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Der Ausverkauf von London

«Bumm!» statt Boom: der britische Schriftsteller John Lanchester hat einen Bestseller über die Finanzkrise geschrieben. Statt auf Zahlen und Fakten setzt er auf literarisierte Einzelschicksale und zeigt: Nichts ist mehr sicher. Auch dort nicht, wo es Geld regnet.

Der Ausverkauf von London
John Lanchester, photographiert von Michael Wiederstein.

Herr Lanchester, Sie haben mit «Kapital» einen Roman über die Auswirkungen der Finanzkrise geschrieben. Er spielt aber nicht in der Chefetage von Fannie Mae und Freddie Mac, sondern in einer Strasse im Londoner Süden. Wieso London?

Die Idee, einen Roman über die Londoner Bankenwelt zu schreiben, hegte ich lange Zeit. Ich habe einen Essay zu dem Thema geschrieben und dann immer wieder an diesem Roman gearbeitet. London, Geld, Banken – das sind drei Themen, die sich zwischen 2007 und 2008 zu einem explosiven Gemisch vermengt haben, denn: Diese Stadt wird gerade ausverkauft. Da ist ein Riesenschild über der Themse aufgespannt, und auf dem steht «SALE».

London wird verkauft?

Ja, und wir haben eine bildhafte Diskursverschiebung, einen Zoom-out, würde man im Kino sagen. Statt in die Stadt zu fahren, um in den eleganten Kaufhäusern einzukaufen oder davon zu träumen, ist heute die ganze Stadt zu einem Kaufhaus geworden. Die Strassen sind Regale und die Häuser darin die Waren, die feilgeboten werden. Die Folge ist die Preisexplosion für Immobilien, wie wir sie in London erleben. «Kapital» berichtet davon.

Und diese Entwicklung nehmen die Londoner einfach so hin?

Nein, natürlich ist das in London und für die Londoner ein gewaltiges Problem. Eine existentielle Frage des Selbstwertes und der eigenen Daseinsberechtigung sogar. Stellen Sie sich vor: Früher hatte man elegante Visitenkarten, so wie in «American Psycho». Gewiss können Visitenkarten teuer und exklusiv sein, heute haben die Menschen ihre Häuser, ihre Lofts, ihre Appartements, mit denen sie angeben. Sie befinden sich in einem Rennen um die besten Wohnungsvisitenkarten. Das heizt den Immobilienmarkt an. Und irgendwann hält der vermeintlich erloschene Vulkan mit den ganzen Immobilien dem Druck nicht mehr stand. Genau das ist 2008 passiert. Die ganze Blase ist explodiert. Bumm!

Können Sie das «Bumm» genauer erläutern? Was genau ist passiert?

Nicht einmal reiche Banker konnten noch ihre Hauskredite bedienen, so dass sie ihre Häuser verkaufen mussten. Die bereits bestellten Luxusmöbel konnten nicht mehr bezahlt werden, so dass die Verkäufer auf der überteuerten Ware sitzenblieben. Und die Ehefrauen, die sonst nur Schönheitssalons, Kurzurlaube in Gesundheits-Spas und Champagnerabende kannten – das zu beschreiben machte mir besonderen Spass –, mussten plötzlich selbst auf ihre verzogenen Kinder aufpassen.

Ist denn diese Entwicklung tatsächlich so tragisch?

Nein. Die Tragik des Ganzen liegt offensichtlich nur in dem rein materialistischen Exzess dieses Lebens. Und daher ist der Wegzug aus der City, das Ende von Pomp and Circumstance auch für viele eine zweite Chance, auch für die Bewohner von Pepys Road. Denn Pepys Road ist ein Leben unter der Glocke, und von oben regnet es beständig nur Pfund.

Lassen Sie uns genau da einsteigen: bei dieser fiktiven Pepys Road, durch die in «Kapital» alle sechs oder sieben Erzählstränge gerahmt werden. Alle Protagonisten des Buches haben mit dieser Strasse zu tun: Die einen leben da, die anderen arbeiten in der Strasse. Verhalten Sie sich als Autor nicht stereotypisch, sagen wir, wenn Sie hier vor allem polnische Arbeiter, ungarische Kindermädchen oder eine illegale Asylbewerberin aus Simbabwe beschreiben?

