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Zwischen Konflikt und Konvergenz

Transkulturelle Ähnlichkeiten als Basis des Dialogs Die Unterschiede innerhalb komplexer Kulturen werden gegenüber den Unterschieden
zwischen den Kulturen tendenziell unterschätzt. Zwischen Gruppen mit vergleichbaren
Lebensbedingungen gibt es über die Kulturgrenzen hinweg überraschend viele Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen.

Sozialanthropologen sprechen nicht mehr von «Hochkulturen», sondern von «komplexen Gesellschaften» oder, wenn auch seltener, von «komplexen Kulturen» und «komplexen Zivilisationen». Die neuen Begriffe sind weniger wertend und auch informativer. Das wird sofort deutlich, wenn man statt von einem Clash of Civilizations konsequent von einem Clash of Complex Civilizations spricht. Wenn es zu einem «Kampf zwischen den Kulturen» kommt, dann wird es ein Kampf zwischen unaufhebbar komplexen Kulturen und nicht ein solcher zwischen intern homogenen Kulturen sein. Ein einheitlicher Verlauf der Front ist nicht zu erwarten. Immer wieder werden sich «auf der anderen Seite» Gleichgesinnte oder zumindest Sympathisanten finden, und zwar gruppenweise und schichtenspezifisch, motiviert durch ähnliche Interessen und Wertvorstellungen.

In sämtlichen menschlichen Gesellschaften findet man auch innerhalb der betreffenden Kultur markante Unterschiede. In archaisch gebliebenen Gesellschaften sind es jedoch fast ausschliesslich Unterschiede, die biologisch bedingt sind, Unterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht, vom Lebensalter und von der Verwandtschaftsbeziehung. Die Variation im Verhalten der Menschen zueinander in Abhängigkeit vom Grad ihrer Verwandtschaft sind dabei von einer für «moderne Menschen» kaum zu fassenden Komplexität.

Verständigung wegen gleicher Interessen

Vor allem mit dem Aufkommen von Agrikultur und der mit Gründung von Städten und überregionalen Staaten kommen neue, nicht mehr nur biologisch zu erklärende Unterschiede hinzu, solche zwischen verschiedenen Berufen, zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Stadt und Land und zwischen Zentrum und Peripherie. Es sind dies alles Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, wie sich die Menschen verstehen und was sie aus sich, ihrer Natur und ihrer überlieferten Kultur machen.

Es sind transkulturelle Faktoren, d.h. Merkmale, die unabhängig sind von ihrer internen Verknüpfung mit einer bestimmten Kultur. Sie haben ihren Ursprung nicht in spezifischen Kulturen und lassen sich nicht auf die ethnische Herkunft, die Sprache oder die Religion der Menschen zurückführen. Keiner Kultur, keiner grossen Religion und keiner einflussreichen modernen Gesellschaftsideologie ist es gelungen, diese Merkmale aufzuheben. Noch jede von ihnen hat sich veranlasst gesehen, Kompromisse einzugehen, auch wenn diese ihrem ursprünglichen Anliegen, ihrer «reinen Lehre», noch so entgegengesetzt waren.

Es gibt unleugbar grosse Variationen in den Wertvorstellungen der Menschen. Aber es gibt sie nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturen. In Abhängigkeit von den genannten transkulturellen Faktoren gibt es ebenso markante Unterschiede innerhalb dieser Kulturen. Ähnliche Lebensbedingungen führen zu ähnlichen Interessen und zu ähnlichen Wertvorstellungen. Als Reisender in einem fremden Land hat man keine Mühe, urbane Städter und «Leute vom Land» auseinanderzuhalten. Das divergierende Verhalten und die je anderen Vorlieben sind so augenfällig wie der Unterschied zwischen höfischer und rustikaler Malerei in einem Museum. Bauern in China und Bauern in der Schweiz haben in vielen Belangen mehr Interessen und Werte gemeinsam, als sie mit den Bewohnern der Städte im eigenen Land teilen.

