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Die gemeinsame Sache
Ein römisches Mosaik im Nationalmuseum in Neapel zeigt Platon und seine Schüler. Bild: imago images / United Archives International.

Die gemeinsame Sache

Freiheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Zwängen. Sie findet sich in der tugendhaften Anteilnahme an der Gemeinschaft.

 

«Was, du bist liberal?» – diese Worte begleiteten den ungläubig-entgeisterten Ausdruck einer Freundin, als ich mich letzthin beiläufig zu einer tagespolitischen Belanglosigkeit äusserte. Beinahe verwirrender als ihre heftige Reaktion auf meine Bemerkung erschien mir jedoch die Tatsache, dass ich tatsächlich überfordert war, ihr angemessen zu antworten. Es komme eben darauf an, was sie unter liberal verstehe. Doch viel weiter kam ich nicht. Es scheint für den Begriff der Freiheit bezeichnend zu sein, dass er reichlich Freiheit in seiner Deutung und Interpretation gewährt. Doch dies ist nicht lediglich als Fluch zu werten, sondern ebenfalls als ein Segen. Es bietet die Möglichkeit, die Freiheit in den Experimentierkasten zu tauchen und Wege zu suchen, wie sie im 21. Jahrhundert gedacht und gelebt werden könnte.

Wo liegt die Grenze im Spannungsverhältnis?

Am Anfang war ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite das Individuum in seiner Einzigartigkeit, mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und Hoffnungen. Den Gegenpol bildet die Gemeinschaft als umfassendes Kollektiv. Wer nicht Individuum oder Gemeinschaft auflösen will, kommt nicht umhin, die Spannung auszuhalten und dieses Verhältnis zu regeln, eine Trennung von Privatem und Öffentlichem vorzunehmen. Doch wo soll sich die Grenze befinden?

Liberale Vordenker haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie das Individuum die Vorteile der Gemeinschaft zu seiner Selbsterhaltung nutzen kann, ohne dabei jedoch seine eigene, als natürlicherweise gegeben erachtete Freiheit zu verlieren. Gewissermassen die Suche nach der nutzenmaximierenden Indifferenzkurve im Trade-off von Freiheit und Sicherheit.

Der Freiheitsbegriff tauchte erstmals in einem negativen Sinn auf: Staatliche Gewalt soll begrenzt werden – überschreitet eine Regierung den vordefinierten Handlungsspielraum, ist ihr Umsturz gerechtfertigt. In dieser Hinsicht ist die Freiheit gleichzusetzen mit der Abwesenheit von Zwang und Unterdrückung. Der Liberalismus äussert sich ideologisch in einem gewissen methodischen Skeptizismus gegenüber der Macht und praktisch in der Bestrebung, diese möglichst breit zu verteilen und deren Missbrauch zu verhindern. Dabei bleibt es jedoch nicht. John Stuart Mill geht einen Schritt weiter und plädiert für die «Möglichkeit, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Weise zu erreichen, solange wir nicht versuchen, andere ihres Gutes zu berauben oder dessen Erwerb zu vereiteln».1 Jeder Bürger sollte also über die Freiheit verfügen, seine Ziele und die Wege zu deren Erfüllung selbst zu wählen, solange dabei die Freiheit anderer nicht unrechtmässig beschnitten wird.

Diese Freiheitsauffassung ist von überaus individualistischem Charakter. Das Primat ruht beim einzelnen und die Gemeinschaft rückt in den Hintergrund. Obschon das Vorhandensein von gewissen Pflichten – im Sinne von notwendigen Übeln – eingestanden wird, sind diese rein instrumentell zu verstehen. Das Kollektiv ist lediglich insofern schützenswert, als es die Selbstverwirklichung des Individuums ermöglicht – ohne jeglichen intrinsischen Wert.

Freiheit muss in der Gemeinschaft erlernt werden

Doch Freiheit ist im demokratischen Zusammenhang nicht lediglich die Möglichkeit, seine eigenen Ziele und die Mittel zu deren Erreichung selbst zu wählen. Der Freiheitsgedanke referiert auf die Teilhabe an der Selbstverwaltung, die jedem Bürger in einer Gemeinschaft gleichermassen zusteht. Diese eher republikanisch geprägte Vorstellung geht bedeutend weiter als die klassisch liberale Konzeption: Werte wie Pflichtbewusstsein, Verantwortung und Zusammengehörigkeit sind essentieller Bestandteil der Freiheit. Denn eine Demokratie besteht nicht aus gänzlich unabhängigen Individuen, es ist stets eine Gemeinschaft, die sich selbst regiert – eine Gemeinschaft, für die jeder Verantwortung trägt. Das Kollektiv ist nicht lediglich instrumentell zu verstehen, sondern intrinsisch mit der Freiheit verbunden, die ihre Verwirklichung darin findet! Freiheit bezeichnet das Recht, aber – und das ist von wesentlicher Bedeutung – auch die Fähigkeit, an der Selbstverwaltung zu partizipieren. So umfasste das beispielsweise im attischen Griechenland die Ausübung bestimmter politischer Funktionen wie Volksversammlung, Ämter oder Gericht. Das Bewusstsein für den Wert der Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Freiheit verblasst in einer hochindividualisierten Gesellschaft nach und nach. Ein Entstauben und Wiederentdecken dieser Freiheitsauffassung bietet liberalen Denkern und Machern von heute aber die Chance, neue Wege zu ergründen und zu beschreiten. Ich bin überzeugt: Wir brauchen ein Wiederaufleben staatsbürgerlicher Tugenden.

