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«Auch der Staat verfolgt ein Interesse»
Antonio Loprieno, fotografiert von Gaëtan Bally/Keystone.

«Auch der Staat verfolgt ein Interesse»

Universitäten seien inmitten einer epochalen Transformation, sagt der langjährige Rektor der Universität Basel. Er warnt vor Selbst­gefälligkeit – und davor, aus jeder gesellschaftlichen Entwicklung gleich ein eigenes Fach zu machen.

 

Herr Loprieno, wie schätzen Sie die schweizerische Wissenschaftslandschaft momentan ein?

Die schweizerische Hochschullandschaft hat einen grossen Vorteil, ihre Dezentra­lisierung. Und einen grossen Nachteil, ihre Dezentralisierung. Wir waren viel schneller und besser als unsere europäischen Nachbarn in der Implementierung der Bologna-Reform und in der Modernisierung des Universitätswesens. Die epochale Transformation von der Humboldt’schen Universität des 19. Jahrhunderts zur Post-Bologna-Hochschule des 21. Jahrhunderts haben wir weitaus besser bewältigt, weil unsere Universitäten nicht zentralistisch von einem Ministerium verwaltet wurden wie diejenigen in Baden-Württemberg, in Frankreich oder in Österreich, die sehr stark in ­ihrer lokalen Politik verwurzelt waren. Das gab den hiesigen Universitäten einen Push, der zu mehr Wettbewerb führte. Doch nun stellt sich die Frage, ob diese dezen­trale Struktur in einer globalisierten Universitätsstruktur zum Problem wird. Natürlich ist die Uni Zürich bestens ausgestattet und konkurrenzfähig. Aber ob die Uni Neuchâtel das auch ist, ist fraglich. An diesem Scheideweg werden einige unserer Universitäten zu globalen Playern werden, andere zwar eine gute, jedoch nur regionale Ausstrahlung haben. Als föderaler Staat müssen wir uns noch an diese Situation gewöhnen.

 

Haben Sie, wenn Sie von globalen Playern sprechen, Hochschulen vor Augen – oder doch eher bestimmte Fächer?

Der Begriff «Fach» ist typisch für die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft und in wissenschaftlicher Hinsicht ein Segen, in curricularer Hinsicht jedoch ein Fluch. Fachliche Kompetenz erlaubt Tiefe. Problematisch daran ist aber, dass «Fach» im mitteleuropäischen Denken gleichzeitig Wissenschaft, Curriculum und Institut meint. Das sind drei ganz unterschiedliche Dinge, denn ein Institut ist eine administrative Struktur, ein Curriculum eine Ausbildungsperspektive und eine Wissenschaft eine Forschungsperspektive. Man muss nun also in irgendeiner Disziplin zu Hause und ­zugleich interdisziplinär tätig sein – ein peu de tout jedoch ist in einem Curriculum schwer zu erzielen.

 

Wie geht es besser?

Die zentrale Komponente des Studiums sollte zwar eine fachliche Ausbildung sein. Aber die Geisteswissenschaften haben die Möglichkeiten der Verzahnung häufig verpasst und sind bei der Idee stehengeblieben, dass vom ersten bis zum letzten Semester eine fachliche Ausbildung vermittelt werden sollte. Ich plädiere dafür, auf Bachelorebene die Geisteswissenschaften curricular zu vereinen. Die fachliche Vertiefung wäre dann für die spätere Aus­bildungsstufe bzw. für den Master reserviert. In den Naturwissenschaften ist das bereits so, und ich sehe nicht, wieso die Geisteswissenschaften das nicht auch machen sollten. Wenn Sie an der ETH Meteorologie studieren, widmen Sie sich in den ersten ­Semestern zunächst Physik, Mathematik und Informatik. Erst wenn Sie das hinter sich haben, fangen sie mit den Wolken an.

 

Ein entsprechender Bachelor in den Geisteswissenschaften wäre also kein vertieftes Studium Generale.