Bauern, die faktisch, nicht unbedingt formaljuristisch, über eigenen Grund und Boden verfügen, formieren sich zu Zweckverbänden und Solidargemeinschaften. Sie tendieren zu lokaler und regionaler Selbstverwaltung. Von einer fernen Regierung bestellte «Vögte» sind ihnen zuwider. Massnahmen, die in Unkenntnis ihrer Verhältnisse angeordnet werden, reizen sie zu ungehaltener Rebellion. Diese Analyse stammt nicht von einem soziologisch argumentierenden Historiker der Alten Eidgenossenschaft. Sie findet sich im Manifest des chinesischen Anarchisten Liu Shipei aus dem 19. Jahrhundert.

Es sind nicht nur die «Proletarier aller Länder», die sich über deren Grenzen hinweg verstehen. Noch mehr gilt dies von den Inhabern transregionaler und interkontinentaler Handelsfirmen, die direkt miteinander ins Geschäft kommen. Die raschen Erfolge der europäischen Kolonisatoren in Asien und auch in Afrika vor den grossräumigen Eroberungen seit dem 19. Jahrhundert sind zu einem beachtlichen Teil den gleichgelagerten Interessen der einheimischen und der fremden Kaufleute zuzuschreiben, nicht allein der waffentechnischen Überlegenheit der Europäer. Analoges gilt für die Anfangserfolge der wirtschaftlichen Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte.

Ein aufschlussreiches und gut dokumentiertes Beispiel aus dem 18. Jahrhundert ist der südindische Grosskaufmann A.R. Pillai. Er verstand sich bestens mit dem französischen Gouverneur von Pondichéri. Dass die Regierung in europäischen Händen lag, störte ihn überhaupt nicht, solange sie seine Geschäfte sicherte. Politischer Nationalismus lag ihm fern, nicht aber strikter «Kulturalismus», was die individuellen moralischen Überzeugungen und das religiöse Brauchtum anbelangte. Westliche Philosophen diskutieren seit alters, was mehr zu einem gesitteten Leben anhält, strenge Gesetze oder eine gute Erziehung. In Asien, in der buddhistischen wie in der konfuzianischen Literatur, stösst man immer wieder auf einen dritten Faktor: gesichertes Existenzminimum. Diese Auffassung ist hinter der Forderung der chinesischen Regierung nach einem Recht auf Entwicklung, das gegenüber den übrigen Menschenrechten Vorrang hat, zu sehen. Sie erinnert an die demokratietheoretische These, dass ein «mittelständischer» Lebensstandard dem Interesse an einer rechtsstaatlichen und liberalen Verfassung förderlich ist.

In südindischen Kerala hat sich gezeigt, dass die Alphabetisierung der Frauen ein mindestens so wirksames und jedenfalls ein humaneres Mittel zur Beschränkung der Kinderzahl ist als die drakonischen Massnahmen in China. Wie rasch sich kulturell sanktionierte «Familienbilder» im Gefolge von Wohlfahrt und gehobener Ausbildung wandeln können, lässt sich genau so eindrücklich in traditionell katholischen Gegenden Westeuropas studieren, von den Innerschweizer Kantonen bis nach Irland und Portugal.

Komplex sind nicht erst die heutigen Kulturen. Ebenso mannigfaltig und variationsreich sind die Traditionen, aus denen sie sich herleiten. Eine politisch bemerkenswerte Folge davon ist, dass es immer wieder gelingt, die Erklärung von radikalen gesellschaftlichen Reformen durch kulturfremde Einflüsse herunterzuspielen und die Neuerungen stattdessen mit Vorgaben in der eigenen Tradition zu motivieren oder zumindest nachträglich zu legitimieren.

