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Sind die Deutschen noch deutsch?

Mit Spürsinn und Gelehrsamkeit geht Hans-Dieter Gelfert in seinem neuesten Buch der Frage nach, was die Mentalität der Deutschen heute sei – und wie sie sich im Lauf der Zeit verändert habe.

Die Frage, was «deutsch» sei, bleibe immer aktuell. So Nietzsche, sinngemäss. Fünfzehn Jahre nach der staatlichen Einheit scheint sie wiedereinmal höchst angesagt. In den Zeitungen häufen sich die Besinnungsaufsätze – oft Befreiungsversuche von «Deutschland peinlich Vaterland» hin zu einer «Normalität», vor der niemand mehr Angst haben müsse. In den Buchhandlungen sieht man «Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde» oder «Bei Hempels auf dem Sofa. Auf der Suche nach dem deutschen Alltag». Und noch hundert Bücher mehr. «Sollte ich alles mal lesen», überlege ich beim Öffnen meiner Mailbox. Da – schon wieder: er konzipiere gerade einen Hochschulkurs über «German Mentalities» und suche Material dazu, schreibt mir ein Germanistikdozent aus den USA. Besonders über «the tendency to analyze all experiences, new ideas, the unexpected, in a way often misunderstood by our students as pessimism or negativity». Alles Neue, das wisse man ja, werde von den Deutschen zuerst kritisch untersucht, zergliedert und mit Hergebrachtem verglichen, und erst dann sei es sozusagen diskussionswürdig. Stimmt das? Was soll ich dem Mann antworten? Was soll ich ihm schicken? Deutsche Literatur von Adelung bis Zaimoglu? Erst mal abwarten, beschliesse ich – und das war recht getan. Denn ein paar Tage später flattert ein Taschenbuch auf meinen Schreibtisch. «Was ist deutsch?» heisst es, und gleich fällt mir der Dozent wieder ein. Das schicke ich ihm – da wird doch wohl alles drin stehen über die «German Mentalities»? Andererseits: Man weiss ja nie. Wenn das Buch nichts taugt, blamiere ich mich. Es hilft nichts, ich muss es zuerst selber lesen, kritisch natürlich, gründlich-analytisch, mit Hergebrachtem vergleichend. Ob es überhaupt diskussionswürdig sei. Das ist doch normal? Oder eher: typisch deutsch?

Zur Beruhigung sei gleich gesagt: das Buch ist gut und jeder Diskussion wert, anregend geschrieben, und es informiert, wie sein Untertitel «Wie die Deutschen wurden, was sie sind» zutreffend ankündigt, auf knappem Raum über historische Zusammenhänge, zu denen man ganze Bibliotheken schreiben könnte – informiert im Anhang auch darüber, dass über «Was ist deutsch?» bereits ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden sind. Wie Hermann Bausinger in seinem exzellenten Band «Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?» (2000), bezieht sich auch unser Autor, der Berliner Anglist, Übersetzer und Sachbuchschreiber Hans-Dieter Gelfert, auf zahlreiche Vorgänger, vor allem auf Schriftsteller und Gelehrte aus aller Herren Ländern. Aber er traut deren Urteilen nicht unbesehen. Die deutsche Gegenwart ist ja oft wenig deutsch. Sind auch die heutigen Deutschen ein Volk von Pflichtbewussten, Pünktlichen und Fleissigen? Oder die Faulsten der Welt, mit zahlreichen Feiertagen, wochenlangen Urlauben, kräftigen Gehaltszulagen für nichts und wieder nichts und üppigen Beamtenpensionen? Oder stimmt am Ende beides? Sympathisch ist, dass Gelfert gleich auf der ersten Seite verdeutlicht, dass alle Aussagen über die Mentalität eines Volkes «auf schwankendem Boden» stehen und allen Versuchen einer historischen Erklärung typischer Merkmale einer Nation «etwas Spekulatives» anhaftet. Trotz diesen grundlegenden Vorbehalten aber könne man durchaus zu zeigen versuchen, «dass Reste einer jahrhundertelangen Prägung auch heute noch das deutsche Denken und Fühlen beeinflussen». Und genau das macht Gelfert dann auch – und er macht es gut.

