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Rückkehr der Volksbelehrung
Jochen Staadt. Bild: www.fu-berlin.de.

Rückkehr der Volksbelehrung

Angesichts des gegenwärtigen politischen Gleichklangs, der in vielen deutschen Medien vorherrscht, lohnt es sich, an die einstmals scharf ausgetragenen Debatten in der alten Bundesrepublik zu erinnern. Die Meinungsbildung in der DDR ist ein historisches Beispiel dafür, wie in der ­Öffentlichkeit bestimmte Linien und Konformität durchgesetzt werden.

 

Bis zum Sturz des SED-Regimes verbreiteten die Medien im kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands die regierungsamtliche Einheitsmeinung. Die dort beschäftigten Jour­nalisten taten das aus Überzeugung oder weil sie gar keine andere Wahl hatten, wenn sie ihren Beruf nicht aufgeben wollten. Wer sich widersetzte, musste gehen. Die meisten DDR-Bürger begegneten der Berichterstattung des staatlichen Rundfunks und der Presse mit Skepsis oder wanderten nach Arbeitsschluss via ARD und ZDF in den Westen aus. Nach geheimen SED-Umfragen ­hörten 1987 nur noch 29 Prozent der DDR-Jugendlichen heimische ­Radiosendungen. Das westdeutsche Fernsehen lieferte den Ostdeutschen die im eigenen ­Landesgebiet nicht zugänglichen Informationen aus aller Welt, Einblicke in eine andere Konsum- und Unterhaltungsindustrie und vor allem die Wahrnehmung einer politischen Streit- und Debattenkultur, die es in ihrer DDR nicht gab.

Ältere Zeitgenossen erinnern sich noch an die leidenschaftlich ausgetragenen Bundestagsdebatten um Grundfragen des Gemeinwesens und Weichenstellungen für die Zukunft der Nation. In der DDR-Volkskammer gab es keine Kontroversen zwischen den dort vertretenen Blockparteien, im DDR-Fernsehen keine Streitgespräche zwischen Politikern, die unterschiedliche Meinungen vertraten, und keine Journalisten, die Ministern oder ­Parteifunktionären unbequeme Fragen stellten. Die medial verbreitete Einheitsmeinung entsprach der Ideologie der herrschenden Einheitspartei. Die DDR-Medien verstanden sich als Teil des Volksbildungssystems.

Tendenzjournalismus mit Déjà-vu-Charakter

Die kritische Haltung von wachsenden Teilen des Publikums gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Bundes­republik Deutschland ist heutzutage in den ostdeutschen Gegenden weiter verbreitet als in den westdeutschen. Auch fällt die ­Zustimmung zu rechten und linken Parteien, die sich system­kritisch aufführen, im Osten Deutschlands weit höher aus als im Westen. Obwohl die Ursachen dafür vielfältig sind, gibt es einen Zusammenhang mit der früheren Lebenserfahrung vieler ehe­maliger DDR-Bürger: die fortgesetzte Belehrung über das, was in der Welt als richtig und was als falsch zu erachten sei. Über Hintergründe, die zu abweichenden politischen Entscheidungen in anderen europäischen Staaten führen, erfahren die Zuschauer so gut wie nichts. Allenthalben ist es der grassierende Rechtspopulismus, der zur Erklärung herhalten muss. Die Wahrnehmung des in grossen Teilen der öffentlich-rechtlichen Medien verbreiteten Drangs zur politischen Volksbelehrung wird von vielen Ostdeutschen als Déjà-vu empfunden. Statt Nachrichten werden öffentlich-rechtliche Meinungen gesendet, die sich häufig im Spektrum der Regierungsverlautbarungen bewegen. Talkshowhalber sitzen sich ohnehin seit längerer Zeit immer die gleichen Leute mit ermüdenden Erklärungen ihrer andauernd richtigen Anliegen ­gegenüber. Aktuell behelligt eine Minderheit von journalistischen Besserwissern die Mehrheit des andersdenkenden Publikums mit der gendergerechten Stotterei des Sternchen-Innen-Sprechs.

«So wie DDR-Bürger vor 1989 medial in

den Westen abwanderten, suchen heute

eine wachsende Zahl von Interessierten

die neuen sozialen Medien auf, um sich

zu informieren oder anderen mitzuteilen,

was sie für wichtig halten.»

Die Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb), Patricia Schlesinger, wandte sich in einer ihrer Fensterreden jüngst gegen «vereinfachende Weltbilder, polarisierende Narrative und schlichte Schwarz-Weiss-Malerei» und reklamierte für ihren ­Sender einen «unabhängigen seriösen öffentlich-rechtlichen Journalismus». An anderer Stelle, in einem Interview in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», erklärte sie, «dass wir ohne Empörungsjournalismus arbeiten, unsere Quellen deutlich machen, für Transparenz und differenzierte Einordnung sorgen, ohne politische Präferenzen und ohne kommerzielle Interessen». Tatsächlich gibt es im Sendegeschehen noch einige Bereiche, für die das zutrifft. Überwiegend aber ist das nicht der Fall. Es wird zu «Demos» aufgerufen, die den Sendeverantwortlichen ein Anliegen sind und ins Weltbild passen, während Protestveranstaltungen von Andersdenkenden gar nicht ­gemeldet oder mit Häme überschüttet werden. Der früher im alten Westberlin ansässige rbb-Vorgänger, der Sender Freies Berlin (SFB), fand nicht zuletzt durch seine sachliche politische Berichterstattung eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung auf der anderen Mauerseite in der «Hauptstadt der DDR» und im Branden­burger Umland.