Konvergenz durch ähnliche Lebensverhältnisse

In Europa findet sich die These, dass alle Menschen von Natur aus gleich und frei sind, mit juristischer Prägnanz beim römischen Rechtsgelehrten Ulpian formuliert. Traditionalisten können für die gegenteilige Ansicht, was Frauen, Besitzlose und Ausländer («Barbaren») angeht, aber ebenso gut die beiden überragenden Autoritäten der hellenischen Philosophie, Platon und Aristoteles, zitieren. Sie haben es während Jahrhunderten auch getan. In China ist es nicht grundverschieden. Auch dort lassen sich für wie gegen die Forderung nach allgemeinen Menschenrechten Klassikerstellen aus der Zeit der «Hundert Schulen» finden.

Für Europäer, die dazu neigen, ihre Kulturgeschichte ausschliesslich mit der Kreativität ihrer eigenen Vorfahren und dem Entwicklungspotential ihrer eigenen Traditionen zu erklären, mag es aufschlussreich sein, sich die gleiche stolze Tendenz in Südasien vor Augen zu führen. Die europäischen Pioniere der historischen Forschung in Südasien gingen fast selbstverständlich davon aus, dass so wichtige Entwicklungsschübe wie das Aufkommen von Landwirtschaft und städtischen Kulturen im Industal, die Entwicklung der Brahmi-Schrift, der Mutterschrift sämtlicher Schriften Südasiens, und desgleichen der Übergang der anfänglich auf Symbole beschränkten buddhistischen Kunst zu figurativen Darstellungen Buddhas bis zur letzten erfolgreichen religiösen und gesellschaftlichen Reformbewegung unmittelbar vor der europäischen Kolonialisierung, derjenigen der Sikh, zurückzuführen seien auf Einflüsse aus dem Westen, aus Mesopotamien, dem Persischen und dem Römischen Reich und schliesslich dem Islam. Inzwischen versuchen nicht nur südasiatische Forscher, sondern auch westliche, die kulturgeschichtlichen Diffusionstheorien gegenüber skeptisch eingestellt sind, zu zeigen, dass sich diese Entwicklungsschübe zu einem guten, wenn nicht gar entscheidenden Teil mit einheimischen Ansätzen und Antrieben erklären lassen.

Die traditionelle Erklärung lautet, dass es sich bei der Sikh-Bewegung um eine Synthese von Strömungen innerhalb des Islams (Sufi-Mystik) und des Hinduismus (Bhakti-Religiosität) handle. Nach der heute vorherrschenden These ist eine ausschliesslich «innerindische» Erklärung hinreichend. Statt eine Synthese wird eine Konvergenz aufgrund ähnlicher Lebensverhältnisse angenommen. Die kulturübergreifend prägende Kraft ähnlicher Lebensverhältnisse wird wohl im Hinblick auf die Ausbreitung der technischen Zivilisation nicht nur in Asien, sondern bei globalen Transformationsprozessen ganz allgemein zunehmend eine wichtige Rolle spielen.

Der Philosoph Elmar Holenstein, geboren 1937 in Gossau, promovierte 1970 mit einer Dissertation über die Phänomenologie der vorsprachlichen Erfahrung an der Universität Leuven und habilitierte sich 1976 mit einem Buch über den «phänomenologischen Strukturalismus» Roman Jakobsons an der Universität Zürich. Von 1977 bis 1990 war er Professor für Sprachphilosophie an der Ruhr-Universiät Bochum und 1986/87 Gastprofessor an der Universität Tokyo. Von 1990 bis 2003 war er ordentlicher Professor für Philosophie an der ETH Zürich.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der philosophischen Psychologie (Leib-/Seele-Problem, der Kontrast zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz) und in der Kulturphilosophie (mit der gleichzeitigen Herausstellung von interkulturellen Invarianten und intrakulturellen Variationen). Sein jüngstes Buchprojekt ist ein «Atlas zu den Geschichten der Philosophie», eine Wegleitung durch die Geographie der philosophischen Bewegungen.

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