Debatte (1) – Asien vor Augen
Vom Ende der christlich-sozialistisch-abendländischen Dogmatik oder Was Europa von Asien lernen könnte
Jeder Zeitungsschreiber, der etwas auf seine Weltläufigkeit hält, befasst sich heute mit der asiatischen Herausforderung. Irgendwie ist es auch bis in die Elfenbeintürme der selbstzufriedenen europäischen Intelligenz vorgedrungen, dass die Welt in ein asiatisches Zeitalter – ein asiatisches Jahrhundert – eingetreten ist.
Die Betroffenheit äussert sich als Bedrohtsein. Viele fühlen sich bedroht davon, dass immer mehr Güter und Dienstleistungen nicht nur des täglichen Bedarfs, sondern auch des gehobenen Preisniveaus aus Asien stammen. Bald werden diese Bedrohungen gar noch akuter, wenn Inder und Chinesen mit milliardenschweren Investitionen europäische Unternehmen und Banken aufkaufen werden. Doch all dies sind eigentlich leicht zu bewältigende Herausforderungen angesichts der ernsthaften kulturellen Bewährungsprobe, die den Europäern bevorsteht – die eigene tiefgreifende Wertekrise zu bewältigen.
Schwieriger als der Kalte Krieg
Der Kalte Krieg und dessen für viele überraschendes Ende werden gemeinhin als die bedeutendsten Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Bezeichnet wurde jene ferne Epoche als «Ost-West-Konflikt». Dabei wurde kaum beachtet, dass die Polarität primär mit geographischen und nicht mit kulturellen Parametern zu tun hatte. Schliesslich war auch die Sowjetunion von kulturellen und zivilisatorischen Werten geprägt, die im Okzident verankert sind. Dies gilt für die orthodoxe Kirche über den Reichsgedanken von Peter dem Grossen und Katharina der Grossen bis hin zum theoretischen und praktizierten Marxismus. Zwar waren die ideologischen Differenzen zwischen dem Westen und dem Ostblock abgrundtief, doch bei den Werten fand man sich im gleichen, von europäischen Navigatoren gesteuerten Boot wieder.
Dies alles ist heute ganz anders. Zunächst fällt es noch immer vielen Europäern schwer, die asiatische Renaissance als eine funda-mentale, dauerhafte Neuzuordnung von Macht und Reichtum ernst zu nehmen. Die Vorstellung von der Dekadenz des Orients hält sich hartnäckig, nicht zuletzt weil vom Ende des 18. Jahrhunderts bis gegen das Ende des 20. Jahrhunderts die beiden asiatischen Hochkulturen Indien und China sich in einer langen Phase des fremd- und selbstverschuldeten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Niedergangs befanden. Während nach dem Ende des Kalten Kriegs in Europa wieder das zusammenwuchs, was vor nicht allzu langer Zeit künstlich getrennt worden war, gibt es bei der asiatischen Renaissance niemanden, der von persönlichen Erfahrungen geprägte Kenntnisse über die Zeiten vor der asiatischen Dekadenz besitzt. Doch ein weiteres kommt hinzu. Der Umgang mit dem neu aufstrebenden Asien fällt uns umso schwerer, als von der Schulbildung über die Medien bis hin zu Universitäten in unseren Breitengraden ein penetranter Eurozentrismus vorherrscht. Wir leben in der Vergangenheit – statt in der Gegenwart.
Dabei täten wir gut daran, die asiatische Herausforderung nicht nur ernst zu nehmen, sondern als grosse Chance zu betrachten. In einer offenen Auseinandersetzung mit asiatischen Werten werden die Europäer nämlich eine Reihe liebgewordener kultureller und politischer Besitzstände kritisch hinterfragen oder gar vollständig aufgeben. Die Engstirnigkeit einer auf linksgestrickte politische Korrektheit abgerichteten europäischen Intelligenz dürfte jedoch eine einträgliche Nutzung dieser Chance vereiteln, weil sie um den Verlust ihrer «kulturellen Hegemonie» (Antonio Gramsci) – also ihrer Deutungshoheit – fürchtet.
Die grosse Chance Europas im asiatischen Zeitalter besteht nun in der Tat genau darin, dass die Fundamente seiner christlich-sozialistischen Identität wegbrechen. Die Arroganz der Europäer hat während den vergangenen zwei Jahrhunderten die Wahnvorstellung gefördert, dass es nur einen Entwicklungsweg geben könne, nämlich den von Monotheismus und Egalitarismus geprägten Fortschritt europäischer Provenienz.
