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Die Blockwahl des Bundesrats (2/2)

Soll der Bundesrat vom Volk gewählt werden? Vor über zehn Jahren hat der Ökonom Jürg Niehans in den «Schweizer Monatsheften» einen originellen Vorschlag präsentiert: eine Ticketwahl des gesamten Bundesrats. Die Idee ist aktueller denn je. Wir drucken den Text erneut ab.

Der Vorschlag der Volkswahl des Bundesrates ist von verschiedenster Seite immer wieder aufgegriffen worden, doch haftet ihm etwas Utopisches an. Nichtsdestoweniger scheint er der Beachtung wert, indem er die Aufmerksamkeit auf wichtige, aber vernachlässigte Aspekte des Problems lenkt und – wenn er konkretisiert wird – auch zur Entwicklung praktikabler Lösungen beiträgt. Dies war seit je die Funktion von Utopien.

Das Schweizervolk wünscht sich für seine Regierung ein Wahlverfahren, das zwei hauptsächlichen Erfordernissen gerecht wird. Auf der einen Seite hat es (mehrheitlich) längst eingesehen, dass in der «ältesten Demokratie» die oberste Exekutive eigentlich vom Volk gewählt werden sollte. In der Referendumsdemokratie ist die Wahl durch das Parlament eine Anomalie. Nur die Volkswahl leistet Gewähr, dass Volk und Regierung sich nicht, wie heute, auseinanderleben. Auf der anderen Seite will das Schweizervolk eine «ausgewogene» Regierung, in der verschiedene Landesgegenden, Sprachen und Konfessionen vertreten sind, und seit einem Jahrhundert will es auch parteimässig eine Koalitionsregierung.

Der Kern des Problems liegt darin, dass diese beiden Erfordernisse unvereinbar zu sein scheinen. Es wurde bisher kein gangbarer Weg gefunden, um bei der Volkswahl, ohne kleinliche Fesselung des Volkswillens, ein ausgewogenes Ergebnis zu gewährleisten, da sich eben der Stimmbürger nicht auf politischen Kompromissen und Tauschhändeln behaften lässt. Damit sieht sich das Schweizervolk vor einem Dilemma. Entweder scheint es auf die Volkswahl oder auf die Garantie der Ausgewogenheit verzichten zu müssen. In diesem Dilemma ist bisher die Volkswahl der Ausgewogenheit geopfert worden. Die Wahl des Bundesrates wurde dem Parlament überbunden, zu dessen Lebenslust politische Kompromisse gehören. Das historische Ergebnis liegt vor uns.

Damit stellt sich die Frage, ob nicht das Dilemma vermieden, also Volkswahl mit Ausgewogenheit vereinbart werden könnte. Einen solchen Ausweg scheint es in der Tat zu geben. Die Ausgewogenheit ist nämlich nur dann ein Problem, wenn jedes Mitglied des Bundesrates einzeln gewählt wird. Die Einzelwahl wäre durchaus sinnvoll, wenn aus der Sicht der Wählerschaft die Eignung jedes Kandidierenden nur von dessen eigenen Qualifikationen abhängen würde. In Tat und Wahrheit haben aber die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger immer wieder demonstriert, dass für sie die Eignung jedes Kandidierenden in hohem Masse von der Zusammensetzung des Gesamtbundesrates abhängt. Genau darum geht es ja bei der verlangten «Ausgewogenheit» und auch bei der Konzeption der eidgenössischen Exekutive als Kollegialbehörde. Unter diesen Umständen ist es in sich widerspruchsvoll, die Bundesräte einzeln zu wählen. Die heutige Lage ist die Quittung für diesen inneren Widerspruch.

Der Widerspruch verschwindet, wenn die Wahlvorschläge nicht auf einzelne Bundesräte, sondern auf Listen von sieben (acht? neun?) Bundesräten lauten. Das Ergebnis ist die «Blockwahl», die «globale Volkswahl» des Bundesrates. Das Verfahren kann man sich wie folgt vorstellen. Die Wähler legen eine der Listen A, B, C… in die Urne. Auf jeder Liste sind sieben Namen von Kandidierenden vorgedruckt. Listen mit weniger als sieben Namen sind ungültig. Der gleiche Name kann sehr wohl auf mehreren Listen erscheinen. Gewählt sind alle Kandidierenden jener Liste die das absolute Mehr erreicht. Wird dieses von keiner Liste erreicht, findet in kurzem Abstand ein zweiter Wahlgang statt, in dem nur die beiden Listen mit den höchsten Stimmenzahlen zur Wahl stehen. Im Unterschied vom vertrauten Proporzsystem wird also die Sitzverteilung nicht von den Stimmenanteilen der Kandidierenden und Parteien bestimmt, und es kann zwischen den Kandidierenden der gleichen Liste keine Unterschiede in den Stimmenzahlen geben. Entweder sind alle Kandidierenden einer Liste gewählt oder gar keiner. Streichen, Kumulieren und Panaschieren sind ausgeschlossen.

Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg oder Misserfolg einer globalen Volkswahl ist natürlich die Qualität der Wahlvorschläge. Es liegt nahe, die Aufstellung der Listen den Parteien (oder Parlamentsfraktionen) zu überbinden, von denen jede ihr eigenes Vorwahlverfahren entwick-eln wird. Von diesen Vorwahlen lassen sich starke Impulse für das Parteileben erwarten. Sie versprechen die wichtigste und politisch lebendigste Phase des ganzen Wahlganges zu sein. Die resultierenden Listen unterscheiden sich grundlegend von jenen der legislativen Proporzwahl, indem normalerweise jede Partei durch den politischen Wettbewerb gezwungen sein wird, auf «ihre» Liste auch zugkräftige Angehörige anderer Parteien aufzunehmen. Ja, eine kleine Partei mag auf die Nomination eines ihrer eigenen Mitglieder überhaupt verzichten.

Auf die wohlbekannten Probleme von Mehrheitsentscheidungen zwischen drei und mehr Alternativen kann hier nicht eingetreten werden. Bemerkt sei lediglich, dass die Zahl der Wahllisten, wenn das Verfahren funktionieren soll, schon im ersten Wahlgang nicht allzu gross sein darf. Je mehr Listen eingereicht werden, um so grösser wird die Gefahr, dass eine Liste, die im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erzielt hätte, im ersten Wahlgang auf der Strecke bleibt. Man wird deshalb das Vorschlagsrecht auf jene Parteien beschränken müssen, die eine gewisse Stärke erreichen. Als grobe Norm wird man sich 4 bis 6 Listen vorstellen können. Wenn zwei Listen deckungsgleich sind, werden ihre Stimmen addiert.

Eine Partei kann offensichtlich versucht sein, im Lichte des ersten Wahlgangs ihre Liste für den zweiten Wahlgang zu modifizieren. Dies muss von vornherein verunmöglicht werden, da sonst die Volksmeinung nicht konsistent zum Ausdruck kommt. Experimente mit modifizierten Listen gehören ins Vorwahlverfahren. Ausserdem muss dafür gesorgt werden, dass alle Kandidierenden die Wahl gegebenenfalls anzunehmen bereit sind. Sollte ein Kandidat bzw. eine Kandidatin vor der Wahl sterben oder amtsunfähig werden, müsste er, bzw. sie, wahrscheinlich zunächst auf der Liste belassen und nachher in einer Ersatzwahl ersetzt werden.

Der Gesamtbundesrat wird jeweils auf eine Amtsdauer von 4 Jahren gewählt, jedoch nicht gleichzeitig mit den Parlamentswahlen, damit der politische Apparat nicht überbeansprucht wird. Ersatzwahlen werden einzeln durch das Volk vorgenommen. Wenn aus einer Ersatzwahl eine «unausgewogene» Zusammensetzung des Bundesrates hervorgeht, kann diese spätestens bei der nächsten Gesamtwahl korrigiert werden. Der Bundespräsident bzw. die Bundespräsidentin kann nach wie vor jährlich von der Bundesversammlung gewählt werden, doch wird man wahrscheinlich erwägen wollen, ob er, bzw. sie, nicht auf den Wahllisten bezeichnet und damit auf je vier Jahre vom Volk gewählt werden sollte. Die Zuteilung der Departemente kann nach wie vor dem Bundesrat selbst überlassen werden.

Bei der Beurteilung der globalen Volkswahl von Exekutivbehörden möchte man sich natürlich auf die praktische Erfahrung stützen. Auf der Ebene nationaler Regierungen scheint es allerdings kaum schlüssige Beispiele zu geben. Entfernt verwandte Züge hat die Wahl des amerikanischen Präsidenten und Vizepräsidenten, doch unterscheidet sie sich von einer Bundesratswahl durch die blosse Zweizahl der Kandidaten und deren ungleiche Funktion. In England sorgt die Existenz von Schattenkabinetten für gewisse Anklänge an Globalwahlen. Zur Hauptsache würde aber die Eidgenossenschaft mit der globalen Volkswahl des Bundesrates verfassungsrechtliches Neuland betreten. Beispiele finden sich eher auf untergeordneten Ebenen. Insbesondere kann die globale Volkswahl als eine natürliche Fortentwicklung der altvertrauten Wahlbündnisse in Regierungs- und Gemeinderatswahlen betrachtet werden, denenzufolge verschiedene Parteien eine gemeinsame Wahlempfehlung für mehrere Kandidaten herausgeben. Bei Lokalbehörden und privaten Komitees aller Art liessen sich ohne Zweifel zahlreiche Beispiele von Blockwahlen finden, aber sie müssten erst zusammengesucht und verarbeitet werden.

