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Experimentierfreudiges Europa

Der starre Nationalstaat in der heutigen Form kann in einer vernetzten Welt immer mehr Probleme nicht mehr lösen. Europa hat das Zeug, sich als Experimentierfeld neuer dynamischer politischer Einheiten zu bewähren. Dafür braucht es freilich Mut – und eine Abkehr von etablierten Institutionen.

Experimentierfreudiges Europa
Bruno S. Frey, photographiert von Philipp Baer.

Die europäische Einigung baut auf territorialen Nationalstaaten auf – diese Feststellung ist offensichtlich und wird gemeinhin als selbstverständlich betrachtet. So hat der Präsident der Kommission der Europäischen Union (EU), José Manuel Barroso, jüngst einen «Plan für eine Föderation von Nationalstaaten» vorgelegt.1 Ähnlich schlägt die «Zukunftsgruppe» der Aussenminister von EU-Staaten in ihrem Bericht vom September 2012 eine Weiterentwicklung bzw. Stärkung der EU im Rahmen der bestehenden Nationalstaaten vor.Die EU – ein neuer, echter Staatenbund?

Ich möchte in meinem Beitrag auf eine andere, bisher kaum bedachte und fruchtbarere Möglichkeit eines zukünftigen Europas hinweisen. Fruchtbarer deshalb, weil sie der Vielfalt und der Freiheit wesentlich besser entspricht. Und kaum bedacht, weil sie sich ausserhalb der Modelle bewegt, die in Brüssel, Frankfurt, Paris und London diskutiert werden.

Meine Vorschläge lassen sich in drei Thesen zusammenfassen: 3

1. Die Nationalstaaten bestimmen zwar weiterhin den europäischen Einigungs­prozess, doch bedürfen sie der Flexibilisierung.

2. Die Einigung muss von den zu lösenden Aufgaben ausgehen, weil sich viele anstehende Probleme nicht mehr im Rahmen reiner Nationalstaaten lösen lassen; die künftigen politischen Einheiten müssen sich neu entsprechend bilden. Ich nenne sie Endogene Politische Einheiten (EPE).

3. Diese neuen Einheiten können schrittweise eingeführt werden. Politik vollzieht sich im Rahmen eines flexiblen und dynamischen Netzes, das der Vielfalt Europas gerecht wird.

Welchen Zweck hat die europäische Einigung? In der Entwicklung hin zur heutigen EU lassen sich zwei Stränge unterscheiden: zum einen das politisch orientierte Friedensprojekt und zum anderen das wirtschaftlich orientierte Freihandelsprojekt. Im Europa des Jahres 2013 stellt sich ernsthaft die Frage, ob die heutigen Institutionen diese Zwecke künftig erfüllen können.

Frieden in Europa

Die Konzeption der Nationalstaaten hat im 19. Jahrhundert erhebliche Fortschritte gebracht. Besonders wegweisend ist die Idee der Verfassung als grundlegendes staatliches Konzept, an die sich die drei staatlichen Gewalten (Parlament, Exekutive und Judikative), nichtstaatliche Organisationen und die Einwohner zu halten haben. Damit einher geht der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung, die durch checks and balances die Freiheit der Bürger schützen.

Im 20. Jahrhundert haben jedoch die Nationalstaaten zu Katastrophen in Form zweier Weltkriege geführt. Im Ersten Weltkrieg sind rund 10 Millionen Soldaten gefallen, davon in Deutschland 2 Millionen, in Österreich-Ungarn 1,5 Millionen und in Frankreich 1,3 Millionen. Daneben ist eine riesige Zahl von Zivilpersonen zu Tode gekommen. Der Zweite Weltkrieg hat gemäss Schätzungen bis zu 60 Millionen Leben gekostet.

In Europa haben weitsichtige Staatsmänner wie Robert Schumann, Jean Monnet, Alcide De Gasperi oder Luigi Einaudi ein Friedensprojekt auf den Weg gebracht, das zukünftige Kriege verhindern sollte. Sogar der Engländer Winston Churchill hat in seiner Rede vom 19. September 1946 an der Universität Zürich dazu aufgerufen («Let Europe arise!»). Unglücklicherweise hat er den Ausdruck «the United States of Europe» verwendet.

Das Frankreich von Charles de Gaulle und das Deutschland von Konrad Adenauer haben die ersten Voraussetzungen für europäische Institutionen geschaffen, mit deren Hilfe Friede zwischen den Nationalstaaten gesichert werden sollte. Die beiden grossen Staatsmänner waren insofern Kinder ihrer Zeit, als sie wie selbstverständlich von der Nation als handelnder Einheit ausgingen.