Im Grunde genommen sind der Monotheismus und das Staatskirchentum unvereinbar mit dem politischen Pluralismus, der Gedankenfreiheit und der liberalen Marktwirtschaft. Die Maxime «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben» gehört zu den zehn biblischen Geboten und ist in ihrer Absolutheit die intellektuelle Basis der Intoleranz, die die Haltung der Christen gegenüber allen prägt, die sich ihrem monotheistischen Diktat nicht beugen wollen. Es mag sich dies in den letzten beiden Jahrhunderten nicht mehr in der gewaltsamen Verfolgung von Häretikern und Heiden niedergeschlagen haben, doch der Terror gegen die Freigeisterei dauert mit den Vorstellungen von der Erbsünde und der ewigen Verdammnis nach dem Tode bis heute fort.
Christentum und Marxismus
Der absolute Ausschliesslichkeitsanspruch des Christentums ist die Basis des kommunistischen Totalitarismus. Natürlich gibt es auch unter anderen Religionen Diktaturen, und die intellektuelle Rechtfertigung der Autokratie durch das Gottesgnadentum ist keine christliche Exklusivität. Doch ist es kein Zufall, dass die Saat des Marxismus, Kommunismus und Sozialismus auf dem Boden des Christentums und des Judentums aufgegangen ist. Nichtwestliche kommunistische Regime wie jene in Vietnam, China oder Nordkorea sind entweder ihrer eigentlichen Natur nach nichtmarxistisch oder sie haben den Marxismus aus dem christlichen Westen importiert.
Die Indoktrination mittels Predigt und Heiliger Schrift ist der Feind jeglicher Gedankenfreiheit. Dass heute in den westlichen
Demokratien die Kirche Andersdenkende nicht mehr mit Bann und Verfolgung bestrafen kann, ist nicht den christlichen Kirchen, sondern der weltlichen Bürgergesellschaft zu verdanken. Dass der Vatikan bis 1966 einen Index Librorum Prohibitorum führte, spricht doch Bände. Auch hier ist anzuerkennen, dass Zensur nicht ein christliches Privileg ist, doch verfügen die asiatischen Religionen wie Buddhismus, Hinduismus, Schintoismus oder Taoismus nicht über die Instrumente der Indoktrination, die die christlichen Kirchen häufig mit Hilfe des Staates aufgebaut haben. Kein Hindu, kein Schintoist, kein Buddhist käme auf die Idee, einer religiösen Behörde eine Steuer zu bezahlen. Man geht aus besonderen Anlässen in den Tempel oder in den Schrein und bezahlt für die konkreten Gegenleistungen, die man in der Form von Ritualen bekommt. Zudem ist es in den asiatischen Religionen nicht Aufgabe der Priester, den sie aushaltenden Glaubensgenossen Lektionen zu erteilen.
Besonders fatal hat sich der Monotheismus jedoch für die freie Marktwirtschaft ausgewirkt. Es wurde erwähnt, dass Marxismus, Kommunismus und Sozialismus die exklusiven Sprösslinge des Christentums sind. Es ist doch logisch: wer einer polytheistischen Religion angehört oder einem Glauben huldigt, der dem Menschen die freie Lebensgestaltung belässt, hat ein anderes, viel unbefangeneres Verhältnis zum Wettbewerb und zur unternehmerischen Freiheit als jemand, der sich in den Fängen des Monotheismus befindet. Es scheint doch nichts anderes als normal zu sein, dass ein Gläubiger, wenn seine Wünsche und Gebete von seinem Gott noch und noch abgelehnt werden, sich einen anderen Gott sucht. Weshalb soll man eine Institution aushalten, die bei der Erhörung der Gebete, bei der Transmission von Wünschen sich als ineffektiv erwiesen hat? Im Polytheismus liegt der Urgrund der Marktwirtschaft und damit das Wesen der unternehmerischen Freiheit, indem er den Menschen befähigt, auch in höchsten Dingen des Glaubens sein eigener Herr und Meister zu sein und in Eigenverantwortung seine Wahl unter mehreren Optionen zu treffen. Statt obrigkeitlich verordnetem Kadavergehorsam gilt im Polytheismus die Freiheit des Wettbewerbs.