Zunächst einmal ist eine Tugend eng verbunden mit dem Handeln. Sie ist gleichsam eine stabile und anstrengungslose Bereitschaft zu einem Tun – verstanden in einem moralischen Sinn. Diese verwirklicht sich nicht lediglich in der Ausführung, sondern entsteht auch durch Erziehung und Übung. Im antiken Griechenland, wo die Tugend ein zentraler Begriff darstellte, war es Staatsaufgabe, die Bürger gewissermassen zu guten Menschen heranzubilden. Die Frage nach dem guten Leben war objektiv beantwortbar und für alle gültig. Von dieser Lebenswirklichkeit sind wir im 21. Jahrhundert jedoch meilenweit entfernt: Das teleologische Weltbild erscheint uns längst obsolet, das gute Leben, unabhängig von einer bestimmten Perspektive, gibt es nicht mehr und der Staat hat die Berechtigung, seine Bürger moralisch zu erziehen, eingebüsst. Wie kann in Anbetracht dieser Gegebenheiten überhaupt noch ernsthaft von staatsbürgerlicher Tugend gesprochen werden? Es scheint kontraintuitiv und fast schon despektierlich gegenüber freiheitlichen Errungenschaften.

Doch was, wenn wir die Freiheit selbst als Tugend setzen? Als eine Disposition, als etwas, das erlernt werden muss, das Übung erfordert und sich erst im freien Handeln innerhalb einer Gemeinschaft verwirklicht. Das Pflegen und Kultivieren staatsbürgerlicher Tugend ist also eine Befähigung der Bürger zur Freiheit. Im folgenden einige Gedanken, wie sich die Tugend der Freiheit konkretisieren könnte.

Pflichtbewusst Verantwortung übernehmen

Freiheit realisiert sich in der Gemeinschaft und ist intrinsisch mit ihr verbunden. Zur Tugend der Freiheit gehört somit auch, diese Gemeinschaft zu leben, zu hegen und zu pflegen. Heute ist jedoch zusehends eine Tendenz zur Gleichgültigkeit gegenüber der Gemeinschaft wahrnehmbar. So ist es beispielsweise oftmals schwierig, überhaupt Bürger zu finden, die sich bereit erklären, ein politisches Amt zu übernehmen – gerade auf tieferen Ebenen, denen wenig oder keine mediale Aufmerksamkeit zuteil wird. In der Gemeinde Termen im Oberwallis zum Beispiel finden seit über 15 Jahren keine Wahlen auf kommunaler Ebene mehr statt. Die Bürger erhalten nicht einmal mehr die Chance, eine Auswahl zu treffen, und sind froh, dass sich genug Freiwillige gemeldet haben. In anderen Ortschaften werden sogar Bürger per Wahl in die Exekutive gezwungen, weil sich überhaupt niemand zur Verfügung stellt.

Insofern handelt es sich bei der Freiheit als Tugend darum, Verantwortung zu übernehmen, Engagement zu zeigen und von seinen Rechten Gebrauch zu machen.

Es braucht staatsbürgerliches Pflichtbewusstsein. Der liberale Bürger geht nicht lediglich abstimmen, weil ihn das spezifische Thema persönlich interessiert oder angeht, sondern weil er es als seine freiheitliche Pflicht sieht. Der Begriff der Pflicht wird wohl von so manchen eher mit Zwang und Präskription assoziiert als mit Freiheit und mag in diesem Kontext gar ostentativ anmuten. Ich vertrete jedoch die Auffassung, dass es durchaus möglich und wünschenswert ist, als individueller, selbstbestimmter Mensch zu leben und gleichwohl der Gemeinschaft verpflichtet zu sein. Das ist gleichsam das Prinzip der Autonomie: Dass ich mir selbst diese Pflicht auferlege. Deshalb bleibe ich – oder bin gerade dadurch erst – frei! Von solchen Menschen lebt die Demokratie – im Widerspruch zu den Gesetzen des Marktes, wo der Egoismus jedes einzelnen den Gesamtnutzen zu maximieren hilft. Es braucht eine starke Zivilgesellschaft, ein Miteinander aus pflichtbewussten, autonomen Subjekten – ein Wir.

Liberal ist, wer dieses Wir und damit die Freiheit hegt und pflegt.

«Doch was, wenn wir die Freiheit selbst als Tugend setzen?

Als eine Disposition, als etwas, das erlernt werden muss,

das Übung erfordert und sich erst im freien Handeln ­innerhalb einer Gemeinschaft verwirklicht.»