In bezug auf das politisch orientierte Friedensprojekt ist auf drei wichtige Pro-bleme hinzuweisen:

– Gemeinhin nehmen die EU und ihre Vorläufer für sich in Anspruch, den Frieden zumindest im Kern Europas bewahrt zu haben. Das mag sein, jedoch lässt sich ebenso gut argumentieren, dass der europäische Einigungsprozess nur möglich war, weil Frankreich und Deutschland Frieden geschlossen haben.

– Die europäischen Institutionen haben keinen merklichen Beitrag zur Lösung innerstaatlicher Konflikte geleistet, wie sie sich in Bürgerkriegen wie in Nordirland oder Spanien entluden.

– Die europäischen Institutionen sind durch ein Demokratiedefizit gekennzeichnet. Die Wochenzeitschrift «The Economist» titelte vor einem Jahr etwas hämisch: «An ever deeper democracy deficit» – womit sie natürlich auf Jacques Delors’ Vorstellung einer «ever deeper European integration» anspielt. Die EU kann sicherlich nicht als eine politische Institution bezeichnet werden, die für das 21. Jahrhundert Vorbildlichkeit beanspruchen kann. Sie ist, wie Max Haller anmerkte, ein eindeutiges Elitenprojekt, an dessen Teilnahme die Bürger weitgehend ausgeschlossen sind, 4  und es werden keinerlei Neuerungen eingeführt, die der heutigen Kommunikationstechnologie, etwa Volksabstimmungen mittels Internets, entsprechen.

Das politische Einigungsprojekt ist somit etwas weniger glanzvoll, als es auf den ersten Blick erscheint.

Freihandel in Europa

Das zweite europäische Projekt ist wirtschaftlicher Natur und kann ebenfalls als grosse Leistung bezeichnet werden. Die Schaffung des gemeinsamen Marktes hat Handelshemmnisse zwischen den Nationalstaaten wesentlich abgebaut und teilweise sogar völlig beseitigt. Dieser Fortschritt wurde jedoch mit hohen Kosten erkauft, die in dreierlei Weise anfallen:

– Die europäische Bürokratie in Brüssel hat eine kaum mehr überschaubare Zahl von Regulierungen und Direktiven erlassen. Der britische Think Tank «Open Europe» berechnet, dass die seit 1957 erlassenen Rechtsnormen 667 000 Seiten umfassen. Heute gelten davon 170 000 Seiten, wovon 100 000 Seiten in den letzten zehn Jahren entstanden. Werden die Seiten des heute bestehenden Acquis communautaire aufeinandergeschichtet, ergibt sich ein Stoss von 44 Metern, also beinahe der Höhe der Nelson-Säule auf dem Trafalgar Square.

– Harmonisierung und damit Uniformierung hat in vielen Bereichen der Wirtschaft den Wettbewerb ersetzt.5 Vor einer derartigen Zentralisierung Europas hat schon der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke ausdrücklich gewarnt.

– Anstelle flexibler Angebote für neue Beitrittsländer wird nach dem rigiden Prinzip von «ganz oder gar nicht» die vollständige Übernahme des Acquis communautaire verlangt – als wären die darin enthaltenen Vorschriften das einzig Richtige.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu, der damit nur indirekt zusammenhängt. Die monetäre Einigung sollte den Handel unter EU-Staaten erleichtern. Mit der wirtschaftlich alles andere als zwingenden, wohl aber politisch gewollten Einführung des Euro sind scharfe Konflikte aufgetreten. Sie haben manche Kommentatoren veranlasst, von einem «Europa des Unfriedens» statt von einem «Europa des Friedens» zu sprechen – durchaus zu Recht. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn der Euro den Handel unter EU-Staaten am Ende erschweren würde.

Endogene Politische Einheiten (EPE)

Gegenüber den heutigen Institutionen der EU lässt sich ein ganz anderes Europa denken: ein Europa, das der vielfachen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Diversität Raum gibt und sie fördert statt hemmt. Dazu sind – wie bereits angedeutet – neuartige politische Einheiten notwendig, die sich an den zu lösenden Problemen orientieren. Am Anfang steht der Zweck – und nicht gegebene politische Grenzen. Dies führt zu einer neuen Art von Zusammenschlüssen, die dem europäischen Ideal gerechter werden als der eingeschlagene Weg.

