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Kein Zurück mehr

Gegen die Bürgerferne hilft nur ein neuer «Kontrakt für Europa». Eine politische deutsche Sicht.

Kein Zurück mehr

Fällt der Euro – fällt die Europäische Union (EU)? Diese Gefahr, von Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel beschworen, ist in jüngster Zeit immer deutlicher zutage getreten. Wenn die für die Währungsunion Verantwortlichen zögern und zaudern, wankt die EU. Und die europäische Idee – Einheit in Verschiedenheit – verliert mehr und mehr an Attraktivität. Das zeigt sich nicht nur in den Strassenschlachten von Athen oder den Demonstrationen von Madrid. Von Nord bis Süd formiert sich auf dem Kontinent Widerstand gegen die eine, die wirtschaftlich gemeinsam handelnde und aussen- und sicherheitspolitisch mit einer Stimme sprechende EU. Noch sind es die «Dagegen»-Maulhelden, die die Szene beherrschen: gegen Griechenland, gegen den Euro, gegen die EU, gegen jedweden Schritt über bisherige Grenzen. Aber niemand sollte sich Täuschungen hingeben: so viel Distanz von immer mehr Bürgern gegenüber dieser Union war noch nie.

Die Entfremdung hat Gründe. Und sie sind nicht nur in Griechenland, Portugal oder Irland zu suchen. Es zeigt sich vielmehr, dass der schlaue Ausweg, auf den Europas Regierende nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in den Niederlanden und Frankreich verfielen, eben nur politisch schlau war, die Bürger der EU jedoch nicht einmal im Ansatz zu überzeugen vermochte. Der Vertrag von Lissabon, der den grossen, aber im ersten Anlauf gescheiterten Versuch einer europäischen Verfassung ersetzen sollte, ist ein staatsvertragliches Monstrum, emotionslos und für politische Laien kaum verständlich.

 

Er heisst Herman Van Rompuy

Es hat von keiner Seite den Versuch gegeben, dem Ganzen etwas Leben einzuhauchen. Ganz im Gegenteil: die EU hat jetzt nicht etwa einen, sondern drei statt bisher zwei Präsidenten. Zum Kommissionspräsidenten und dem halbjährlich wechselnden EU-Präsidenten gesellt sich nun auch noch der ständige Ratspräsident. Herman Van Rompuy heisst er. Bei einem abendlichen Dinner haben ihn die vereinten Staats- und Regierungschefs vor Jahr und Tag ausgeguckt. Man mag darauf wetten: für mindestens 90 Prozent der EU-Bürger ist er bis heute ein Unbekannter geblieben, und Henry Kissingers berühmte Frage, wie denn die Telefonnummer Europas laute, bleibt weiterhin unbeantwortet.

Viele reden. Drei Präsidenten, 27 Kommissionsmitglieder, 27 Staats- und Regierungschefs. Aber: keiner spricht allein für die EU. Und vor allem: keiner spricht zu einer europäischen Öffentlichkeit. Denn die gibt es nicht – das ist ein grosses europäisches Manko.

Und es gibt ein europäisches Paradoxon: in Brüssel und Strassburg wird heute mehr und Bedeutenderes entschieden als in den nationalen Parlamenten – von den Landesparlamenten deutscher Prägung ganz zu schweigen. Wirtschaft und Finanzen, Währung, Energie, Verkehr, Zuwanderung – alles Themenfelder, auf denen die EU jedenfalls wichtige Weichen stellt. Es sind weit über 50 Prozent, manche meinen, es seien bis zu 80 Prozent einer nationalen Rechtsetzung, die heute schon in den europäischen Zentren geprägt oder zumindest vorgeprägt und von den nationalen Parlamenten bloss noch nachvollzogen werden. Doch der Übergang der rechtsetzenden Macht vollzieht sich mehr auf dem Papier an den Brüsseler Schreibtischen als in der Lebenswirklichkeit der Menschen, im Zuge der europäischen Schuldenkrise sogar nur aus der «Kraft des Faktischen», weil «alternativlos», wie die deutsche Kanzlerin gelegentlich sagt, gewissermassen im Wege einer Revolution «von oben».

Wen wundert es da, dass sich in den jeweiligen nationalen Wahrnehmungsräumen Ohnmachtsgefühle breitmachen, und zwar unabhängig davon, ob die jeweils gesetzten europäischen Regeln sinnvoll oder sinnwidrig sind – wie beispielsweise bei den Sparlampen. In der Wahrnehmung einer zunehmenden Zahl von Bürgern scheint die EU – hektisch und hyperaktiv nach aussen – in Wahrheit einer nicht geklärten und nicht erklärten Zukunft entgegenzutreiben. So kommt es, dass sich immer mehr Menschen an das nächstliegende Nationale klammern. Die EU wird immer mehr, aber die europäische Idee verkümmert.

