Charlie Hebdo: stille Fragen in einer lauten Welt
Glauben mitteleuropäische Satiriker und Publizisten angesichts von Gewehren und Granaten wirklich noch an die Macht des Wortes? – Ist die Publikation anstössiger Cartoons heute ein mutiger Akt in einer angespannten Lage? Oder ist es Effekthascherei in einer empörungsbereiten Gesellschaft? – Fehlt es Terroristen und Satirikern gleichermassen an Phantasie? Während die einen jede Schmähung Mohammeds auf […]
Glauben mitteleuropäische Satiriker und Publizisten angesichts von Gewehren und Granaten wirklich noch an die Macht des Wortes? – Ist die Publikation anstössiger Cartoons heute ein mutiger Akt in einer angespannten Lage? Oder ist es Effekthascherei in einer empörungsbereiten Gesellschaft? – Fehlt es Terroristen und Satirikern gleichermassen an Phantasie? Während die einen jede Schmähung Mohammeds auf sich beziehen, glauben die anderen, dass selbst die grösste Provokation bloss noch eine Schlagzeile mit geringer Halbwertszeit bewirke. – «Charlie Hebdo» kommt aus der linken Ecke. Hätten sich die mitteleuropäischen Medienschaffenden ebenso solidarisch erwiesen, wenn ein rechtes Magazin aufgrund islamkritischer Publikationen attackiert worden wäre? – Dieselben, die nun die Meinungsfreiheit wortgewaltig verteidigen, tolerieren gemeinhin nur ungern Meinungen, die ihre gesellschaftlichen Glaubenssätze attackieren. Bemerken sie die eigene Scheinheiligkeit? – Ist es ein zivilisatorischer Fortschritt, die Bekundung von (dummen und falschen) Worten unter Strafe zu stellen, oder ist es ein barbarisches Relikt? – Kann die Verteidigung des Rechts auf freie Rede etwas anderes meinen als dies: die Freiheit zu verteidigen, dass Mitmenschen Meinungen äussern, die ich selbst nicht teile bzw. ablehne bzw. mit aller Vehemenz zurückweise? –Wo genau verläuft die Grenze zwischen Wort und Tat, zwischen Meinungsäusserung und Anstiftung zu Hass? – Satire darf alles, muss aber nicht alles. Ist das korrekt? – Wer hat das Recht zu entscheiden, wo der Spass aufhört? Der Sichbetroffenfühlende? Die Mehrheit? Die Richter? Oder mangels Alternativen eben: niemand?
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Wie hoch ist der Anteil der Atheisten unter Muslimen, in europäischen und muslimischen Ländern? Liegt er höher als unter Christen und Juden? Oder tiefer? – Wie hoch ist die Geburtenrate unter Muslimen, in europäischen und in den muslimischen Ländern? – Wie hoch ist die Quote junger muslimischer Männer, die Statusphantasien entwickeln, ohne sich zuzutrauen, sich Status durch Leistung zu verdienen? Und wie hoch ist die Quote jener, die wollen, aber nicht können? – «Was auf der Langzeitagenda steht, ist die Europäisierung des Islams, nicht die Islamisierung Europas.» (Sloterdijk, 2006) Wie weit ist das Projekt gediehen (Stand 2015)? – Ist die Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen auf der Basis eines abstrakten Weltethos vorstellbar? Oder braucht es hierfür die Definition einer konkreten heimischer Leitkultur? – Besteht Aussicht, dass sich die Bewohner europäischer Länder auf eine Leitkultur zu einigen vermögen? – Wer von jenen, die sich auf die «christliche Kultur» berufen, hat die Bibel gelesen? – Wer von jenen, die sich auf «unsere Werte» berufen, hat sich jemals für Werte interessiert? – Ist «Verfassungspatriotismus» bloss ein weiteres Nebelwort? Oder ist es die vage Ahnung einer Lösung?
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Sind Islamisten die Feinde des Islams? Oder ist der Islam der Feind der Muslime? – Wer hat den Koran wirklich von A bis Z gelesen: die praktizierenden Muslime oder die praktizierenden Gewalttäter? – Wird die in europäischen Medien kanonisch gewordene Unterscheidung zwischen Islam (gut) und Islamismus (nicht gut) von Muslimen geteilt? – Die Mörder von Paris gaben vor, die Diffamierung Mohammeds zu sühnen. Warum begnügen sie sich nicht damit, auf die in ihren Augen Ungläubigen herabzublicken? – Das eigene Leben ist in westlichen Gesellschaften das höchste Gut. Und der eigene Tod ist das, was sich nicht tauschen lässt. Gilt diese Prämisse nicht mehr, müssen alle Sicherheitssysteme neu gedacht und gebaut werden? Die grosse Frage ist: Wie lassen sich Leute stoppen, denen ihr eigenes (irdisches) Leben nichts bedeutet, die also jederzeit bereit sind, es für ein höheres Gut zu tauschen? – Neigt, wer das eigene Leben als das höchste Gut betrachtet, zur Feigheit oder zum Wagemut? – Macht Freiheit müde? Macht die Bedrohung der Freiheit wach?
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Wird in den heutigen Mediengesellschaften nur noch gehört, wer schreit? – Wie viel Lärm braucht es, bis das stille, das überlegte Wort wieder gehört wird?