Es ist sinnvoll, zuerst die zu bewältigenden Probleme zu identifizieren und anschliessend dafür geeignete politische Einheiten zu schaffen. Somit wird hier vorgeschlagen, den heute üblichen Weg – Behandlung der Aufgaben innerhalb der bestehenden nationalen Grenzen – umzukehren: Die politischen Grenzen sollen sich endogen – also von innen nach aussen – anpassen, damit die bestehenden Aufgaben möglichst effektiv gelöst werden können. Je nach Problem können diese Einheiten grösser oder kleiner als die bestehenden Nationalstaaten sein. Nur zufällig hat eine bestehende Nation gerade die für die notwendige Aufgabe geeignete territoriale Ausdehnung. Diese Endogenen Politischen Einheiten (EPE) unterscheiden sich auch von den europäischen Regionen, weil deren Grenzen weitgehend durch historische Zufälligkeiten bestimmt sind.

Die Politische Ökonomie lehrt uns, dass möglichst lokale politische Entscheidungen von Vorteil sind, weil nur dann ein genügender Anreiz besteht, die Nutzen und Kosten unterschiedlicher Lösungen zu berücksichtigen. Die Bevölkerung engagiert sich politisch umso mehr und umso kompetenter, je vertrauter ihr die zur Entscheidung anstehenden Probleme sind. Ein Entscheid über die Organisation der lokalen Abfallentsorgung fällt leichter als über ein allgemein geltendes Gesetz zu gentechnisch veränderten Pflanzen.

Die neu entstehenden EPE sollen eine derartige räumliche Ausdehnung aufweisen, dass sie die Gesamtkosten aus Spillover-Effekten und Entscheidungskosten minimieren.

Die EPE sind also durch drei Eigenschaften geprägt: Sie gehen von existierenden Problemen aus (endogen), dienen den betroffenen Bürgern (politisch) und bilden Zweckverbände (Einheiten).

«Endogenität»

– Einheiten sollen aufgrund der zu lösenden Probleme entstehen und sich nicht nach den bestehenden historischen Grenzen politischer Körperschaften richten.

– Sie sollen von unten angeregt und organisiert werden und nicht von oben aufok-troyiert werden.

– Je nach Aufgabe können diese Politischen Einheiten von einzelnen Personen, Teilen bestehender politischer Körperschaften (etwa Stadtbezirken), Gemeinden oder Regionen gebildet werden.

«Politisch»

– In einer modernen, zukunftsgerichteten Welt müssen die EPE demokratisch organisiert und legitimiert sein. Dabei können die Betroffenen nicht nur abstimmen, indem sie in herkömmlicher Weise zu den Urnen schreiten oder postalisch ihren Willen bekunden, es müssen auch die Möglichkeiten des elektronischen Wählens und Abstimmens genutzt werden. Empirische Untersuchungen belegen, dass Bürger sich wegen des geringeren Aufwands besser informieren und vermehrt in politischen Angelegenheiten engagieren.

– Politisch beziehen sich die EPE nicht notwendigerweise auf eine staatliche Organisation. So sind beispielsweise die Chinesen in ganz Asien und zunehmend auch in Europa ansässig und bilden infolge ihrer Sprache, Kultur und Handlungsweise eine Einheit, die weit über die chinesische Volksrepublik hinausgeht. Eine ähnliche Diaspora mit politischem Gewicht sind die Juden oder die Kurden. Beide lassen sich nicht auf eine bestehende politische Einheit reduzieren.

«Einheiten»

– Sind die Einheiten formell organisiert, können sie privat, halböffentlich oder staatlich sein.

– Ein- und Austritt müssen flexibel sein, damit sich die Endogenen Politischen Einheiten an verändernde Bedingungen anpassen können. Dazu sind Regeln notwendig, die auf der Verfassungsebene, also hinter dem Schleier der Unwissenheit, festgelegt werden. Denkbar ist eine Erhebung von Gebühren, wenn die austretende Einheit während ihrer Mitgliedschaft einen Kapitalzuwachs erfahren hat. Wer etwa in einer EPE sein Humankapital mit dem bestehenden Bildungsangebot aufbauen konnte, das andernorts monetär entgolten wird, sollte eine entsprechende Abgeltung leisten. Es sind auch Eintrittskosten denkbar, wenn die Eintretenden damit einen Kapitalgewinn erzielen. Die flexibel gestalteten Regeln für Ein- und Austritt führen zu einer wettbewerblichen Situation. Besonders effiziente EPE erreichen damit eine vorteilhafte finanzielle Lage.