Nein. Und ich habe auch nichts gegen einen Bachelor in Geschichte oder Literaturwissenschaft. Ich habe aber etwas ­dagegen, eine zu frühe Spezialisierung auf Kosten methodischer Tiefe vorzunehmen. Für jeden wissenschaftlichen Diskurs müssen ausserdem informatische und statistische Kenntnisse vorhanden sein – Grundlagen, die bereits auf Bachelorebene angeboten werden müssten.

 

Konkret?

Ich fordere auf Bachelorebene die Vermittlung gemeinsamen Grundlagenwissens, auf Masterebene hingegen spezialisiertes Wissen, d.h. eine vernünftige Trennung von Lernzielen – das ist übrigens das Modell, das in der angelsächsischen Welt seit jeher existiert.

 

Die Pandemie zeigte, dass die Grenzen zwischen Staat, Wissenschaft und Öffentlichkeit schwinden – was von möglicher Einflussnahme der Nichtwissenschaft auf die Hochschulen zeugt. Wie schätzen Sie dies ein?

Akademisch bin ich mit der Idee gross geworden, dass Innovation entsteht, wenn die öffentliche und die private Hand zusammen­arbeiten. Das ägyptische Museum in Turin, an dem ich ausgebildet worden bin, war lange ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts – ein staatliches Museum, vollkommen vernachlässigt. Dann wurde es von einer privaten Stiftung übernommen, die daraus erneut ein Weltjuwel machen wollte, was funktioniert hat. Jetzt, nach ­Corona, steht es jedoch unter extremerem Druck als ein staat­liches Museum, denn ohne Besucher fällt die Selbstfinanzierung aus. Das könnte nahelegen, dass Rettung nur beim Staat liege.

 

Das kann aber keine Lösung sein.

Wir haben lange mit der Idee einer Orientierung am Eigennutz ­gelebt, die jetzt ebenfalls unter Druck gerät. Das zwingt sowohl diejenigen zum Nachdenken, die glauben, dass nur die private Hand innovativ sein könne, als auch diejenigen, die nur beim Staat ­Lösungen sehen. Ich sehe deshalb im Modell public/private die vernünftigste Lösung für eine innovative akademische Landschaft.

«Eine Universität sollte kritisch überprüfen, sich aber

nicht reaktionär verwehren, weil sie dann nicht mehr

ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht wird.»

Eine zu enge Orientierung der Wissenschaft an gesellschaftlichen Bedürfnissen birgt allerdings ebenfalls Risiken.

Wir befinden uns momentan in einem Prozess, in dem Wissenschaftszweige, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine emanzipatorische Funktion hatten, etwa die Geschlechterforschung, gerade deshalb diese Funktion nun einbüssen, weil mittlerweile ein breiter Konsens über deren Wirkung besteht. Wenn aus gesellschaftlichen Entwicklungen gleich «Fächer» gemacht werden, besteht die Gefahr eines baldigen Anachronismus. Ein Curriculum in Diversity würde heute etwa die Funktion erfüllen, die die Gender Studies in den 1990er Jahren hatten. Es erscheint mir ratsamer, Neuerungen von gesellschaftlicher Relevanz in grössere fachliche Bereiche wie Sozialwissenschaften, Geschichte oder Philosophie einzubetten, etwa einen Soziologen anzustellen, der sich mit Diversitätsfragen befasst, anstatt gleich einen Bachelor in Diversity aufzustellen, der mit den anderen sozialwissenschaftlichen Programmen im Wettbewerb steht. Eine allzu schnelle Übertragung von gesellschaftlichen Anliegen auf die akademische Ebene ist mit Vorsicht zu betrachten. Ich bin sicher, dass in der akademischen Welt Offenheit besteht, über diese fachlichen Transformationen und ihr Ergebnis nachzudenken.

