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Der Triumph der ­Gesinnung über die Urteilskraft
Porträt des Kinderarztes Beat Richner in seiner Rolle als Musikclown Beatocello, aufgenommen mit seinem Cello anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes 1979. Bild: Keystone / Susann Schimert-Ramme.

Der Triumph der ­Gesinnung über die Urteilskraft

In der Ablehnung einer westlichen Fortschrittsgeschichte konzentrierte sich die Geschichtswissenschaft zuletzt einseitig auf die Dekonstruktion von Mythen. Debatten sollten heute wieder näher an die Praxis rücken.

 

Wer setzt die Wahrheit in der Geschichtswissenschaft? Bestätigen sich Forschende gegenseitig in ihren Ansätzen und gibt es Thesen, mit denen einzelne Historiker gar nicht mehr durchdringen? Was für ein Verständnis von historischer Objektivität herrscht heute vor? Was ist das Selbstbild des Berufsstands, wofür meint er einzustehen?

Dieser von der Redaktion aufgestellte Fragenkatalog ist nicht leichthin zu beantworten. Niemand will die Arbeit von Kolleginnen und Kollegen auf der grossinquisitorischen Metaebene bewerten. Vielleicht sind Historikerstreitigkeiten oft auch deshalb ausgesprochen heftig, weil sich in ihnen jahrelang aufgestaute Differenz entlädt.

Eine Voraussetzung ist also gegeben: Historiker vermeiden im Selbstinteresse die letztgültige Auseinandersetzung, sie wissen um die Subjektivität ihrer Arbeit. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem verdienten älteren Professor, der sich als linksstehend bezeichnete. Der Emeritus erzählte bewegt von seiner Studentenzeit in den 1960er Jahren und erwähnte eine damals entstandene Bekanntschaft mit einem zeitlebens konservativen Historikerkollegen. Er sei stolz darauf, dass sie beide es geschafft hätten, trotz Meinungsunterschieden einander nicht ein einziges Mal öffentlich kritisiert zu haben. Auch halte er sich heute, meinte der Professor, an das ungeschriebene Gesetz: Emeriti hätten sich mit Kritik an jüngeren Kollegen zurückzuhalten.

«Beat Richner, ein junger Medizinstudent, nebenbei Clown und Cellist,

hielt im Fraumünster eine vielbeachtete Rede. Darin kritisierte er den

Linkskurs vieler seiner bewegten Mit­studierenden und warnte vor zu

viel Relativismus und radikal­demokratischen Experimenten.»

Zwar erschien mir vor allem die Enthaltung gegenüber dem konservativen Historikerkollegen als etwas grandseigneural. Doch muss man ehrlicherweise festhalten, dass politische, generationelle, aber auch persönliche Loyalitäten in der Geschichtswissenschaft eine Rolle spielen. Im angelsächsischen Raum würde niemand von einer «Historical Science» sprechen. Es handelt sich bei der Geschichtsschreibung wohl um eine der allzumenschlichsten Wissenschaften.

Zeitalter des Relativismus?

Mit all diesen und noch vielen Vorbehalten mehr kann man auf die Fragestellung eingehen: Wie funktioniert Wahrheitssuche in der Geschichtsforschung? Am besten lässt sich dies mit einem Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre beantworten. Wer auf den Vorrang von gegebenen Tatsachen gegenüber der Dekonstruktion von Mythen pochte, hatte es nicht leicht in den vorangegangenen Jahrzehnten. Denn in der postmodernen Begeisterung ab den 1980er Jahren war es um den Wahrheitsbegriff recht eigentlich geschehen. Statt auf die unvermittelte Faktensuche konzentrierte man sich auf die Funktionsweise von Diskursen, die einen Grossteil des Weltverständnisses und der Identität prägen würden. Historische Wahrheit galt vielen postmodernen Historikern zudem als etwas vom Autor Konstruiertes, wobei ihnen selbst die Identität jenes Autors als dubios und schemenhaft erschien. Darunter litt auch zunehmend der Anspruch auf Rekonstruktion histo­rischer Kontinuitäten. Noch heute trifft man auf Vertreter jener Generation, die um den Ausdruck «recht geben» einen weiten ­Bogen machen.