Der Lissabon-Vertrag hat nicht einzulösen vermocht, was bei Einführung des Euros von Regierungen und Parlamenten versprochen worden war, nämlich: dass der Währungsunion alsbald die politische Union folgen werde. Dies hiess im Kern, dass es zu einer gemeinsamen, eng koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik kommen müsste, um vor allem die Spannungen innerhalb der Währungsunion mit den sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der beteiligten Euroländer ausgleichen zu können. Es rächt sich nun, dass dies bis heute nicht stattfand. Und es zeigt sich: der Euro ist zwar stabil, die Verpflichtung der Europäischen Zentralbank (EZB) auf das Ziel der Geldwertstabilität war richtig und hat bis dato auch gehalten. Doch die begleitenden Regelungen mit dem Schuldenübernahmeverbot innerhalb der EU haben nicht gehalten, was sie versprachen, und ein drohender ungeordneter Staatsbankrott Griechenlands mit entsprechenden Ansteckungsgefahren für andere hat Brüssel bereits zu zwei grossen Kreditpaketen für Athen veranlasst.

 

Unheil droht

Die Staatsschuldenproblematik hält derzeit alle Industriestaaten in Atem von Japan über die USA bis zu den EU-Staaten. Auch wenn die Ursachen sehr unterschiedlich sind – in Japan standen am Anfang die hochverschuldeten Banken, in den USA die Privathaushalte und in Europa die Staatsbudgets im Zentrum –, so ist die «westliche Welt» doch verpflichtet zu verhindern, dass die Schuldenkrisen eskalieren. Die Lehman-Pleite hat uns allen die weltweiten Ansteckungsgefahren eines grossen Bankenbankrotts vor Augen geführt. Wenn die Märkte den Glauben daran verlieren, dass die Staaten ihre Probleme lösen können und wollen, dann droht allen Unheil. Entsprechend gelten heute von Japan bis Europa als politische Leitlinien des Handelns a) die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, b) strukturelle Reformen, die die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und Wachstum zu stimulieren in der Lage sind, und c) eine Stabilisierung des Finanzsystems, also die Geldinstitute in die Lage zu versetzen, die Wirtschaft ausreichend mit Geld zu versorgen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Allerdings lehrt ein Blick auf die wirtschaftliche Lage Griechenlands, dass konsolidieren, sparen und reformieren zwar notwendig, aber kaum hinreichend sein werden, ein derart angeschlagenes Land in eine einigermassen verlässliche Zukunft zu führen. Erforderlich sind Investitionen, um die im Land schlummernden Wachstumskräfte zu stimulieren und den Bürgern des Landes, namentlich den jüngeren Generationen bei all dem, was ihnen derzeit abverlangt wird, auch noch eine Perspektive zu vermitteln. Denn nur wer an die Zukunft glaubt, wird sie auch gewinnen können. Das ist bei den meisten, überwiegend nur noch finanztechnischen Diskussionen zwischen Brüssel und Athen viel zu lange verkannt worden. Dies mag der Hektik der Beratungen geschuldet sein, aber es kennzeichnet auch die bürokratische Abgehobenheit der europäischen Prozeduren, dass erst grundstürzende Gefährdungen der europäischen Währungsunion auftreten mussten, um den x-ten Brüsseler Gipfel erkennen zu lassen: eine Art «Marshall-Plan»-Hilfe für Griechenland kann die politische Lage dort erheblich entspannen und die wirtschaftlichen Perspektiven deutlich verbessern.

Die EU ist jetzt gefordert, endlich einzulösen, was bei Einführung des Euros versprochen wurde, also eine gemeinsame, eng abgestimmte Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie eine Fiskalpolitik mit einer Sanktionsautomatik für zuwiderhandelnde Staaten, die nicht mehr politisch ausgebremst werden kann. Nur so ist der Euro dauerhaft zu stabilisieren und seine Rolle als Währung der wirtschaftsstärksten Region der Welt im globalen Währungsgefüge angemessen zu verankern. Dabei liegt auf der Hand, dass ein gemeinsamer Binnenmarkt und ein entsprechend offener Binnenarbeitsmarkt auch eine gemeinsame Zuwanderungspolitik erfordern. Und ebenso, dass eine gemeinsame Wirtschaftspolitik so wichtige Aufgabenfelder wie die Energiepolitik, die Verkehrspolitik oder die Kommunikationspolitik umfassen muss.

Dies in einem «Kontrakt für Europa» auf den Begriff zu bringen und dafür um die Zustimmung der Bürger Europas zu werben, das ist die politische Aufgabe, um die es heute geht. Das mag schwierig erscheinen, zumal sich der momentane Mainstream gegen «mehr Europa» zu wenden scheint. Aber die Alternative wäre schrecklich. Sie würde zum ökonomischen Absturz für die meisten Euroländer führen und die politische Abdankung Europas vom globalen Geschehen bedeuten.

Die alten Schlagbäume existieren nicht mehr. Europa ist zu einem Kontinent der offenen Grenzen geworden. Und weder die Währungsströme noch der elektrische Strom, weder der Luftverkehr noch die digitale Kommunikation sind nationalstaatlich allein erfolgversprechend zu steuern. Da gibt es kein Zurück mehr. Und das ist auch gut so. Wir verdanken dies jenen, die nach dem Elend des Zweiten Weltkrieges den Mut und die Kraft hatten, die Idee eines Kontinents des Friedens und der Freiheit zu verwirklichen. Heute brauchen wir einen erneuten Kraftakt. Denn es geht um Elementares: diesem faszinierenden, friedlichen und freien, immer noch wirtschaftsstarken und innovativen Europa, in dem jedoch in drei, vier Jahrzehnten nicht einmal mehr ein Zehntel der Weltbevölkerung leben und arbeiten wird, einen angemessenen Platz in einer sich dramatisch verändernden Welt zu sichern.

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