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Malala

Sie sitzen auf weissen Plastikstühlen und warten. Jede hält ein Photo in den Händen, das durch eine Plastikhülle ­geschützt ist. Alle tragen die Schuluniform, einen blaukarierten Kamiz, eine weisse Hose sowie eine kurze Dupatta, die Haar und Schultern bedeckt. Von den Gesichtern ist kaum etwas zu ­sehen, ein paar Nasenspitzen, Augenbrauen, zwei Brillengestelle, ein Haaransatz. […]

Malala

Sie sitzen auf weissen Plastikstühlen und warten. Jede hält ein Photo in den Händen, das durch eine Plastikhülle ­geschützt ist. Alle tragen die Schuluniform, einen blaukarierten Kamiz, eine weisse Hose sowie eine kurze Dupatta, die Haar und Schultern bedeckt. Von den Gesichtern ist kaum etwas zu ­sehen, ein paar Nasenspitzen, Augenbrauen, zwei Brillengestelle, ein Haaransatz. Von oben ist die Verhüllung nahezu perfekt. Alle sehen sie einander gleich. Und dennoch zeigen sich auf­fällige Unterschiede.

Gesellschaft beginnt nicht mit den Worten der Sprache, sondern mit dem Verhalten der Arme, Beine und Köpfe. So starr und gleichförmig die Ordnung der Stühle, keine Schülerin sitzt wie die andere. Eine hebt die rechte Hand; ihre Nachbarin hat sich ihr ganz zugewandt und schirmt das Gesprächsreservat mit dem Rücken ab. Beide bilden ein exklusives Paar. Alle anderen sind mit sich allein; sie sind einzig für sich. Folgt man den Vektoren der Blicke, ist kein Brennpunkt der Gegenseitigkeit auszumachen. Ein Mädchen in der Hinterreihe hat die Beine übereinander­geschlagen und wippt gelangweilt mit der linken Fussspitze. Ob ihre Nachbarin zur Rechten gerade etwas sagt, ist ungewiss. Zwar drehen zwei Mitschülerinnen den Kopf nach links, während aus der Vorderreihe ein Mädchen zurückschaut, doch treffen die Blicke nicht aufeinander. Alle scheinen nach einem Gegenüber zu suchen, nach einem Fixpunkt, einem Wort, einer Bemerkung, welche die flottierende Aufmerksamkeit fesseln könnte. Obwohl sich die Körper nicht an die serielle Raumordnung halten, wirkt das Nebeneinander wie ein Käfig der Isolation. Wo Menschen warten müssen, bietet noch das geringfügigste Ereignis einen Reiz, eine Abwechslung im Nichts der langen Zeit. Sonst bleibt nur die ungeduldige Suche – oder das Schicksal der Einsamkeit. In der Vorderreihe sitzt eine Schülerin, hält das Photo mit beiden Händen fest – und tut nichts. Sie hat die Suche bereits aufgegeben, hat keinen Zugang mehr zum Rest der Welt.

Die Gesellschaft der Wartenden kennt keinen Mittelpunkt. Das visuelle Zentrum des Photos ist nicht eine Person, sondern ein Photo, ein Bild im Bild. Es zeigt das Antlitz einer Abwesenden. Jede hält ein Bild der 14jährigen Malala Yousafzai in Händen, einer pakistanischen Schülerin, die auf dem Schulweg von den Taliban gezielt in Kopf und Hals geschossen wurde, weil sie sich im Swat-Tal, einer Hochburg der Islamisten, in Blogs und öffentlichen Aufrufen für das Bildungsrecht junger Mädchen eingesetzt hatte. Schon mit elf Jahren hatte Malala unter Pseudonym auf einer Website der BBC berichtet, wie im islamischen Gottesstaat das Hören von Musik verboten war und alle Mädchen aus der Schule verjagt wurden. Von der Regierung erhielt sie 2011 den nationalen Friedenspreis. Das Attentat löste weltweit Entsetzen aus. Nach den ersten Operationen wurde das schwerverletzte Mädchen nach Birmingham ausgeflogen. Dort wurde sie in einem Hospital behandelt, das auf Schuss- und Kopfwunden spezialisiert ist. Zudem bot ihr die Klinik Schutz, da die Islamisten gedroht hatten, sie wegen der «Verbreitung westlichen Denkens» erneut anzugreifen.

Auf dem Zwischenstopp in Abu Dhabi besuchte der örtliche Gesandte die Patientin im Flugzeug. Um ihr Mitgefühl und ihre Anerkennung, ja Bewunderung zu bekunden, versammelten sich die Schülerinnen der arabisch-pakistanischen Schule vor der Botschaft. Sie sangen Lieder, hielten Photos von Malala hoch und beteten für sie. Das Photo zeigt die Wartesituation vor der jungfeministischen Demonstration.

Jede Schülerin hat ein Bild von Malalas Gesicht in Händen. Wegen ihr sitzen sie da. Doch keine betrachtet das Photo, zwei haben sogar achtlos die Rückseite des Ausdrucks nach oben gekehrt. Nur der Betrachter blickt auf die Aufnahme. Es ist das einzige Gesicht, das er sehen kann. Vielleicht meiden die Schülerinnen den Anblick des Photos. Denn dem Gesicht wohnt eine ungeheure Aufforderung inne. Sie halten nicht nur ein Bild in der Hand, sondern ein Vorbild, dessen Mut und Tapferkeit die allermeisten überfordert.

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