel im Magazin «Esquire» zum «Jahr, in dem wir das Internet kaputtgemacht haben». Ein Jahr später begann Russland mit seiner Internet Research Agency, ein Netzwerk aus Fake-Accounts über alle grösseren Social-Media-Plattformen hinweg zu mobilisieren. Dabei machte es sich die neue Empörungsmaschine zunutze, um die Gesellschaft auseinanderzudividieren – und damit russische Interessen zu fördern.

Natürlich ist das Internet für die rasante Zunahme politischer Wut nicht allein verantwortlich. Seit Madisons Zeiten schüren Medien die Glut des Parteigeistes, und Politologen bringen einen Teil der heutigen Empörungskultur mit dem Aufkommen von Kabelfernsehen und Talkradio in den 1980er und ʼ90er Jahren in Verbindung. Viele Kräfte zerren an Amerikas politischer Mitte. Doch seit 2013 sind Social Media zu einem mächtigen Brandbeschleuniger für jeden geworden, der sich als Feuerteufel versuchen will.

«Social Media nötigen Menschen jeden Alters,

ihre Aufmerksamkeit auf den Skandal, Witz

oder Konflikt des Tages zu verengen.»

Der Niedergang der Weisheit

Selbst wenn den Social Media ihre empörungsverstärkende Wirkung ausgetrieben werden könnte, würden sie unsere Demokratie doch weiterhin vor Probleme stellen. Eines dieser Probleme ist die Macht, mit der aktuelle Ideen und Konflikte die Ideen und Lektionen der Vergangenheit verdrängen. Die Augen und Ohren amerikanischer Kinder werden beständig mit Informationen überflutet – einer Mischung aus Ideen, Narrativen, Liedern, Bildern und vielem mehr.

Angenommen, wir könnten drei dieser Ströme einfangen und quantifizieren: neue Informationen (innerhalb des letzten Monats erzeugt), mittelalte Informationen (innerhalb der letzten 10 bis 50 Jahre von Angehörigen der Eltern- und Grosselterngenerationen erzeugt) und alte Informationen (vor mehr als 100 Jahren erzeugt). Als etwa 2012 eine Mehrheit von Amerikanern begann, regelmässig Social Media zu nutzen, vernetzten sie sich miteinander auf eine Art und Weise, die den Konsum neuer Informationen massiv steigerte und den Anteil alter Information verringerte. Welche Folgen könnte diese Verschiebung zeitigen?

1790 schrieb der angloirische Philosoph und Politiker Edmund Burke: «Wir zittern, die Menschen jeden nach seiner einzelnen Vernunft leben und handeln zu lassen, weil wir jedem nur einen kleinen Anteil zutrauen, weil wir glauben, dass er mit dem allgemeinen Kapital der Nation und der Zeiten in Berechnung einen glücklicheren Handel treibt.» Dank Social Media stehen wir am Anfang eines globalen Experiments, das zeigen wird, ob Burke mit seiner Befürchtung recht hat. Social Media nötigen Menschen jeden Alters, ihre Aufmerksamkeit auf den Skandal, Witz oder Konflikt des Tages zu verengen. Doch auf die jüngeren Generationen wirken sie womöglich noch stärker, da junge Menschen weniger Gelegenheit gehabt haben, ältere Ideen und Informationen aufzunehmen, bevor sie sich in den Social-Media-Strom einklinkten.

Amerika durchlebt James Madisons Albtraum

Unsere kulturellen Vorgänger waren im Schnitt wohl kaum klüger als wir. Die Ideen aber, die von ihnen auf uns gekommen sind, haben einen Filterprozess durchlaufen. Die meisten dieser Ideen sind von vielen aufeinanderfolgenden Generationen für wert befunden worden, weitergegeben zu werden. Das heisst nicht, dass sie immer korrekt sind. Vielmehr sind sie auf lange Sicht mit grösserer Wahrscheinlichkeit wertvoller als Ideen, die etwa erst einen Monat alt sind. Angehörige der Generation Z (nach 1995 Geborene) haben zwar nie dagewesenen Zugriff auf alles, was jemals geschrieben und digitalisiert worden ist. Und doch sind sie mit dem über Jahrtausende angehäuften Wissensschatz der Menschheit weniger vertraut als andere Generationen der jüngeren Vergangenheit. Das macht sie anfällig für Ideen, die ihnen Prestige innerhalb ihres unmittelbaren Netzwerkes verschaffen, die aber letztlich Holzwege sind.

So führen einige wenige rechtsextreme Social-Media-Plattformen der verhasstesten Ideologie des 20. Jahrhunderts junge Menschen zu, die nach Sinn und Zugehörigkeit hungern. Diese Menschen sind bereit, dem Nazismus eine zweite Chance zu geben. Hingegen scheinen linksgerichtete Jugendliche die Ideen des Sozialismus oder sogar des Kommunismus mit einer solchen Begeisterung wieder aufzugreifen, die bisweilen völlig abgehoben von der Geschichte des 20. Jahrhunderts scheint. Umfragen deuten darauf hin, dass junge Menschen aller politischen Richtungen Vertrauen in die Demokratie verlieren.

