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Wieso sich Ihre Enkel nach links bewegen
Keir Milburn, zvg.

Wieso sich Ihre Enkel nach links bewegen

Junge wählen linksgrüner als je zuvor. Ein Ruf der Verzweiflung: Die Jugend hat ihre ökonomischen Perspektiven verloren.

In den letzten fünf Jahren hat sich in vielen verschiedenen ­Ländern etwas Neues und Dramatisches ereignet: Die Alterskategorie hat sich als eine Schlüsselachse der politischen Teilung herauskristallisiert. Junge Menschen wählen viel eher links und vertreten linke Ansichten, während ältere Generationen eher rechts wählen und konservative soziale und politische Ansichten vertreten. Dieser weitverbreitete Trend nimmt in den USA sowie in meinem eigenen Land, dem Vereinigten Königreich, seine deutlichste Form an. Der politische Graben zwischen Alt und Jung war hierzulande noch nie grösser: Während die Labour-Partei bei den Parlamentswahlen 2010 in Grossbritannien unter den 18- bis 24-Jährigen nur ein Prozent Vorsprung vor den Konservativen hatte, stieg dieser bis zur Wahl 2017 unter der Führung des linken Labour-Abgeordneten Jeremy Corbyn auf 35 Prozent an. Bei den über 65-Jährigen erhielten hingegen die Konservativen einen um 36 Prozent höheren Stimmenanteil. Bei der Wahl 2019 verlief der Altersgraben in einem weitgehend ähnlichen Muster, mit einem Vorsprung der Labour-Partei von 43 Prozent bei der jüngsten Kohorte und einer Führung der Konservativen von 47 Prozent bei der ältesten. In den USA kam die Bewegung der ­Jugend nach links am deutlichsten in der Unterstützung der ­Jugend für Bernie Sanders zum Ausdruck. Sowohl seine Vorwahlkampagne 2016 gegen Hillary Clinton als auch seine Kampagne 2020 gegen Joe Biden sahen altersbedingte Muster politischer Spaltungen, die denen in Grossbritannien sehr ähnlich sind.

Geldtsunami für die Alten

Ein so abrupt auf weltweiter Ebene auftretendes Phänomen muss durch etwas ausgelöst worden sein, das ebenso plötzlich wie international war. Ins Schema passt die Finanzkrise von 2008: Der Finanzkollaps und seine wirtschaftlichen Nachwehen in den 2010er Jahren brachten eine längerfristige Divergenz zwischen den materiellen Interessen der Generationen ans Tageslicht. Die über 55-Jährigen, vor allem aber die über 65-Jährigen, die bereits ein Eigenheim besitzen und ihre Renten in Aktien und Anteile investiert haben, sehen ihre materiellen Interessen zunehmend auf die Entwicklung des Finanz- und Immobiliensektors ausgerichtet: Boomt der Aktienmarkt, steigt der Wert ihrer Renten; bei hohen Immobilienpreisen fühlen sie sich wohlhabender und können mehr Kredite bei ihren Banken aufnehmen. Ein anderes Bild zeigt sich für die junge Generation, die noch kein Wohneigentum ­besitzt: Ihr Wohlstand hängt praktisch ausschliesslich von Löhnen und Sozialleistungen ab, die im letzten Jahrzehnt stagnierten oder gekürzt wurden. Tatsächlich waren die 2010er Jahre in Grossbritannien bezüglich Lohnwachstums das schlechteste Jahrzehnt seit den napoleonischen Kriegen.

Obwohl diese Trends bereits vor 2008 zu beobachten waren, sind sie durch die nachfolgende Regierungspolitik massiv beschleunigt worden: Hunderte von Milliarden zur Rettung von Banken und ein Tsunami von Gratisgeld durch die Zentralbanken (Quantitative Easing) begünstigen den Finanzsektor und treiben Vermögenspreise in astronomische Höhen. Weil das Halten von Geld auf einem Sparkonto durch unglaublich niedrige Zinssätze unattraktiv gemacht wird, kommt es zu einer Geldschwemme auf den Finanz- und Immobilienmärkten. Gleichzeitig sind beispielsweise die Unternehmensinvestitionen in Grossbritannien kaum gewachsen. Warum auch in neue Technologien oder arbeitsplatzschaffende Industrien investieren, wenn mit Immobilien und ­Aktien höhere Renditen erzielt werden können? Da dieser ­Zustand den Interessen von vermögenden älteren Menschen dient, ist es kein Wunder, dass sie dazu tendieren, für mehr davon zu stimmen – auch wenn eine wachstums- und zinsschwache Welt mit hohen Vermögenspreisen der jungen Generation nur ­wenig Hoffnung bietet. Die derzeitige pandemiebedingte Wirtschaftsrezession hat dieses Wirtschaftsmuster sogar auf neue ­Höhen getrieben.