Endogene Politische Einheiten sind mitnichten nur eine theoretische Spekulation. Dies sei durch einige Beispiele illustriert:

– Der durch Ab- und Anflug des Flughafens Zürich verursachte Lärm betrifft verschiedene geographische Einheiten in unterschiedlichen Schweizer Kantonen und deutschen Landkreisen. Heute wird das Problem mühsam und wenig erfolgreich auf nationaler Ebene angegangen, obwohl insbesondere die Entscheidungsträger in Berlin und Bern weit von den Problemen entfernt sind. Sinnvoll wäre eine neue politische Einheit, welche die hauptsächlich betroffenen räumlichen Gebiete umfasst und die bestehenden Landesgrenzen überschreitet.

– Der Verkehr über die Alpen betrifft einige Gebiete stark, während andere Gebiete der europäischen Nationen davon wenig oder gar nicht tangiert werden. Eine neu zu bildende politische Einheit der massgeblich Betroffenen sollte die entstehenden Probleme angehen, wobei wiederum die nationalen Grenzen weitgehend irrelevant sind.

– Auch Tourismusregionen überschreiten häufig die existierenden politischen Körperschaften. So sind am Fremdenverkehr im Bodenseeraum geographische Gebiete in drei unterschiedlichen Ländern und vielen verschiedenen Kantonen, Landkreisen bzw. Bundesländern beteiligt. Auch dafür sollte eine EPE geschaffen werden, damit die entsprechenden Aufgaben erfolgversprechend angegangen werden können.

– Die gegenwärtig (noch) eine Aufnahme in die EU anstrebende Türkei könnte in verschiedenste EPE glaubwürdig und als volles Mitglied eintreten, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Weder die EU noch die Türkei müssten einen unbefriedigenden Kompromiss zu Aspekten eingehen, zu denen grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen bestehen. Eine vollständige Übernahme des Acquis communautaire entfällt. Ein ähnliches Vorgehen ist mit den nordafrikanischen Ländern Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen möglich. In mancherlei Hinsicht entsprechen ihre kulturellen Normen und politischen Institutionen nicht den Vorstellungen der europäischen Länder. Eine engere Verbindung zu Europa ist jedoch erwünscht.

– Das Konzept der EPE ermöglicht es, auch den Wünschen einiger Teile von Nationalstaaten wie Kataloniens, des Baskenlands, Nordirlands, Flanderns, Korsikas oder Schottlands nach mehr Souveränität entgegenzukommen und somit die Gefahr weiterer terroristischer Auseinandersetzungen zu mindern. Diese Körperschaften würden sich in das Netz einer Vielzahl von EPE eingliedern.

Für die Konstruktion der EPE könnte von multinationalen Unternehmen gelernt werden. Sie haben manche organisatorischen Probleme, mit denen sich auch Staaten konfrontiert sehen, seit langem überwunden. Sie stellen eine Weiterentwicklung der Zweckgemeinden und Zweckverbände dar, die allerdings meist technokratisch orientiert sind, keine direkte Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger vorsehen, bei denen jedoch Ein- und Austritt möglich sind. Die EPE sind mit verschiedenen Vorschlägen verwandt, die zur Verbesserung der staatlichen Aktivität entwickelt wurden. Am nächsten stehen die Functional Overlapping and Competing Jurisdictions, die auf gemeinsame Arbeiten mit Reiner Eichenberger zurückgehen.6 Ähnliche Vorschläge sind «artificial states»7  und die von Paul Romer vorgeschlagenen «chartered cities» sowie die auch in der Schweiz etwa durch Konrad Hummler propagierten Städtestaaten, die sich über die schwerfälligen nationalen Regulierungen und Vorschriften hinwegsetzen und effizientere Regeln beschliessen können. Wesentlich weiter geht das «Seasteading», das völlig selbständige politische Einheiten in internationalen Gewässern vorsieht, die sich eine beliebige Verfassung geben und wettbewerblich handeln.8

Schrittweise Einführung der EPE

Skeptiker mögen argumentieren, dass es wegen der institutionellen Verfestigung der EU müssig sei, derart abweichende Vorstellungen über die zukünftige europäische Einigung und Vertiefung vorzuschlagen. Dieses Argument sticht aus zwei Gründen nicht oder nur begrenzt.

EPE können direkt an die ursprüngliche Idee und institutionelle Ausgestaltung der europäischen Einigung anknüpfen. Frankreich und Deutschland haben sich als erste auf eine problemorientierte Institution geeinigt. Weil Kriege ohne Stahl (und Kohle) undenkbar waren, wurde die Montanunion beschlossen. Sie band insbesondere die deutsche Stahlindustrie in einen europäischen Kontext, wodurch weitere Kriege zwischen den beiden Ländern verunmöglicht wurden. Auch der Euratom-Vertrag kann als eine aufgabenorientierte politische Einheit im Sinne der EPE aufgefasst werden.