Gibt es einen Weg zurück?

Social Media haben das Leben von Millionen Amerikanern mit unvorstellbarer Macht und Plötzlichkeit verändert. Es fragt sich, ob diese Veränderungen womöglich einigen der Annahmen ihre Gültigkeit nehmen, von denen Madison und die anderen Gründerväter sich bei ihrem Entwurf eines Selbstverwaltungssystems hatten leiten lassen. Verglichen mit Amerikanern des 18. Jahrhunderts – und sogar des späten 20. Jahrhunderts – sind heutige US-Bürger weit stärker vernetzt. Und dies auf eine Weise, die öffentliche Selbstdarstellung und moralische Grosssprecherei fördert, und auf Plattformen, die geschaffen wurden, um Empörung ansteckend zu machen und die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer auf unmittelbare Konflikte und ungeprüfte Ideen zu lenken – von allen Traditionen, Erfahrungen und Werten abgekoppelt, die zuvor eine stabilisierende Wirkung ausgeübt hatten. Hierin sehen wir den Grund, dass viele Amerikaner – und Bürger vieler anderer Länder – Demokratie als einen Ort erleben, an dem alles drunter und drüber geht.

Doch das alles muss nicht sein. Social Media sind nicht per se schlecht, können sogar Gutes bewirken – etwa, wo sie Unrecht ans Licht bringen, das früher verborgen geblieben wäre, oder wo sie einst ohnmächtigen gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme geben. Jede neue Kommunikationstechnologie bringt eine Spanne konstruktiver wie destruktiver Effekte mit sich, und allmählich finden sich Wege, die Bilanz zu verbessern. Viele Forscher, Politiker, Stiftungen und Technologen arbeiten heute zusammen, um solche Verbesserungen zu erzielen. Wir schlagen drei Arten womöglich hilfreicher Reformen vor:

Erstens: Die Häufigkeit und Intensität öffentlichen Auftretens vermindern. Wenn Social Media Anreize für moralische Grosssprecherei schaffen statt für authentische Kommunikation, sollten wir versuchen, solche Anreize zu reduzieren. Ein solcher Ansatz wird inzwischen unter dem Begriff «Demetrikation» von mehreren Plattformen ausprobiert. Dabei werden Likes und Shares nicht mehr angezeigt, so dass Inhalte nicht mehr anhand ihrer Beliebtheit, sondern nur noch für sich genommen bewertet werden. Social-Media-Nutzer unterliegen dadurch nicht mehr einem ständigen öffentlichen Popularitätswettbewerb.

Zweitens: Die Reichweite unverifizierter Profile reduzieren. Böswillige Akteure – Trolle, ausländische Geheimdienste, einheimische Provokateure – profitieren am meisten vom derzeitigen System, in dem jedermann Hunderte Fake-Profile anlegen und zur massenhaften Manipulation einsetzen kann. Social Media würden sofort weniger destruktiv, Demokratien weniger anfällig für Manipulation, wenn die grossen Plattformen auf Identitätsprüfungen bestehen würden. Wenigstens solche Profile, die ihrem Besitzer eine grosse Reichweite verschaffen, sollten geprüft sein. (Nutzer könnten weiterhin anonym posten, und die Registrierung sollte so erfolgen, dass die Daten von Nutzern aus Ländern, in denen Dissidenten verfolgt werden, geschützt wären. Die Verifikation könnte etwa in Zusammenarbeit mit unabhängigen Non-Profit-Organisationen durchgeführt werden.)

Drittens: Die Viralität minderwertiger Information reduzieren. Je leichter Social Media nutzbar wurden, desto destruktiver wurden sie. Ein gewisses Mass an Erleichterung könnte wieder zurückgenommen werden. Zum Beispiel könnte künstliche Intelligenz bestimmte Kommentare vor dem Senden als bedenklich erkennen und den Nutzer fragen: «Wollen Sie das wirklich senden?» Ein solcher Zwischenschritt wurde von Instagram eingeführt und hat sich als wirksam bei der Reduzierung verletzender Kommentare erwiesen. Auch könnte die Qualität der von Empfehlungsalgorithmen verbreiteten Informationen verbessert werden, indem Expertengremien Gelegenheit bekämen, die Algorithmen auf implizite Ungerechtigkeiten zu überprüfen.

Wenn wir am Bestehen unserer Demokratie interessiert sind – ja wenn wir der Idee der Demokratie in einem Zeitalter wieder Respekt verschaffen wollen, in dem Bürger weltweit mit ihr hadern –, müssen wir erforschen, auf welch mannigfaltige Weise Social-Media-Plattformen Bedingungen schaffen, die dem Erfolg des demokratischen Systems entgegenstehen. Dann müssen wir entschlossen handeln und Social Media reformieren.


Dieser Beitrag ist die übersetzte und leicht gekürzte Fassung des Artikels «The Dark Psychology of Social Networks», der im Dezember 2019 in «The Atlantic» erschienen ist.

© 2019 The Atlantic Media Co., as first published in «The Atlantic Magazine». All rights reserved. Distributed by Tribune Content.

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