Ich meine nicht, dass ich stereotypisiere, im Gegenteil. Ich habe einmal eine polnische junge Frau im Pub bei mir um die Ecke kennengelernt, eine promovierte Kinderpädagogin. Aber statt als gut ausgebildete Fachkraft zu arbeiten oder zu forschen, suchte sie eine Anstellung als Kindermädchen. Diese Relativität zwischen Ausbildung und Herkunft ist erschreckend.

Ist das denn in London spürbarer als anderswo?

Wissen Sie, dass die Auswanderung von Polen nach Grossbritannien zu den grössten Völkerwanderungen in der Geschichte der Neuzeit zählt? Da gehört es zur gelebten Wirklichkeit der Britischen Inseln, dass es sehr viele Menschen mit polnischem Migrationshintergrund gibt. Und für viele Polen und Menschen aus den Nachbarländern hat sich London zu einem Mekka, einem irdischen Paradies entwickelt. Ich nenne das The London Dream – eine Welt, die glitzert und strahlt und scheint und die bewohnt wird von einer neuen Gesellschaftsklasse der Hoffenden und Träumenden. Und so auch Matya …

…das ungarische Kindermädchen…

…richtig. Das Bezeichnende bei Matya ist ja, dass sie sich die ganze Zeit nicht sicher ist, welchen Traum sie leben möchte. Einerseits ist sie ein wenig vernarrt in ihren Arbeitgeber und dessen Kinder, findet den Luxus des Hauses – im wörtlichen Sinne – bezaubernd. Und dann taucht da der polnische Handwerker auf, Zbigniew, der einen ähnlichen Migrationshintergrund hat wie sie. Zbigniew und Matya, das ist mehr als eine stereotype Romanze, es ist ein neues Kapitel der Londoner Gesellschaft.

Zugestanden. Aber: Simbabwe?

Mein Vater ist in Simbabwe geboren, wie überhaupt immer wieder Familiäres in «Kapital» wiederklingt. Erinnern Sie sich an den Fussballer aus Ghana?

Sie meinen die Geschichte des Jungen, der nach London kommt, um in der Premier League zu spielen, und bei einem seiner ersten Einsätze…

Genau! Ich habe selbst einige Jahre als Fussballjournalist gearbeitet. Dieser andauernde Zusammenprall der Welten hat mich immer fasziniert: Da sind gerade noch Kinder, die nur eine einzige Sache können, und dann dieses brutale Spiel, dieses brutale Geschäft. Wir leben aus sportlicher Sicht in einer Epoche der Massentyrannei. Aber um noch mal auf London zurückzukommen, auf die Pepys Road…

Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche, aber warum heisst Pepys Road, die Strasse, in der sich alles abspielt, in der die einzelnen Erzählstränge gebündelt werden, eigentlich Pepys Road?

(lacht) Das war als Insider gedacht. Wir Engländer sind ja besonders: Nach sterblichen Menschen wie Schriftstellern und Dichtern benennen wir unsere Strassen nicht. Da muss man schon hochwohlgeboren sein, um ein Strassenschild zu zieren. Also dachte ich: In London heisst gewiss keine Strasse nach dem Tagebuchautor der Restaurationszeit Samuel Pepys. Dachte ich jedenfalls. Aber: es gibt, das fand ich später heraus, sogar zwei Pepys Roads in London.

Und warum gerade Pepys?

Für Londoner ist die Beschreibung des Viertels mit dem Common, dem sozialen Wandel und den unterschiedlichen Bevölkerungshintergründen eindeutig als Clapham zu identifizieren. Und Clapham wiederum ist der Stadtteil, in den einst Samuel Pepys – damals war Clapham ein rührendes Dorf am Südufer der Themse – nach seiner Pensionierung gezogen und wo er gestorben ist.

Ist Ihre Pepys Road also eine Blaupause Londons?

Ja, weil es in London mit der Regelmässigkeit des unvorhersehbaren Wetters auch immer neue soziale Klassen und Gruppierungen gibt. Und mit diesen unterschiedlichen Figuren wurde Pepys Road bevölkert.

Eine dieser Figuren ist der Banker Roger. Wie er zunächst unbedarft in den Tag hineinlebt mit Frau und Kindern und wie diese Scheinwelt zusammenbricht, das ist schon eindrücklich. – Haben Sie das Gefühl, dass es in London eine kontinentale Bankerschwemme gibt?