Zweitens, EPE können von der heutigen Struktur der EU ausgehend partiell eingeführt werden. Damit wird der Gedanke des «Europe à la carte» und des «Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten» zur erstrebenswerten Norm und nicht zu einer zu bekämpfenden Verirrung.

Werden EPE auf diese Weise sukzessive eingeführt, ist es ein natürlicher Prozess, dass das Gewicht des zentralistisch-bürokratischen Teils der EU über die Zeit abnimmt und sich ein dynamisches, wettbewerbliches Netz unterschiedlicher politischer Körperschaften entwickelt.

Mit diesem schrittweisen Vorgehen brauchen die bestehenden politischen Körperschaften nicht abgeschafft zu werden; sie werden jedoch gegenüber den neu geschaffenen EPE an Bedeutung verlieren. Dabei ist immer zu überlegen, für welche politischen Probleme sie die richtige räumliche Ausdehnung aufweisen.

Die EPE überwinden auch die Tendenz der durch Territorien definierten Nationalstaaten, Kriege zu führen. Empirischen Untersuchungen folgend, sind Individuen eher bereit, für ein Territorium zu kämpfen und zu sterben als für andere Formen der Identifikation.9 Je verwobener das Netz von politischen Einheiten, desto stabiler wird die Friedensordnung.

Die Alternative ist möglich

Die europäische Einigung hat mit der aufgabenorientierten Montanunion richtig angefangen. Danach wurden allerdings sowohl das Friedensprojekt als auch das Freihandelsprojekt ausschliesslich auf Ebene der Nationalstaaten vollzogen. Damit wurde eine politische Ordnung gewählt, die massgeblich für die katastrophalen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist und ein weiteres Fortschreiten der europäischen Einigung behindert.

In diesem Beitrag wird eine Alternative vorgeschlagen, die parallel zur bestehenden Ordnung entstehen kann und die heutigen Institutionen entlastet. Ausgangspunkt sollen die zu bewältigenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben sein; dazu sind die geeigneten territorialen Einheiten ohne Rücksicht auf die bestehenden nationalen Grenzen zu bilden. Diese EPE sollen in Europa gesetzlich ermöglicht werden; die Initiative und ihre Bildung sollen hingegen von unten erfolgen. Damit diese Aufgaben erfolgreich angegangen werden können, müssen die Einheiten über weitgehende Finanzautonomie verfügen, d.h. die notwendigen Steuern und Ausgaben selbst bestimmen können. Eine derartige Neuausrichtung der europäischen Einigung ist unmittelbar möglich und entlastet die heutigen Nationalstaaten. EPE ermöglichen ein dynamisches Netz von politischen Einheiten, das der Vielfalt Europas entspricht.

 

Bei diesem Essay handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Rede, die am 6. Dezember 2012 anlässlich der Verleihung des Röpke-Preises für Zivilgesellschaft des Liberalen Instituts gehalten wurde.

 


 

1 Plan für eine Föderation von Nationalstaaten. In: Neue Zürcher Zeitung, 13. September 2012, S. 5.
2 Ein Strauss von Ideen für die Zukunft der EU. In: Neue Zürcher Zeitung, 19. September 2012, S. 4.
3 Eine Kurzfassung dieses Vorschlags ist in der FAZaS erschienen. Vgl. Bruno S. Frey: Weg mit den Nationalstaaten. In: «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», 25. November 2012, S. 34.
4 Max Haller: Die europäische Union als Elitenprojekt. Aus Politik und Zeitgeschichte, 23–24. Juni 2009, S. 18–23.
5 Vgl. z.B. Gerd Haberman: Noch nicht verbrüsselt. In: Schweizer Monat 995, April 2012, S. 56–57.
6 Bruno S. Frey: Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ. Tübingen: Mohr Siebeck, 1997. Bruno S. Frey und Reiner Eichenberger: The New Democratic Federalism for Europe. Functional, Overlapping and Competing Jurisdictions. Cheltenham: Edward Elgar, 1999.
7 Alberto Alesina, William Easterly und Janina Matuszeski: Artificial States. In: Journal of the European Economic Association 9 (2), April 2011, S. 246–277.
8 Patri Friedman und Brad Taylor: Seasteading: Competitive Governments on the Ocean. In: Kyklos 65, Mai 2012, S. 218–235.
9  Vgl. z.B. John A. Vasquez: The War Puzzle Revisited. New York: Cambridge University Press, 2009. Siehe auch: Paul D. Senese und John A. Vasquez: The Steps to War: An Empirical Study. Princeton: Princeton University Press, 2008.

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