Migration in den digitalen Westen

Der von Jürgen Habermas in den frühen 1960er Jahren kritisch untersuchte «Strukturwandel der Öffentlichkeit» ist mit den digitalen sozialen Medien in ein neues Stadium eingetreten. So wie DDR-Bürger vor 1989 medial in den Westen abwanderten, suchen heute eine wachsende Zahl von Interessierten die neuen sozialen Medien auf, um sich zu informieren oder anderen mitzuteilen, was sie für wichtig halten. Die Verantwortlichen in ARD und ZDF reagierten darauf in jüngster Zeit mit Überlegungen zu einer Programmreform. Die Intendantin von Radio Bremen, Yvette Gerner, schreibt in einem FAZ-Beitrag, der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse «das Sendenetzwerk stärker zum Kommunikationsnetzwerk» machen, «indem der Dialog mit dem Publikum und die Organisation von Debatten einen wichtigen Stellenwert einnehmen». Der Austausch zu wichtigen Themen dürfe «dabei nicht den Kommentarfunktionen auf Facebook, YouTube, TikTok und in einzelnen Communities überlassen werden». Es ist bemerkenswert, dass die Bedeutung der «Organisation von Debatten», eine der früheren Stärken der «vierten Gewalt», nun auf der Verlustrechnung steht.

«Die Wahrnehmung des in grossen Teilen der ­öffentlich-rechtlichen

Medien verbreiteten Drangs zur politischen Volksbelehrung wird

von vielen Ostdeutschen als Déjà-vu empfunden.»

Die 1949 zur «Rettung der deutschen Nation» in der DDR ­gegründete «Nationale Front des demokratischen Deutschland» der Parteien und Massenorganisationen verhinderte bis zu ihrem gemeinsamen Untergang mit dem SED-Regime nicht die Verbreitung rechtsradikaler Gesinnungen in der DDR. Im Gegenteil, ihr plakativ zur Schau gestellter Antifaschismus motivierte Unzufriedene zur Fundamentalopposition unter Berufung auf virulente Versatzstücke der NS-Ideologie. Die heute von CDU bis Links­partei real existierende Front gegen die AfD hat den Aufstieg dieser rechten Partei nicht verhindert. Statt der öffentlich-rechtlichen Verbreitung von guter Gesinnung bedarf es guter ­Argumente zur Einhegung rechtsextremer und verschwörungstheoretischer Ansichten. In ihrer Aufbruchszeit übernahm die westdeutsche Neue Linke 1965 die Forderung des «Free Speech Movements» aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, dass jedermann ­jederzeit an jedem Ort zu jeder Sache frei sprechen können müsse. Die zum Mainstream aufgestiegenen heutigen Erben der damaligen Revolte gegen konservative Tabuzonen sind längst selbst zu Aufsehern über Tabuzonen und sprachpolizeiliche Reglementierungen geworden. Als die Berliner Spitzenkandidatin der Grünen für die kommenden Abgeordnetenhauswahlen in einer Parteitagsrede davon sprach, sie habe als Kind davon geträumt, Indianer­häuptling zu werden, löste das einen Empörungssturm in ihrer Partei aus. Sie musste sich hernach für den angeblich beleidigenden Sprachgebrauch über indigene ­Völker entschuldigen.

Scheinheilige Diversität

Solcher Art des inkorrekten Umgangs mit gesellschaftlichen Minderheiten soll nach Auffassung der Bremer Rundfunkintendantin durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abgeholfen werden. Für die Intendantin besteht «eine der grössten Herausforderungen eines der gesamten demokratischen Gesellschaft verpflichteten Rundfunks in der Abbildung einer diversen Gesellschaft». Dazu sei die Vielfalt im Land stärker abzubilden, um «Menschen verschiedener Herkünfte, Hautfarben, Geschlechter, Bildung, Stadt, Land, Jung, Alt mit speziellen Angeboten zu erreichen». Das ist ein guter Vorsatz, indes ist die Realität im öffentlich-recht­lichen Rundfunk davon noch weit entfernt. Die deutsche Fussballnationalmannschaft wirbt effektiver gegen Alltagsrassismus und für die Akzeptanz gesellschaftlicher Diversität als der öffentlich-rechtliche Rundfunk.

Das noch zu Zeiten des Senders Freies Berlin 1994 eingeführte mehrsprachige Programm «Radio Multikulti» wurde am 31. Dezember 2008 aufgrund fehlender Finanzmittel vom rbb ein­gestellt. Am 18. Mai 2021 trommelte der rbb-Sender radio1 in mehreren Beiträgen für den «Diversity-Tag». Unter den rund 150 im Internet vorgestellten Moderatoren auf diesem Sendeplatz befinden sich drei mit nichtdeutschen Namen. Obwohl radio1 fort­gesetzt «Black Music» sendet und sich deren Musikkultur ganz selbstverständlich aneignet, gibt es keinen festen oder freien ­Mitarbeiter afrikanischer Herkunft bei radio1. Dabei leben und arbeiten etliche schwarze Musikerinnen und Musiker in Berlin, darunter einige ausgezeichnete Musik­kenner. Ob über Quoten­regelungen gesprochen werden muss, sei dahingestellt. Auf alle Fälle könnte der öffentlich-rechtliche Rund­funkbetrieb Deutschlands einiges von der unaufgeregt multikulturellen Schweiz lernen – und von deren Politik ohnehin.

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