Lange erhoffte Alternative
Wir haben nun endlich die lange erwartete und erhoffte Alternative zur christlich-sozialistisch-abendländischen Dogmatik – und zwar eine Alternative, die unserem Wertesystem erst noch überlegen ist, wie die rasante Verlagerung der Schwergewichte in der Weltwirtschaft eindrücklich demonstriert. Welches sind nun die Schlüsselwerte, die uns Asien offeriert? Wir erkennen sie in
einem hochentwickelten Sinn für Pragmatik und Toleranz, in einer Fokussierung auf Pflichten statt Rechte und Ansprüche sowie in der hohen Wertschätzung für Familie und Alter.
Pragmatik und Toleranz haben ihre Wurzeln in der vorherrschenden Religion und Kultur. Der Monotheismus muss mit ihnen von seiner ureigenen Natur her auf dem Kriegsfuss stehen. Wer als ein erstes Prinzip seines Glaubens die Absage an jeden anderen Gott hat, kann definitionsgemäss andere Götter, andere Religionen nicht als gleichwertige Alternativen akzeptieren. Dies widerspricht fundamental den asiatischen Traditionen, die im Hinduismus eine klassische polytheistische Religion und im Buddhismus, Taoismus sowie Schintoismus Religionen haben, die neben ihren eigenen Lehren andere als vollwertig akzeptieren. In Japan besitzen die meisten Menschen zwei Religionen, den Schintoismus für die schönen Seiten im Leben und den Buddhismus für alle Angelegenheiten, die mit Tod und Abdankung zu tun haben. In China sehen die meisten Menschen keinen Widerspruch darin, dass sie neben dem Buddhismus auch den Vorschriften der Weisheitslehre des Konfuzius folgen. Im Kosmos des Hinduismus gilt ohnehin, dass jeder nach seiner ureigenen Façon selig werden kann.
Blicken wir in der europäischen Geschichte zurück, so werden wir erkennen, dass in der Zeit der griechischen und römischen Antike in allen religiösen Dingen ein hohes Mass an Toleranz und Pragmatik bestand. Damals konnte man sich aus einem riesigen Olymp seine Lieblingsgötter auswählen, und vor allem die Römer übernahmen auch bedenkenlos fremde Götter aus anderen Kulturkreisen. Wir denken dabei nicht nur an die griechischen Gottheiten, sondern auch an ägyptische und – in der spätrömischen Zeit und mit weitreichenden Konsequenzen – an das Christentum. Im Mittleren Osten, in der islamischen Welt haben es die Europäer ebenfalls mit einer monotheistischen Religion zu tun. Die beiden mögen sich zuweilen in den Haaren liegen, doch verstehen sie sich bestens, da sie beide dieselben exklusiven Wahrheiten und die ausschliessliche Hoheit über ihre Anhänger für sich reklamieren.
Die Begegnung zwischen Europa und dem nichtislamischen Asien bietet demgegenüber ganz andere Perspektiven sowohl der friedlichen Kohabitation als auch der gegenseitigen Befruchtung. Wir wissen, dass die Asiaten, insbesondere die Japaner, bereits im 19. Jahrhundert folgsame Schüler eines europäisch geprägten Modernisierungsprozesses gewesen sind. Im 20. Jahrhundert haben viele asiatische Gesellschaften, vor allem auch die aufstrebenden Mächte Indien und China, sich den Westen, die USA und Europa zum Vorbild genommen. Kosmopolitische Städte wie Singapur, Hongkong und Schanghai wurden zu eigentlichen Vorposten des Westens. Die Frage stellt sich heute, ob nicht auch in umgekehrter Richtung ein profitabler Austausch von Werten erfolgen könnte.
Politische Herausforderungen
Ein Interesse der Europäer an asiatischen Werten ist nicht bloss eine esoterische Angelegenheit. Hier geht es auch um politische Herausforderungen, die von materieller Bedeutung für Gesellschaft und Wirtschaft in den westlichen Industriestaaten sind. Die Europäer wissen insgeheim schon seit einiger Zeit – vor dem Ausbruch der jüngsten Schuldenkrisen –, dass sie über ihre Verhältnisse leben. Die wohlfahrtsstaatlichen Benefizien, die sie sich im Geiste eines christlich-sozialistischen Egalitarismus selbst zugeschachert haben, lassen sich aufgrund der demographischen Entwicklung und vor allem wegen des Wettbewerbs mit den viel effizienteren asiatischen Volkswirtschaften nicht mehr finanzieren. Auf eine gewisse Zeit hinaus mag man diese bittere Tatsache noch verdrängen können, doch die Stunde der Wahrheit wird kommen. An diesem Sachverhalt führt nichts vorbei, weil die Europäer nicht mehr die Bewertungshoheit über ihre Verschuldung haben. Heute hängen sie ebenso wie die Amerikaner von den Transferzahlungen der asiatischen Sparer ab, und diese werden peinlich darauf achten, dass sie für ihr hart erarbeitetes Geld etwas bekommen. Die Zeiten, da Ölscheichs mit Dollars um sich warfen und sich um Renditen erst in zweiter Linie kümmerten, sind vorbei. Inder, Chinesen, Koreaner und Indonesier sind ziemlich pingelige Buchhalter, wenn es um ihre Sparbatzen geht.
