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«Europäische Städte wirken auf mich manchmal so geschützt wie Objekte in einem Museum»

«Europäische Städte wirken auf mich manchmal so geschützt wie Objekte in einem Museum»
Shenyang bei Nacht. Die Hauptstadt der Provinz Liaoning liegt im Nordosten der Volksrepublik China.

Frau Sun, aus Ihrer Sicht als Architektin, ­worin unterscheidet sich die chinesische ­Architektur von der schweizerischen?

Mulan Sun: Die chinesische Architektur ist vielfältiger. Schweizer Architektur hat eine sehr starke Identität, was das verwendete Material – insbesondere den Beton –, aber auch den Modernismus anbelangt. Bei der chinesischen Architektur lässt sich eine solche Identität nicht so rasch bestimmen. Einerseits gibt es eine starke traditionelle Komponente – denken Sie etwa an den chinesischen Garten – und andererseits die gegenwärtige Architektur. Dazwischen liegen 2000 Jahre. Ohne einen zeitlichen oder einen geo­grafischen Begriff ist ohnehin schwer zu sagen, was chinesische Architektur ausmacht. An Ferit Kuyas’ Fotografien lässt sich das gut zeigen: Schaut man sich diese Aufnahmen an, sieht man, was in den vergangenen Jahrzehnten in China baulich passiert ist. Im selben Zeitraum hat es in der Schweiz weitaus weniger Veränderungen gegeben. Grundrisse ändern sich in China alle 20, 30 Jahre; das diesbezügliche Denken ist weitaus dynamischer. Was sich ebenfalls unterscheidet, sind die Denkmalpflege beziehungsweise der Umgang mit historischer Architektur – in China zählt eher das Immaterielle eines Orts, während das verwendete Material weniger wichtig ist.

Herr Kuyas, wie ist Ihr Eindruck als Fotograf?

Ferit Kuyas: Ein Unterschied ist auch die Geschwindigkeit der Veränderungen. Als ich in Chongqing gearbeitet habe, waren innert eines Jahres erhebliche Veränderungen zu beobachten. Das, was sich in den vergangenen Jahren in Zürich verändert hat, fällt im Vergleich mit chinesischen Städten geradezu winzig aus. An den dortigen Bauten sind die Grösse, insbesondere die Höhe, auffallend. Ich habe eine etwas heroisierende Art, Städte zu foto­grafieren, und bin fasziniert von Hochhäusern. Zürich meint ja, richtige Hochhäuser zu haben, die aber dort enden, wo tatsächliche Hochhäuser erst beginnen. Ich habe zudem noch nie so viele generische Architektur gesehen wie in China, insbesondere am Computer zusammengebaute Mehrfamilienhäuser. Das führt zu einer gewissen Eintönigkeit, ist visuell aber auch sehr reizvoll. Ich wünsche mir auch hier in der Schweiz etwas weniger generische Architektur; dass davon so viel existiert, hat aber mit unseren Baugesetzen zu tun.

Wie kamen Sie mit der chinesischen ­Architektur in Kontakt?

Kuyas: Ich war insgesamt 24mal in China. Es fing mit einer Reise nach Peking an, nach der ich mehr sehen wollte, zumal ich mich gleich sehr zuhause gefühlt habe. Ich sprach eine Zeit lang reichlich Mandarin, weil ich dort meine damalige Frau kennenlernte, mit der ich sieben Jahre verheiratet war. Deren Heimatstadt Chongqing hatte mich schwer fasziniert, weswegen ich entschied, ein Projekt zu chinesischen Städten zu machen. In Shanghai konnte man ab Ende der 1990er-Jahre spüren, was für ein Aufbruch anstand; in Shenyang wiederum dominierten damals noch Leichtigkeit und Langsamkeit.

Wenn Sie, Frau Sun, die Bilder von Herrn ­Kuyas betrachten – erkennen Sie darin die von Ihnen betonte Vielfältigkeit der ­chinesischen Architektur oder auch deren Eigenheiten?

Sun: Zunächst möchte ich betonen, dass ich Ferits Bücher gerne zeige, wenn ich von Bekannten gefragt werde, wie es in China aussieht. Der Architekt Rem Koolhaas hat übrigens einmal ein Buch herausgegeben namens «Generic City», in dem es auch um die gerade erwähnten generischen Aspekte geht. Besagte Geschwindigkeit kann man auch als eine Art Regeneration verstehen, die sehr schnell vor sich geht. Europäische Städte wirken auf mich manchmal so geschützt wie Objekte in einem Museum. Viele Bauten in Chinas Grossstädten hingegen muss man in einem dynamischen Zusammenhang verstehen, und mir als Architektin stellt sich die Frage, ob Bauten schön oder nicht schön sind, anders als einem Betrachter. Viele Gebäude in China sind als eine Art ­Grauzone zu verstehen – es gibt viele, die nicht ganz «draussen», das heisst freistehend sind, weil sie zum Beispiel unter Brücken stehen.

Auffällig ist, dass Sie, Herr Kuyas, viel Un­fertiges fotografieren. Das dürfte mitunter an den Umständen liegen – Chinas Beton­verbrauch ist der höchste auf der Welt, es ­entstehen ganze Städte in einem Ausmass und in einer Geschwindigkeit, die äusserst ­ungewöhnlich sind für europäische ­Massstäbe. Dennoch: Haben Sie eine Neigung zum nicht Fertiggestellten?