Urworte, deutsch

Erst einmal räumt er mit altmodischem Unsinn auf, den speziell Briten bis heute gerne von sich geben, der aber auch anderen europäischen Nachbarvölkern nicht fremd ist. Autoritätshörigkeit sei den heutigen Deutschen nicht mehr nachzusagen, Militarismus und Nationalismus spielten kaum noch eine Rolle, und Humorlosigkeit kennzeichne dieses Volk bestimmt nicht. Vielmehr hielten sich die Deutschen, denen das dem Gedächtnis der Welt unauslöschlich eingeprägte Bild vom bösen Hitler-Deutschland sehr wohl bewusst sei, heute für ganz normale Europäer, die in Frieden ihr Geld verdienen und ausgeben wollen. Der deutsche Michel mit der Zipfelmütze habe zur Charakterisierung deutscher Mentalität ebenso ausgedient wie Faust oder Hamlet. «Das gesamte deutsche Alltagsleben ist geprägt von der nüchternen Beschränkung auf das Zweckmässige und Lebensnotwendige sowie durch das weitgehende Fehlen von Konventionen und Ritualen». Und allen gesellschaftlichen Missständen und politischen Fragwürdigkeiten zum Trotz müsse auch der letzte Skeptiker anerkennen: «Deutschland ist heute eine der freiesten, gerechtesten und modernsten Demokratien der Welt». Das musste wohl einmal deutlich gesagt werden, und ich hoffe, der Autor irrt sich darin nicht.

Jetzt aber kommt der interessanteste Teil des Buches, «Urworte, deutsch» überschrieben, und vor allem wegen dieser sechzig Seiten empfehle ich es dem amerikanischen Dozenten. Hier werden «Wertbegriffe, die für eine Nation typisch sind, ohne dass sich deren Angehörige dessen bewusst sind», mit ständigen Seitenblicken auf Franzosen, Briten und Nordamerikaner aufgespiesst, hinreichend erklärt und aus der spezifisch deutschen Geschichte hergeleitet. Wer nur das manchmal sehr brummige und – besonders im Vergleich zur Schweiz – oft unerhört unhöfliche Pizza- und Döner-Deutschland vor Augen hat, mag sich ein wenig wundern über die Auswahl dieser Begriffe. Doch Gelferts hervorragende, mit guten Beispielen plausibel gemachte Skizzen über Heimat, Gemütlichkeit, Geborgenheit, Feierabend, Verein, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Fleiss, Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit, Pflicht, Treu und Redlichkeit, Schutz und Trutz, Innigkeit, Einfalt, Weltschmerz, Sehnsucht, Tiefe, Ursprung, Wesen, Ehrfurcht, Tragik, Totalität, Das Absolute, Staat, Wald und Weihnacht führen ins Zentrum dessen, was zum Thema zu sagen ist. Man erfährt, warum der deutsche Arbeitnehmer nicht so mobil ist wie der amerikanische, woher «das irrationale Verlangen der Deutschen» kommt, «sich in ein bergendes Ganzes wie in den Schoss einer Grossen Urmutter zu flüchten», dass Friedrich Schillers «Heilge Ordnung, segenreiche» etwas ganz anderes meint als das den Deutschen oft nachgesagte strikte und pedantische, unflexible und Kompromissen kaum zugängliche Einhalten einmal festgelegter Regeln. Allerdings erlebe ich in meinem Alltag nicht allzu viele ordentliche Menschen. Doch bei Gelfert steht ja auch: «Da heute die Ordnung auch für die Deutschen nichts Ersehntes mehr ist, sondern ein lästiger Zwang, breitet sich nun auch bei ihnen immer mehr Unordnung aus.» Mit der deutschen Pünktlichkeit stehe es auch nicht zum besten, wenngleich das effiziente Arbeiten immer noch einen Standortvorteil im globalen Wettbewerb darstelle. Ich sage nur: deutsche Autos! Aber nicht alle haben Arbeit. Welcher Deutsche kann Untätigkeit wirklich als Musse geniessen? Unser Autor beobachtet eine bedenkliche «Aufspaltung in Leistungserbringer und Jammerer», wozu zu sagen ist, dass die deutschen Leistungserbringer auch ständig jammern, über andere Dinge allerdings als die Nur-Jammerer. Schon mal einen nicht-jammernden Deutschen gesehen? Na, das ist übertrieben – ganz abwegig ist es nicht. Das Büchlein jedenfalls regt an zu solchen Spekulationen, was erst einmal nicht schadet.