Wie kam es dazu? Die jungen Sozialwissenschaften hatten mit ihrem tiefen Ernst und trockenen Empirismus bis in die 1970er Jahre grossen Einfluss ausgeübt. Dagegen lehnten sich viele Postmoderne auf. In den 1980er Jahren genügte die arbeitergeschichtliche Perspektive nicht mehr. Die westliche Zivilisation hatte sich von einer Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft gewandelt. Postmoderne Historiker interessierten sich nun nicht mehr für die einseitige «abendländische» Fortschritts­geschichte, sondern verlegten sich auf das Deuten von Diskursen, Zeichen, Artefakten. Auch in weiten Kreisen der keiner Schule angehörenden Gelehrten begann es sich einzubürgern, Leopold von Ranke, einen der Väter der europäischen Geschichtswissenschaft, zu verschmähen. Ihm wohlgesinnte Forschende anerkannten weiterhin Rankes Anspruch, durch fleissiges Zusammen­tragen von Quellen dem Kern einer Frage abschliessend näherzukommen. Aus postmoderner Warte konnte es dagegen keine ­naivere, fortschrittsblindere, geschichtsreligiösere Definition der Historie geben.

«Es scheint, als seien heute vonseiten der

Historiker eher wieder staatstragende

Töne zu hören.»

Mitunter lag hinter dieser Kritik eine offene oder verbrämte Opposition gegen das «System», welches durch bürgerliche Historiker versteckte Tendenzen an die unmündige Leserschaft entsende. Eine tiefe Angst vor dem autoritären Text prägte die Postmodernen. Dahinter stand jedoch nicht immer die frivole Lust an der Diversität der Meinungen. Im Gegenteil, in der Auflehnung gegen das «Falsche» wussten sich viele dieser Historiker dem «Wahren» stets nahe.

Das Ende der Postmoderne

Rückblickend mutet es merkwürdig an, wie vehement prominente Philosophen und Historiker auf diese Herausforderung reagierten. Der «Postmodernismus» – es handelte sich dabei in der Regel um eine Fremdzuschreibung – wurde tatsächlich als Bedrohung empfunden. Jürgen Habermas ergriff bereits 1980 das Wort, weil er um die Stabilität seiner Theorie der kommunikativen Vernunft bangte, wenn künftig alle Rationalität der Dekonstruktion aus­geliefert wäre. Richard J. Evans veröffentlichte 1997 «In Defense of History», eine besorgte Verteidigungsschrift. Die Postmoderne, argumentierte Evans, öffne nicht nur fundamentalen linken Kritikern der westlichen Welt, sondern auch Holocaustleugnern oder Historikern mit zweifelhafter Vergangenheit Tür und Tor. Auch Hans-Ulrich Wehler warnte später in seiner «Deutschen Gesellschaftsgeschichte» vor einer jenseits der Sozialwissenschaft sich verselbständigenden Geschichtsschreibung, die zu sehr auf zeitgeistigen Diagnosejargon setze.

Die Diskussion büsste dann nach und nach an Brisanz ein. Geblieben sind bis heute einige Errungenschaften und innovative kulturwissenschaftliche Perspektiven aus einer sehr theoretisch aufgeladenen Übergangszeit, in der Geschichtsdeuter auch vom «Ende der Geschichte» zu reden können glaubten. Vielen als «postmodern» verfemten Historikern ging es weder um einen ­Angriff auf den Rationalismus noch um eine weltanschauliche Tendenz. Gefragt waren vielmehr neue Sichtweisen, nachdem sich die Geschichtswissenschaft jahrzehntelang auf Daten, die heute etwas abschätzig behandelte Ereignisgeschichte oder wirtschaftliche und politische Entwicklungen konzentriert hatte.

Was damals Erneuerung bedeutete, ist heute sicherlich wieder ein Problem, wenn auch aus anderen Gründen. Die Geschichtswissenschaft verliert mehr und mehr Studierende, nicht etwa deshalb, weil niemand mehr Geschichte studieren möchte. Vielmehr hat sich diese Wissenschaft diversifiziert in unzählige Schulen und Richtungen, sie ist in jeder Fakultät zu Hause, man kann sie inzwischen studieren, ohne das Fach zu belegen. Allen interdisziplinären Symposien zum Trotz hat dies Folgen auch für die Wahrheitsfindung.