Kuyas: Mich interessieren Schnittstellen sehr. Das sind beispielsweise oftmals Stadtränder – Orte, an denen die Stadt noch nicht erkennbar, aber spürbar ist. Baustellen zähle ich auch dazu, Schnittstellen zwischen Alt und Neu ebenfalls. Was mich weniger interessiert, ist, ein Haus zu porträtieren oder touristische Sehens­würdigkeiten. Ich finde Orte reizend, an denen eine gewisse Unordnung herrscht, die vielen Betrachtern sicherlich auch hässlich anmuten dürfte, die aber in gewisser Weise schon wieder ästhetisch wirkt.

Ist es Zufall, dass auf Ihren Bildern nur ­wenige Menschen zu sehen sind?

Kuyas: Nein, es passt aber nicht zum Projekt; weswegen ich beispielsweise auch nicht am 1. Oktober, dem Nationalfeiertag, fotografieren würde, wenn alles voller Menschen ist. Wenn man es auf den Ort bezieht, sind die Bilder, auf denen totale Leere herrscht, eigentlich doch nie ganz menschenleer. Denn auf Aufnahmen, bei denen man auf den ersten Blick denkt, dass dort niemand zu ­sehen sei, findet sich öfters doch jemand. Das ist ein Fingerzeig auf die Bevölkerungsdichte des Landes. Und das ergibt dann einen interessanten Kon­trast zwischen totaler Leere und einigen wenigen, winzigen Gestalten.

Sun: Was Ferit gerade über Schnittstellen sagte, fasse ich mit dem Begriff «Grauzone» – in China findet man plötzlich Baustellen in einem landwirtschaftlichen Areal, auch wenn sich Übergangs­bereiche indes immer weniger finden. Ein wertvoller Beitrag dieser Fotografien ist deshalb, dass sie die Verdichtung der Städte aufzeigen. Hongkong gilt als äusserst verdichtete Stadt. Tatsächlich sind aber nur zwischen 30 und 40 Prozent seiner Fläche bebaut, die Stadt ist eigentlich sehr grün. In vielen chinesischen Städten findet man hingegen nur noch einen Park, sie sind fast zu 100 Prozent bebaut.

Gibt es denn Beschränkungen? Es kann ja ­weder systematisch wild noch unendlich ­gebaut werden.

Sun: Ja. Es gibt Regeln bezüglich der Abstände und der Höhe von Gebäuden. Bei Hochhäusern wird beachtet, dass sie nicht den Sonnenschein verstellen, daran werden Abstände zum nächsten Haus bemessen. Wie hoch man wiederum bauen darf, ist in einigen Städten abhängig von der Zusammensetzung der Erde vor Ort, die oftmals ungeeignet ist für den Bau von Hochhäusern. Es stellt sich selbstredend die Frage, inwiefern die jüngste Hightech-Architektur unser Leben verändert. In Japan gibt es beispielsweise sehr viel davon, wiewohl Naturkatastrophen, so etwa Erdbeben und Tsunamis, den Glauben an diese Art von Hightech im wahrsten Sinne des Wortes erschüttern können. Daran schliesst die Frage an, wie viel Kontrolle wir als Menschen eigentlich haben können.

Wie gestaltete sich die Arbeit vor Ort, Herr Kuyas?

Kuyas: Bemerkenswert ist, dass man mich total in Ruhe gelassen hat. Ich konnte hingehen, wohin ich wollte, tun, was ich wollte, und erlebte eine sehr grosse Hilfsbereitschaft seitens derjenigen, die in mein Fotoprojekt involviert waren. Auffallend waren auch die vielen fotobegeisterten Menschen, die mich gezielt darauf ­ansprachen, was ich mache, woraus sich viele anregende Gespräche ergaben. Was Chongqing anbelangt, war es die Topografie – in der Stadt geht es rauf und runter, es macht allein auf der Stadtautobahn den Eindruck einer Achterbahn. Zudem sind die Dimen­sionen gewaltig, die Brücken, die über die beiden durch die Stadt führenden Flüsse führen, sind zum Teil in immenser Geschwindigkeit errichtet worden, was mich auch beeindruckt hat.

Gab es Schwierigkeiten, denen Sie sich stellen mussten?

Kuyas: Ich hätte gerne viel mehr Dämmerungsaufnahmen gemacht. Dass es von diesen nur wenige gibt, hat einen recht banalen Grund: Wenn es in China dunkel wird, ist es Zeit für das Abendessen. Und im dortigen Familienkontext ist Essen immens wichtig, was heisst, dass ich zu dieser Uhrzeit schlichtweg nicht fotografieren konnte, weil ich mit der Familie meiner damaligen Frau speisen musste. Das war zwar sehr schön, aber ich musste dann doch ein paarmal rebellieren, um wenigstens einige Bilder während des Sonnenuntergangs zu machen, wofür ich dann ­alleine loszog.

Abschliessend noch eine Frage an Sie, Frau Sun. Was erscheint ­Ihnen an Herrn Kuyas’ Aufnahmen besonders bemerkenswert?

Sun: Ich habe bei diesen Bildern immer das Gefühl, nach China zu reisen. Wenn physische Reisen dorthin nicht möglich sind, so ­erlauben sie mir doch wenigstens mentale.

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