Mentalitätsgeschichtliche Facetten

Doch Gelfert kann ziemlich präzise erklären, aus der deutschen Geistesgeschichte heraus und mit Hilfe der Soziologie, warum viele jüngere Deutsche heute eher «cool» sein wollen und angeblich deutsche Werte wie «Innigkeit» oder «Einfalt» fast verschwunden sind, trotz wunderschöner einschlägiger Gedichte von Angelus Silesius, Matthias Claudius oder Clemens Brentano. Überhaupt scheint nicht viel übrig geblieben zu sein von den angeblich so typisch deutschen Werten, die vor allem das romantisch-biedermeierliche 19. Jahrhundert propagiert hat. Was davon aber immer noch nachwirkt, führt uns der Autor sehr einleuchtend vor Augen. Beispiel Staat: «Heute stehen die Deutschen der staatlichen Autorität mit gleichem Misstrauen gegenüber wie ihre westlichen Nachbarn, erwarten aber immer noch mehr von ihr als diese und sind tiefer enttäuscht, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden.» So ist es wohl – und welcher Italiener oder gar US-Bürger wunderte sich nicht über die immer noch latente deutsche Sehnsucht nach dem allseits gerechten «Vater Staat»? Aber keine Bange – es gilt als geradezu unvermeidlich, dass die nationaltypischen Traditionen bald verblassen und in einer globalisierten Weltkultur aufgehen. Und dass Gelferts «Urworte, deutsch» rasch zu Begriffen mit nur noch antiquarischem Beigeschmack werden. Ohne Geborgenheit oder Innigkeit in die Zukunft? «Das könnte aber auch eine gegenläufige Entwicklung auslösen», schreibt unser Autor. «Die Frage ist nur, ob man sich das wünschen sollte.»

Der Rest des Buches umkreist und variiert das Thema. Von den deutschen Mythen und Helden über die deutschen Frauen, die sich heute «nüchterner und tatkräftiger» präsentierten als die Männer, streifen wir bis zum deutschen Kitsch, Humor oder Ungeist. Die Frauen übrigens kommen im ganzen Buch zu kurz. Aber, wie gesagt, überall Gescheites und Gelehrtes, einleuchtend verbunden mit dem, was wir heute hören und sehen, wenn wir in den Supermarkt um die Ecke gehen, fidelen deutschen Frührentnern mit ihren nicht selten asiatischen Zweit- oder Drittfrauen begegnen oder deutsche Fernsehsendungen verfolgen. Eine nützliche Zusammenschau dessen, was man so ungefähr schon wusste oder mindestens geahnt hat. Genau das hoffentlich, was mein amerikanischer Dozent braucht: Skizzen zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen, mit tiefem Blick in die nationale Geschichte und weitem Blick in die heutige Welt. Gelfert schliesst mit einem Ausblick – die vereinigten Deutschen in der Mitte Europas, schon auch stolz, zugleich aber ängstlich und verzagt. Vernünftig sei es, die alte deutsche Sehnsucht nach dem grossen Ganzen auf das sich einigende Europa zu lenken, meint er. Da hat er wahrscheinlich recht. Vielleicht ebnen sich wenigstens die europäischen Mentalitätsunterschiede schneller ein als gedacht? Die womöglich heute schon etwas akademische Frage, was deutsch sei, könnte in wenigen Jahren gar nicht mehr so arg aktuell sein. Wäre das schade?

Hans-Dieter Gelfert, «Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind». München: C.H. Beck Verlag, 2005.

Klaus Hübner, geboren 1953, promovierte in Germanistik und lebt als Publizist und Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.

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