Bemerkenswert ist, dass ein Grossteil der politischen Klasse in der Schweiz die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hat oder nicht erkennen will. Im vergangenen Spätherbst stand in einer Agenturmeldung zu lesen, dass die Schweizer Sozialdemokraten als neues Thema die Generationenpolitik entdeckt hätten. Auch aus dem sogenannten «bürgerlichen» Lager waren positive Reaktionen zu vernehmen, und im eidgenössischen Blätterwald gab es selbst unter den mutmasslich nichtkonformistischen Zeitungen keinen Aufschrei über diesen neuerlichen Fingerzeig auf den sozialpolitischen Verhältnisblödsinn in unserem Lande. Dabei sollten bei jedem verantwortungsbewussten Bürger, der nicht nur an sein eigenes Wohlbefinden, sondern auch an jenes seiner Kinder und Kindeskinder denkt, die Alarmglocken läuten. Wir wissen doch aus Erfahrung, dass noch jedes Mal, wenn etwas der Politik überantwortet wird, Ineffizienz und Geldverschwendung fröhlich
Urständ feiern.
Ein Lob der Familie
Nichts könnte dem Zeitgeist stärker widersprechen als die sozial-politische Geschäftchenhuberei unserer eidgenössischen Feld-, Wald- und Wiesenpolitiker. Das wichtigste Fundament der asiatischen Wertehierarchie ist die Familie. Ein sehr ausgeklügeltes Netz von Verpflichtungen zwischen den Familienangehörigen sorgt dafür, dass die Aufgaben, die in den westlichen Industriegesellschaften dem Staat überantwortet worden sind, in Asien von privaten Akteuren wahrgenommen werden. Der Fokus liegt auf der Selbstverantwortung innerhalb des Familienverbands. Aus asiatischer Sicht ist eine auf Rechten und Ansprüchen beruhende Familienpoli-tik ein Zeichen der Barbarei. In der Familie gibt es nur Pflichten und über diese wird nicht verhandelt oder disputiert.
Natürlich haben die aufstrebenden asiatischen Volkswirtschaften, insbesondere China, Indien, Vietnam und Indonesien, im globalen Wettbewerb von tiefen Löhnen profitiert. Ebenso wichtig und im Blick auf die künftige Entwicklung gar noch wichtiger ist, dass in Asien die Bürde der Lohnnebenkosten minimal, ja häufig inexistent ist. Entscheidend ist dies dem Fehlen des Sozialstaats zuzuschreiben. Mit ökonomischem Fortschritt wird auch in Asien sozialen Bedürfnissen mehr Gewicht eingeräumt, wie dies in den entwickelten Volkswirtschaften Japans, Singapurs, Taiwans oder Südkoreas zu erkennen ist. Doch auch hier bleibt der Fokus auf der privaten Selbstverantwortung. In Japan ist es nicht zum Aufbau eines umfassenden Sozialstaats nach europäischem Vorbild gekommen.
Natürlich profitieren die Asiaten heute von den europäischen Erfahrungen und sind deshalb bestrebt, die Fehler der Europäer nicht zu wiederholen. Eine grosse Hilfe ist dabei, dass im Gegensatz zu westlichen Industriestaaten, wo soziale Verwahrlosung
einen hohen Preis einfordert, die Institution der Familie in Asien intakt ist. Es mag nicht mehr den Clan, die Grossfamilie der alten Zeiten geben, doch die Familienstrukturen sind nach wie vor gesund. Man braucht dazu nur einmal die asiatischen Scheidungsraten mit den europäischen zu vergleichen. Im Gegensatz zu Zürich und Basel ist in Schanghai und Mumbai die Patchworkfamilie nach wie vor ein Fremdwort. Darum: hören wir auf zu träumen! Beginnen wir wieder zu arbeiten! Treten wir in einen fruchtbaren Austausch mit unseren asiatischen Nachbarn!