Im Vakuum Orientierung finden

Seit jeher haben autoritäre Figuren mit Eloquenz und Charisma Anklang bei Menschen aus allen Schichten gefunden. Es gab und gibt immer wieder Zeiten und Orte, wo sich die Bürger kaum nach Freiheit zu sehnen scheinen – im Gegenteil, sie geben sie bereitwillig auf. Worauf lässt uns das schliessen? Dass wir den Kampf für Freiheit aufgeben sollten? Immerhin scheint sie oftmals nicht erwünscht zu sein. Keinesfalls! Jedoch können uns diese Beispiele zeigen, dass mehr Freiheit eben nicht lediglich mehr Nutzen bedeutet, sondern auch eine Herausforderung darstellt. Oftmals ist es charakteristisch für jene Machtfiguren, dass sie einfache und klare Lösungen präsentieren. Doch darin liegt die Problematik einfacher Lösungen – sie sind einfach! Sie versuchen die Welt manichäisch in schwarz-weisse Strukturen zu zwängen und übersehen dabei, dass sie doch farbig ist.

Und genau darin besteht die Schwierigkeit. Denn für sich genommen ist diese Abwesenheit von Zwang und Unterdrückung erst mal gar nichts, ein Vakuum. Die Freiheit als menschliche Erfahrung kann für den einzelnen zu einer dermassen bedrückenden Last werden, dass er ihr zu entfliehen sucht. Sie geht bekanntermassen einher mit dem Verlust von Sicherheit und Bindung. Zwang gibt Orientierung. Darin liegt die Dialektik der Freiheit: Wir werden dank ihr zwar kritischer und unabhängiger, gleichzeitig aber auch einsamer und verlorener. Um diese neugewonnene Leere zu füllen, ist Kreativität und die Fähigkeit, frei zu sein, notwendig. Und genau jene Komponenten müssen von Liberalen gefördert und ihre Grundlagen verteidigt werden! Zunächst ist die Gemeinschaft gefordert, Leitplanken und Massstäbe, Prinzipien und Werte zu vermitteln. Freiheit ist wie eine Tür. Sie kann beliebig geöffnet und geschlossen werden – aber ohne festen Rahmen verliert sie ihren Wert.

Oft wird versucht, sich aus jedweder moralisch durchtränkten Debatte zurückzuhalten – wo es doch die Freiheit jedes einzelnen sei, wie er lebt und denkt. So etwas wie objektive Werte existiere ohnehin nicht. Diese Einstellung ist bis zu einem gewissen Punkt sicherlich lobenswert, aber manchmal ist es, als würde man einem Kind keinen Namen geben, damit es eines Tages selbst entscheiden kann, wie es heissen will. Doch wie soll es eine solch grundlegende Entscheidung treffen können, wenn es nicht einmal weiss, wie es heisst? Es braucht Orientierung und Werte. Wenn es seinen Namen dann irgendwann ändern will, steht ihm das immer noch offen. Es ist also von immenser Bedeutung, über Werte und Massstäbe einer Gemeinschaft zu debattieren. Wir können nicht ständig in der Schwebe bleiben und uns weigern, über das gute Leben zu reden. Zum Beispiel, indem über Möglichkeiten in der Bildung nachgedacht wird, die zum kritischen Hinterfragen befähigen und gleichzeitig Kreativität und Orientierung verleihen, den von der Freiheit geschaffenen Raum zu füllen. Ein Referenzpunkt kann abgelehnt oder angenommen werden – aber nur, wenn es einen gibt.

Liberal ist, wer für eine Gemeinschaft freier Bürger einsteht – das sind Menschen, die sich nicht ins Konformistische oder Autoritäre flüchten, sondern die Fähigkeit besitzen, ihre Freiheit kreativ zu entfalten.

Schätzen wir die Freiheit wert!

Werfen wir nochmals einen Blick zurück in unsere Geschichte. Die Demokratie in Athen entstand nicht aufgrund politischer Ideen oder Vorstellungen einer künftigen Gesellschaftsordnung, sondern durch kontingente Umstände. Doch diese Entwicklungen regten Reflexionen an. Das Bewusstsein der Freiheit wurde zen­tral – als Wesensmerkmal und Stolz der Athener! Auch wenn die Freiheitskonzeption damals auf ethnizistischen Vorstellungen beruhte, könnten wir uns an ihrer Wertschätzung für die Freiheit ein Beispiel nehmen. Das Voraugenführen des Privilegs, als freie Bürger in einer Demokratie zu leben, sollte Antrieb genug sein, diese zu pflegen und sich zu engagieren. Denn Freiheit pervertiert, wenn sie nicht gelebt wird. Schliesslich ist der Kampf für die Freiheit nicht ein, spezifische, politische Richtung, sondern sollte die Grundlage alles Politischen überhaupt bilden. Freiheit ist eine Tugend, die geübt, erlernt und gelebt werden muss.

Liberal ist, wer sich dies zu Herzen nimmt.

  1. John Stuart Mill: Über die Freiheit. Ditzingen: Reclam, 2017, S. 43.

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