Der Historikerstreit von 2015

Zwischen den verschiedenen Geschichtsausgestaltungen entspannt sich keine Diskussion mehr, die methodische Vielfalt grenzt manchmal an Beliebigkeit. Die Frage darf auch gestellt werden, ob wirklich alle Fakultäten die Quellenkritik so anwenden, wie sie in den historischen Seminaren gelehrt wird. Die Aus­wirkungen der Diversifikation wurden anlässlich des kleinen Schweizer Historikerstreits von 2015 offenkundig. Ein kleines ­Babylon von Forschenden kümmerte sich damals um gleich vier verschiedene Geschichtsjubiläen: Was geschah 1315, 1415, 1515 und 1815 im Raum der Schweiz und darüber hinaus? Die Frage wurde 2015 direkter gestellt, als man sie in den Jahrzehnten zuvor angegangen war. Das Landesmuseum exponierte sich gar mit ­einer Ausstellung zur Schlacht von Marignano. Für einen kurzen Augenblick schien die Mythenkritik nicht im Vordergrund zu stehen, sondern das Interesse an den jeweiligen Geschichts­daten, ­ihren Umständen, Vor- und Nachgeschichten. Der Berner Historiker ­André Holenstein getraute sich gar, über die Mythenkritik ab den 1960er Jahren zu urteilen: «Der Sturm auf das natio­nalpatriotische Geschichtsbild schüttete das Kind mit dem Bade aus.»

«Die Geschichtswissenschaft verliert mehr und mehr

Studierende, nicht etwa deshalb, weil niemand mehr

Geschichte studieren möchte. Vielmehr hat sich diese

Wissenschaft diversifiziert in unzählige Schulen und Richtungen,

sie ist in jeder Fakultät zu Hause, man kann sie inzwischen

studieren, ohne das Fach zu belegen.»

Dennoch war der Frühling der Geschichtsforschung 2015 nur von kurzer Dauer. Unbill bekam zu spüren, wer auch nur den Anspruch andeutete, etwa an Marignano eine historische Realität und vielleicht auch Spuren von Kontinuität aufzuzeigen. Selbst die «Neue Zürcher Zeitung» tadelte die Marignano-Ausstellung im Landesmuseum. Die Schau erschien dem Leitblatt zwar als äusserst gelungen. Aber sie versuche etwas zu wertfrei zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei («Ranke reloaded»). Der in Oxford lehrende Oliver Zimmer kritisierte darauf zu Recht, dass viele seiner Schweizer Historikerkollegen «ohne die Vorstellung eines Mythos, den es nach allen Gesetzen der Quellen- und Ideologiekritik zu dekonstruieren gilt», weiterhin nicht auskämen.

Natürlich hatte der Streit weitere, teilweise geschichtspoli­tische Gründe. Doch schien er vor allem auch in der weit aus­einanderklaffenden Methodik der Beteiligten begründet zu sein. Gestandene Mediävisten, Frühneuzeitler, Neuzeithistoriker, Nationalismusforscher, Wirtschaftsgeschichtler und Diskurstheoretiker fanden keinen gemeinsamen Grund. Die Begriffe klärten sich nicht mehr, sie waren nur noch auf die eigenen Forschungsvorurteile anwendbar. Da ist es nur ein kurzer Schritt zu jenem unseligen Zustand, in dem einzelne Meinungsmacher bestimmen, in welche Richtung der grosse Rest der Forschungsgemeinschaft zu streben hat. Dann triumphiert Gesinnung, um es mit Hermann Lübbe zu sagen, über Urteilskraft.

Rückkehr des Faktischen?

Trifft es zu, dass historische Ereignisse den Blick der Geschichtsforschenden verändern können, so war 2020 bestimmt ein einschneidendes Jahr. Covid-19 wurde auch von namhaften Schweizer Historikern als grosse Herausforderung beschrieben. Die ­Pandemie sei nicht bloss als Diskurs mit seinen Auswirkungen zu behandeln, sondern als reale Gefahr. Auch Exegeten der Diskursanalyse distanzierten sich von virulenten Verschwörungstheorien, Covid-19 diene den Regierungen allein als Disziplinarmaschine, die andere Ziele als die Seucheneindämmung verfolge. Solche Stimmen sind erfreulich. Wenige Jahre zuvor hatte man noch viel von allerlei Erfindungen gelesen: von der Pauschalkritik an vormoderner Nationalismusforschung, vom Schweizer Bauern­mythos, der vor allem wegen des Landesstreiks 1918 von den Bürgerlichen ersonnen worden sei, oder vom Gespenst des Bioterrors in den USA nach den Anthraxanschlägen von 2001.