 

Rückt in einem neuen, kleinen Fach Politik vor Analyse, ist dies bereits ein Problem jener Transformation; fataler wäre gleichwohl der Moment, an dem diese Tendenz auf etablierte Fächer wie Literaturwissenschaft, Geschichte oder Soziologie übergreift.

Als Kulturwissenschafter kann man auf diese Entwicklung hin­weisen – sich ihr entgegenzustellen ist jedoch schwierig. Wenn eine gewisse gesellschaftliche Perspektive derart dominant geworden ist, dass sie auch die Grundfächer transformiert, dann befinden wir uns tatsächlich in einer neuen kulturellen Phase. Sehen Sie nur, wie sich Theologie und Philosophie seit der Reformation zueinander verhalten haben. Die ersten Lehrstühle für Philosophie machten Angst. Aber 500 Jahre später glaubt niemand, dass die Philosophie ein Teil der Theologie ist. Wenn ein Fokus auf Diversity dazu führen sollte, dass Soziologie, Literaturwissenschaft oder Philosophie ­dadurch ­anders werden, dann sollte man sich als Kulturwissenschafter – ­geschweige denn als akademische Führungsperson – nicht dagegenstellen. Sonst wird man reaktionär. Eine Universität sollte kritisch überprüfen, sich aber nicht reaktionär verwehren, weil sie dann nicht mehr ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht wird.

 

Können Sie präzisieren, was das für die Schweiz bedeutet?

Die Schweiz ist eine interessante Werkstatt für gesellschaftliche Institutionen, weil in diesem Land dafür gesorgt wird, dass keine einzelne Institution über die Deutungshoheit verfügt. Die schweizerische Gesellschaft orientiert sich weniger am Primat der akademischen Kultur als z.B. die deutsche. Insofern habe ich keine Angst, dass irgendeine Institution – nicht einmal der Bundesrat – irgendwann zu übertriebener Macht gelangt. Die primäre Herausforderung für das schweizerische Universitätssystem ist eine ­gewisse Selbstgefälligkeit. Wir sind der Meinung, dass wir sehr gut sind – und das sind wir auch. Aber wenn Sie sich anschauen, wie andere Universitätssysteme in den letzten Jahren an Ausstrahlung und Sichtbarkeit zugelegt haben, etwa das niederländische System, ganz zu schweigen von den ostasiatischen Ländern, wäre es gut, wenn wir uns etwas mehr Mühe geben würden. Einen deutlicheren Beitrag zur gesellschaftlichen Transformation würde ich mir schon wünschen – und auch eine grössere Beteiligung an ­globalen Debatten.

 

In den USA und in Grossbritannien gibt es mittlerweile vehemente Probleme auf dem Campus, die aus einer Überpolitisierung der Fakultätsangehörigen und ausserakademischem Druck resultieren. Sehen Sie diese Tendenzen auch in der Schweiz?

In dieser Frage neige ich zu einem gewissen Optimismus. Das hat mit der Sozialgeschichte der jeweiligen Länder zu tun. Die Zuspitzung zur Cancel Culture, die wir insbesondere in den USA beobachten, ist historisch darauf zurückzuführen, dass in der angelsächsischen Welt die ethnische Identität (schwarz/weiss) gesellschaftliche Priorität beansprucht. In Kontinentaleuropa dominiert hingegen die ideologische Debatte. Die angelsächsischen Gesellschaften haben sich in den letzten Jahren zu Gesellschaften der Identitäten entwickelt, die auch solchen Polemiken besondere Flanken bieten. Identitäre Aspekte liegen zwar auch dem ­europäischen Populismus zugrunde, weshalb wir keineswegs ­absolut geschützt sind und wachsam bleiben müssen. Die bisherigen Fälle von Einschränkung der akademischen Redefreiheit wiesen aber immer noch eher eine ideologische als eine identitäre ­Dimension auf – siehe die studentischen Proteste bei der Vor­lesung des Professors und AfD-Gründers Bernd Lucke in Hamburg. Extreme politische ­Korrektheit ist hierzulande seltener, und, glaube ich, weniger gesellschaftlich getragen als im angelsächsischen Raum. Ich denke deshalb nicht, dass sie unsere primäre Aufmerksamkeit verdient oder etwas ist, vor dem wir uns explizit schützen müssten.