Ich spreche in der Tat gern von «den Bankern vom Kontinent». Die sieht man in London am Wochenende nur mit Cashmerepulli, der dann auch noch so betont locker um die Schultern geschlagen wird. Das ist überhaupt so etwas wie das Markenzeichen der kontinentaleuropäischen Banker: der Cashmerepullover, eine Art Uniform. Viele sprechen ja auch von der Kontinentalisierung Londons oder der Wimbledonisierung. Damit ist es aber, und gerade diesen Epochenwechsel wollte ich einfangen in «Kapital», vorbei.

Sie meinen: London hat den Gipfel des Erfolges und des Wachstums überschritten?

Nein. London wird kosmopolitisch bleiben. Aber die Londoner Finanzwelt ist jäh erschüttert. Es ist nicht mehr so wie früher – dabei war dieses «früher» erst vor einigen Jahren, vor der Finanzkrise von 2008. Der Crash der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers hat viele Londoner aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Viele hielten bis dahin ein Wachstum ohne Grenzen für selbstverständlich. Ebenso die stetige Teuerungsrate und die stetige Gentrifizierung eines Stadtteils nach dem anderen – siehe Clapham und: Pepys Road.

Dann ist «Kapital» also ein Londoner Gesellschaftsroman zu Beginn des 21. Jahrhunderts und kein Finanzkrisenroman?

Es ist ein historischer Roman, würde ich meinen. Der Kosmopolitismus, der in London sicherlich sehr gut zu spüren ist, ist ja eine Conditio humana der Moderne. Das Gefühl des displacement, von dem auch immer etwas Unheimliches ausgeht. Und trotzdem kann niemand sagen: Ich komme von nirgendwo. Jeder von uns, und sei es auch nur auf überhöhte, virtuelle Art und Weise, trägt ein Woher, also irgendeine Form von Heimatlichkeit, in sich.

Und wo kommen Sie her?

Ich bin ein Gewächs der britischen Geschichte, schon sonderbar: in Hamburg geboren, dann aber in Hongkong aufgewachsen, weil mein Vater stets in Übersee gearbeitet hat – wenn Sie so mögen, ist mein Heranwachsen das historisch entzerrte Bild des heutigen London. Früher waren die Londoner, die Engländer, die Briten in der weiten Welt unterwegs und mit ihnen das britische Kapital.

Diese multinationale Vielschichtigkeit ist im Buch deutlich spürbar. Die unterschiedlichen Akzente, der kulturelle und ethnische Schmelztiegel. Vielleicht stellte ich mir deswegen wiederholt vor, wie der Roman verfilmt werden könnte. Gibt es Pläne?

Nein, soweit ich weiss. Zumindest keine konkreten. Ich zweifle stark daran, dass eine Verfilmung glücken könnte.

Wieso?

Ich müsste dann die Kontrolle abgeben, und das tun Schriftsteller nur sehr ungern bei ihren Büchern. Aber andererseits: Kennen Sie die Serie «The Wire»? Da wurden sehr geschickt aus unterschiedlichen Perspektiven Baltimore sowie die gesellschaftlichen Strukturen der Stadt, im kriminellen Milieu, gezeigt. Vielleicht liesse sich eine Art Miniserie aus «Kapital» machen?

Mit dem richtigen Konzept bestimmt. Als Sie mit dem Schreiben von «Kapital» anfingen, hatten Sie da auch ein bestimmtes Konzept vor Augen?

Ich wusste immer, dass ich es mit einer Strasse zu tun haben würde. Und in dieser Strasse würde es dann Familiencluster geben. Ich habe ein Computerprogramm genutzt, um die einzelnen Erzählabläufe zu überblicken, und konnte die jeweiligen Sequenzen hin und her bewegen, untereinander austauschen, so dass sich eine Gesamtstruktur entwickelte.

Haben Sie die einzelnen Episoden zunächst als Ganzes geschrieben und dann gesprengt? Oder wie gingen Sie vor?

Nein, ich habe chronologisch jedes Kapitel geschrieben, ausformuliert, ohne zurückzublicken. Das ist eine schwierige Aufgabe. Natürlich möchte man hie und da Änderungen vornehmen, beim Schreiben entsteht ja erst der Sinngehalt des Textes. Aber ich habe mir bei «Kapital» ein programmatisches Ziel gesetzt, eine andere Art des Ich, und an diesem Ich habe ich bis zum Schluss festgehalten. Alles andere wäre für den Leser wohl sehr bedrückend – wenn er spürt, dass die Erzählung nachträglich geteilt und verzerrt wurde. Hingegen ist die Diskontinuität des Episodischen reiner Sauerstoff – sowohl für den Autor als auch für den Leser.