Beim Mangel an schlüssiger Erfahrung muss sich die Beurteilung der globalen Volkswahl vorläufig auf allgemeine Überlegungen beschränken. Mit Sicherheit verstärkt die Volkswahl die Verantwortlichkeit des Bundesrates gegenüber dem Souverän und gibt ihm gleichzeitig eben deshalb eine stärkere Stellung gegenüber dem Parlament. Das hat man sich von der Volkswahl ja immer erhofft. Die «Kluft» zwischen Regierung und Volk wird verringert. Es wird kaum mehr vorkommen, dass sich ein Mitglied der Landesregierung im Ausland für den Unverstand seiner Mitbürger zu entschuldigen scheint. Hand in Hand damit erhält die Persönlichkeit und überparteiliche Zugkraft eines Kandidaten oder einer Kandidatin ein grösseres Gewicht. Kandidierende, die nicht aus einer Parteikarriere hervorgegangen sind, werden häufiger werden.

Gleichzeitig gewährleistet die globale Volkswahl, dass die Zusammensetzung des Bundesrates automatisch dem Willen der Mehrheit entspricht. «Zauberformeln» und bürokratische Einschränkungen der Wahlfreiheit sind dazu nicht erforderlich. Meinungsverschiedenheiten über Parteiansprüche und Minderheitsvertretungen werden laufend durch die politische Konkurrenz der Wahllisten geschlichtet. Beim Volk liegt es, einmal zwei Mitglieder der Landesregierung aus dem Kanton Genf, ein anderes Mal keines aus dem Kanton Zürich und das dritte Mal drei Sozialdemokratinnen oder Sozialdemokraten zu wählen, und die Parteien werden darin wetteifern, seinen Vorstellungen von «Ausgewogenheit» Rechnung zu tragen, selbst wenn dies Selbstbescheidung erfordert. Übertriebene Ansprüche einer Partei werden mit Misserfolg bestraft.

Infolgedessen ist ferner zu erwarten, dass die globale Volkswahl die Bildung von politischen Koalitionen begünstigt. Die Listen werden fast immer die Parteigrenzen sprengen, und statt das Trennende werden die Parteien (im Rahmen ihrer Liste) das Verbindende in den Vordergrund rücken. Es ist durchaus denkbar, dass sich die hauptsächlichen Listen nur in einem oder zwei Namen unterscheiden. Selbst stille Wahlen können vorkommen, indem sich alle Parteien auf die gleiche Liste einigen.

Vor allem aber gibt die globale Volkswahl der Regierung ein (politisch) verbindliches Programm auf den Weg mit. Die Kandidierenden einer Liste müssten ja die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass sie eine (aus der Sicht der Mehrheit) erfolgreiche Politik zu führen vermögen. Zu einer zugkräftigen Liste gehört deshalb ein überzeugendes Programm. Vier Jahre später wird das Kollegium daran gemessen, wie es dieses verwirklicht hat. Während Regierungsrichtlinien heute ein blutarmes Schattendasein fristen, werden sie durch die globale Volkswahl automatisch in den Brennpunkt der Politik gerückt. Zudem wird fortlaufend dafür gesorgt, dass sie «dem Willen des Volkes» entsprechen.

Im Ganzen sind die Eigenschaften der globalen Volkswahl einer kollegialen Exekutive bisher auffallend wenig erforscht und schon deshalb erneuter Aufmerksamkeit wert. Dabei wird sich die alte Einsicht bestätigen, dass es ideale, vollkommene Wahlverfahren nicht gibt. Auch die globale Volkswahl des Bundesrates hat zweifellos ihre Schwächen und Mängel, vielleicht sogar entscheidende. Sie verspricht aber auch gewichtige Vorzüge, die in der heutigen Situation der Eidgenossenschaft von besonderer Aktualität sind. Aus der heutigen Utopie könnte morgen oder übermorgen eine wichtige Fortentwicklung unserer demokratischen Einrichtungen entspringen.

Prof. Jürg Niehans (1919–2007) war ein Schweizer National-ökonom mit internationaler Ausstrahlung. Sein Interessenbereich reichte von der Geldtheorie über die Aussenwirtschaft bis zur Ideengeschichte und zur politischen Ökonomie. – Dieser Beitrag, der damals viel zu reden gab, erschien in der SMH-Ausgabe von März 1999 (S. 6 – 8).

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