 

Heisst das, hiesige Hochschulen sollten besser keine Schutz­massnahmen ergreifen, um die freie Rede zu sichern?

Tendenziell finde ich Massnahmen zur Verschriftlichung des Bekannten fast negativ. Was wir guten Gewissens für konsensfähig halten, braucht nicht deklariert zu werden. Statt Offensichtliches zu verschriftlichen, finde ich es besser, so lange mit potentieller Spannung zu leben, wie es geht.

 

Nichtintervention als kultivierte hochschulpolitische Haltung also?

Als Linguist kann ich Ihnen sagen: Die beste Sprachpolitik ist immer eine nicht verschriftlichte. Denn eine solche führt zur Ausgrenzung, ob wir es wollen oder nicht. Bei Entwicklungen, die ein latentes emotionales Potenzial bergen, würde ich die unsichtbare Hand walten lassen. Fälle zu verschriftlichen, die eine Einschränkung der Redefreiheit vorsehen, wäre schlichtweg zu kompliziert. Überlassen wir das ruhig dem Konsens in der jeweiligen Institution. Es sei denn, es kommt tatsächlich zu einer zugespitzten Situation wie derzeit in den USA – dann braucht es tatsächlich Regeln.

 

Sind Privatuniversitäten Ihres Erachtens eine Alternative?

Ich war ein Jahr lang Präsident einer privaten Universität und habe festgestellt, dass alle Hochschulen, ob öffentlich oder privat, einen gesellschaftlichen Auftrag benötigen. Dieser ist in Kontinentaleuropa durch den Staat legitimiert. Als Mitteleuropäer ­haben wir Schwierigkeiten, uns vorzustellen, dass eine für das ­Common Good operierende öffentliche Institution nicht in irgendeinem Sinne vom Staat sanktioniert wird. Im angelsächsischen Raum hingegen ist eine nichtstaatliche Form der gesellschaft­lichen Trägerschaft einer Universität üblich. Europäische Universitäten priorisieren traditionell die Wissenschaft, angelsächsische Universitäten hingegen die Education – einen Wert, der jenseits der reinen Wissenschaft liegt und eine gesellschaftliche Funktion erfüllt. In unserer Sichtweise ist eine Universität grundsätzlich ein Ort, an dem Wissenschaft betrieben wird, und für die Objektivität dieser Wissenschaft halten wir letzten Endes den Staat für zuständig.

 

Mir erschliesst sich nicht, weshalb der Staat dafür zuständig sein sollte.

Als Kontinentaleuropäer sind wir skeptisch gegenüber der Möglichkeit, dass eine private Trägerschaft tatsächlich das Gemeinwohl im Visier haben kann. Kulturell unterstellen wir privater Trägerschaft gern Eigennutz. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus, denn auch der Staat verfolgt natürlich ein Interesse. Ich bin zum Ergebnis gekommen – und ich sage das als liberal denkender Mensch sehr ungern –, dass es sehr schwierig ist, in Kontinentaleuropa ein privates Ausbildungsmodell generalistischer Natur – also nicht für etwas Spezifisches wie eine juristische oder wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung – ohne eine Legitimierung durch den Staat aufzustellen. Vor einigen Jahren wäre ich optimistischer gewesen. Man muss das schon anerkennen: Unsere ­öffentliche Hand kümmert sich sehr gut um unsere Universitäten. In dieser Kultur könnte ich einem Kollegen, der eine private Universität öffnen will, nur viel Glück wünschen. Er wird es nicht leicht haben.

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