Es scheint, als seien heute vonseiten der Historiker eher wieder staatstragende Töne zu hören. Wenn es also Krisen gibt, wenn Unwägbarkeiten existieren, wenn es eine vorsichtige Staatsräson und gewichtige politische Entscheidungen gibt, die tatsächlich den Lauf der Dinge fundamental verändern, dann könnte der ­politische, ökonomische und biografische Blick auf die Geschichte wieder eine grössere Rolle spielen als bis anhin. Auch der Anspruch auf geschichtswissenschaftliche Objektivität kehrt vermehrt ins Blickfeld der Historiker zurück. Der engagierte Intellektuelle will sich wieder aufseiten der Faktizität positionieren. Zweifellos liegt dahinter noch ein starker momentaner und ­parteiischer Impetus: «Fake News» wurde bekanntlich auf allen ­Seiten in den letzten Jahren als Kampfbegriff gegen den politischen Gegner eingesetzt. Man wird bald wissen wollen, wie es ­eigentlich gewesen ist. In absehbarer Zeit werden Historiker dieses Bedürfnis der Bevölkerung zu spüren bekommen. Noch sind wir jedoch weit entfernt von der Suche nach Fakten, die Hannah Arendt ­anstrebte: jene, die nur durch Lügen widerlegt werden können.

Penser avec les mains

Zukunft brauche Herkunft, schrieb Odo Marquard. So werden Historikerinnen und Historiker immer auch dann angehört, wenn der künftige Weltlauf offen ist. Das Problem der historischen Wahrheit ist also in politisch unruhigen Perioden besonders umstritten und wird deshalb auch ein breites Anliegen.

Die Frage stellte sich auch im August 1969, als in Zürich der erste Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings begangen wurde. Beat Richner, ein junger Medizinstudent, nebenbei Clown und Cellist, hielt im Fraumünster eine vielbeachtete Rede. Darin kritisierte er den Linkskurs vieler seiner bewegten Mit­studierenden und warnte vor zu viel Relativismus und radikal­demokratischen Experimenten. Richner war Präsident eines neu zusammengesetzten Kleinen Studentenrats, der sich von den ­vorherigen, progressiveren Mitgliedern absetzen wollte. Auf die Rede reagierten linke und einzelne liberale Studierende mit einer Mischung aus Enttäuschung und Polemik («Beat, du lügst!»).

Angriffig war die Rede Richners gewesen, aber fehlerhaft kaum. Zum Rückschlag provoziert hatte vielmehr seine Kritik am moralischen Wahrheitsmonopol des politischen Gegners. Gegen die Ansicht der Progressiven, die Kunst müsse künftig «nur noch soziale Mission» im Dienst der Arbeiterbefreiung sein, hatte er argumentiert, «dass Musik als ein Inbegriff der Freiheit, als Inbegriff der absoluten Freiheit, ein viel zu komplexes Gebilde ist, als dass ihr nur eine Daseinsberechtigung zugesprochen werden könnte, wenn sie die entmündigende Abhängigkeit aufzeige». Vor allem hatte sich Richner als Mediziner gegen eine Überpolitisierung der Wissenschaft verwahrt: «Wir können keine demokratischen Vollversammlungen darüber abhalten, ob der Magen links oder rechts zu liegen habe.» Richners Leitsatz war «Penser avec les mains», worauf die Zürcher Studierendenzeitung replizierte: «Uns wäre es lieber: mit dem Kopf.»

Man hat den jungen Richner damals wohl missverstanden. Beat Richner, später ein engagierter Kinderarzt in Kambodscha, war kein besonders politischer Mensch. Er war nur besorgt um den Begriff der wissenschaftlichen Objektivität. Es ging ihm um das überlieferte Wissen seiner Berufung und seines Handwerks, mit dem letztlich alle arbeiteten, ob gut oder schlecht. Weniger Theorie, mehr handwerkliche Diskussion und weniger radikale, mehr mitgehende Kritik würde auch der Geisteswissenschaft gut anstehen. Also doch wieder auch für uns Geschichtsforschende: Denken mit den Händen?

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Porträt des Kinderarztes Beat Richner in seiner Rolle als Musikclown Beatocello, aufgenommen mit seinem Cello anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes 1979. Bild: Keystone / Susann Schimert-Ramme.
Der Triumph der ­Gesinnung über die Urteilskraft

In der Ablehnung einer westlichen Fortschrittsgeschichte konzentrierte sich die Geschichtswissenschaft zuletzt einseitig auf die Dekonstruktion von Mythen. Debatten sollten heute wieder näher an die Praxis rücken.

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