«Die mit der ‹Realwirtschaft› verbundenen Indikatoren und

die Indizes des Finanzsektors vermitteln ein ganz unterschiedliches Bild

vom Zustand der Welt, der Wirtschaft und unserer Zukunft.»

Am 12. August gaben die britischen Behörden bekannt, dass das Land offiziell in eine Rezession gefallen und das BIP zwischen April und Juni um 20,4 Prozent geschrumpft sei. Es ist der grösste Rückgang dieser Art seit Beginn der Aufzeichnungen. Am selben Tag, an dem diese katastrophale Nachricht verkündet wurde, stieg der Wert des FTSE 100 um 2 Prozent. In einer ähnlichen ­Entwicklung auf der anderen Seite des Atlantiks erreichten sowohl die Aktienkurse als auch die Arbeitslosenquote in den USA ihr Rekordniveau. Die paradoxen Bewegungen an den Aktienmärkten widerspiegeln kaum eine optimistische Grundhaltung der Anleger gegenüber der Zukunft des jeweiligen Unternehmens; viel eher zeigen sie die Erwartung der Investoren auf eine fortgesetzte staatliche Unterstützung des Sektors. Die mit der «Realwirtschaft» verbundenen Indikatoren und die Indizes des Finanzsektors vermitteln ein ganz unterschiedliches Bild vom Zustand der Welt, der Wirtschaft und unserer Zukunft.

Das Ende der Meritokratie

Thomas Pikettys rigorose statistische Analyse «Kapital im 21. Jahrhundert» von 2014 zeigte eine Grundtendenz im Kapitalismus: Die Erträge aus dem Besitz von Vermögenswerten sind grösser als das Wachstum der Wirtschaftsproduktion und der Einkommen. Ohne politische Gegenmassnahmen kommt somit dem Finanzkapital und dem Besitz von Vermögenswerten ein immer grösserer und dominanterer Teil der Wirtschaft zu. In der Geschichte des Kapitalismus war der lange Boom nach dem Zweiten Weltkrieg, den die Franzosen «Les Trente Glorieuses» nennen, die einzige Ausnahme von dieser Regel: In dieser Zeit wurde die Finanzwirtschaft unterdrückt, die Ungleichheit schrumpfte und es wurden höhere Wachstumsraten als zuvor oder danach verzeichnet. Diese meritokratischere Ära, in der die Babyboomer aufwuchsen, prägt bis heute ihr Weltverständnis.

«Für den Lebensverlauf junger Menschen unter 40 Jahren

gewinnt der Zugang zu Vermögensbesitz durch Erbschaft

oder eine Schenkung von Verwandten

gegenüber dem Arbeitseinkommen an Stellenwert.»

Als sich die meritokratische Ära in den 1980er und 1990er Jahren auflöste, profitierten ein oder zwei Generationen vom daraus resultierenden Anstieg der Vermögenspreise. Bis in die 2000er Jahre hatten die Hauspreise jedoch ein so astronomisches Niveau erreicht, dass nur eine laxe Kreditvergabe das Modell am Laufen halten konnte. Weil die Blase 2008 plötzlich platzte, konnten junge Menschen, die auf sinkenden Löhnen sitzen blieben, nicht mehr am Saus und Braus vergangener Tage teilnehmen.

Eine besorgniserregende Entwicklung bahnt sich an: Für den Lebensverlauf junger Menschen unter 40 Jahren gewinnt der ­Zugang zu Vermögensbesitz durch Erbschaft oder eine Schenkung von Verwandten gegenüber dem Arbeitseinkommen an Stellenwert. Die unausweichliche Ungerechtigkeit dieser Situation macht es schwierig, Vorstellungen von Meritokratie oder andere Rechtfertigungen für die gegenwärtigen Ungleichheiten aufrechtzuerhalten. In einer verengten Welt der Stagnation und der enttäuschten Erwartungen verliert die Jugend ihre wirtschaftlichen Perspektiven: Der einzige Ausweg besteht darin, die Wirtschaft grundlegend zu reformieren. Es ist die Logik der Situation, die die Jugend nach links drängt.

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