Hatten Sie keine Abstürze?

Die Struktur war mein roter Faden, meine Versicherung gegen Sackgassen, also: nein. Im echten Leben sind Sackgassen ja noch in Ordnung. Aber für den Autor sind sie Ausfluss vergeudeter Energie und vergeudeter Zeit.

Und mit den Figuren…

… hantierte ich wie mit Billardkugeln! Sie alle sind gleich gewichtet. Ich habe mir also Mühe gegeben, keine der Figuren zu sehr in den Vordergrund zu stellen, ihnen allen die gleiche Masse zu verleihen, so dass sie, wenn sie denn zusammenstossen, sich auch gegenseitig abstossen.

Ein schönes Bild. Aber: Wenn der Schreibprozess bei «Kapital» so unproblematisch war, wie Sie ihn hier darstellen – wo lag dann der Reiz?

Ach, da gibt es eine Sache bei uns Engländern, beim englischen Roman überhaupt: Wir verfallen so leicht in moralisierenden Naturalismus. Davor musste ich mich immer wieder selbst schützen. Und ich sage Ihnen etwas: Es ist viel schwieriger, heute zu schreiben, als vor hundert Jahren.

Wie darf ich das verstehen? Sind die Leser anspruchsvoller geworden?

Nein, ich meine das Wesen des Textes. Stellen Sie sich vor, wir würden dieses Gespräch 1965 führen. Dann würden wir über den Linguistic Turn des zeitgenössischen Romans sprechen. Über Joyce vielleicht noch. Was wir heute tun müssen, ist, uns zunächst von der Leserschaft wegzudrehen, um uns dann ihr aufs neue zuzuwenden. Es gibt keine intimere Beziehung als die zwischen Autor und Leser. Denn die Welt da draussen ist beim Schreiben immer präsent, teils in Liebe zugewandt, teils in Hass.

Zählen Sie dazu auch Ihre Schriftstellerkollegen?

Das ist ein Kapitel für sich. Wir angelsächsischen Autoren entwickeln untereinander wenig gegenseitige Zugkraft. Das ist auf dem Kontinent anders. Vielleicht hat das etwas mit dem universalistischen Anspruch des englischsprachigen Romans zu tun.

Das müssen Sie erklären.

Gern. Gehen wir kurz zurück in der Zeit und schauen uns die grossen Romane des 19. Jahrhunderts an: die von Tolstoi, Dostojewski, Maupassant, Balzac, Flaubert. Ein Grossteil der Gespräche in diesen Büchern handelt von Kunst und Musik, und die Leser, die, sagen wir, um 1910 in London diese Bücher lasen, konnten lesen, gewiss, aber verstanden sie auch, worum es dabei ging – bei der beschriebenen Musik und der beschriebenen Kunst?

Wahrscheinlich nicht. Da sehen Sie einen Gegensatz zur genuin englischen Romantradition?

Vielleicht möchte ich diesen Gegensatz besonders gern sehen. Aber ich meine: ja; denn die Beziehung zwischen dem englischen Autor und seinem englischen Leser ist eine sehr eigensinnige. Beide leben in derselben Sphäre, während die Autoren und Leser auf dem Kontinent, vor allem bei den Franzosen, Bewohner zweier Sphären sind.

Wo liegen die Gründe für diese besondere Beziehung?

Genau das ist das Einzigartige: Den Ursprung dieses Pendels zwischen Autor und Leser müssen wir in unserem eigenen Vorgarten suchen: in London, in Clapham, in den Strassennamen, die in Wirklichkeit Marlborough und Oxford und Hanover heissen, statt nach Schriftstellern und Dichtern benannt zu werden. Dies ist der genius loci, von dem London seine Einzigartigkeit entwickelt und warum wir Autoren so verliebt sind in diese Stadt. Denn als Autor greifst du nach London und meinst, sie in einem Roman wie «Kapital» beschrieben zu haben, doch im nächsten Moment weisst du: London, dieser Proteus unter den Welthauptstädten, hat sich schon wieder gewandelt und wartet nur, aufs neue beschrieben zu werden.

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