Das freiheitliche Utopia
Eine junge Chinesin bewundert den wirtschaftlichen Wohlstand, die politischen Freiheiten und die landschaftlichen Schönheiten der Schweiz. Damit dieses Modell funktioniere, brauche es reife und selbstbewusste Bürger.

Was halten Chinesen eigentlich von der Schweiz? Die Antwort steckt schon in der chinesischen Bezeichnung «Ruìshì» für die Schweiz. Die Silbe «ruì» bedeutet «glückbringend» oder «Gutes verheissend», und «shì» kann «Gelehrter» oder «Krieger» bedeuten. Wer wann dieses chinesische Wort für die Schweiz geprägt hat, ist nicht bekannt, aber die erste Kunde, die man in China von der Schweiz hatte, muss durchaus positiv gewesen sein: ein wehrhaftes Land voller kluger Menschen, das seinen Bürgern Glück und Wohlstand beschert.
Diesen Ruf hat die Schweiz im Reich der Mitte heute immer noch, denn auch Chinesen sind an harten Fakten interessiert. Es spricht Bände, dass die Schweiz schon seit mehreren Generationen unter den Top Ten der reichsten Länder der Welt rangiert, sogar noch vor sämtlichen Erdöl-Scheichtümern. Und mit Erstaunen nehmen die Europakenner unter den Chinesen zur Kenntnis, dass die Schweiz, gemessen an ihrer Einwohnerzahl von nicht einmal neun Millionen, eine schier unfassbare Menge an internationalen Grosskonzernen zum Weltvermögen beisteuert, darunter die in China äusserst populären Marken Nestlé, Roche, Novartis, Rolex und Lindt.
Auch sonst stösst man allenthalben auf Persönlichkeiten aus der Schweiz, auf den Gründer des Roten Kreuzes etwa, auf berühmte Pädagogen bis hin zum Fifa-Präsidenten. Wenn man normal gebildete Chinesen nach den drei erfolgreichsten Völkern der Welt fragt, dann erhält man zumeist, und zwar in dieser Reihenfolge, folgende Antwort: Chinesen, Juden und Schweizer. Erst an vierter Stelle kommen Amerikaner, dann Deutsche oder Japaner. Doch bei der Frage nach der Ursache des Schweizer Erfolgs ist man auch in China um eine Antwort verlegen.
«Wenn man normal gebildete Chinesen nach den drei erfolgreichsten
Völkern der Welt fragt, dann erhält man zumeist, und zwar in dieser
Reihenfolge, folgende Antwort: Chinesen, Juden und Schweizer.»
Natürliche Schönheit
Natürlich kann ich da auch nicht weiterhelfen, zumal ich bislang nur ein einziges Mal, im Sommer 2022, aus Bonn kommend, in der Schweiz weilen durfte. Deutsche hatten mir erzählt, dass die Schweizer etwas langsamer, dafür aber gründlicher seien. Echte Schweizer habe ich während meines siebentägigen Aufenthalts zwar nicht kennengelernt, dafür aber ein paar nette Inder auf dreieinhalbtausend Metern Höhe auf dem Jungfraujoch, wo es sogar ein indisches Restaurant namens Bollywood gibt. Die Inder waren auf den Spuren der Drehorte ihrer Lieblingsfilme. Wenn Inder Filmszenen im Himalaya brauchen, drehen sie nämlich lieber in den Schweizer Alpen als in ihrem eigenen Hochgebirge, wo es zu gefährlich ist.
Als ich in Deutschland zwei Jahre zuvor das idyllische Ahrtal erlebt hatte, war diese liebliche Landschaft für mich zunächst einmal der Inbegriff einer Schönheit, die sich aus der Zusammenarbeit von natürlichem und menschlichem Schaffen ergibt. Leider wurde das Ahrtal 2021, ein Jahr nachdem ich es hatte kennenlernen dürfen, von einer furchtbaren Flutkatastrophe heimgesucht. Als Ersatz für das zerstörte Ahrtal reiste ich also letztes Jahr nach Grindelwald und Lauterbrunnen. Ich ahnte nicht, dass meine Vorstellung von der perfekten Landschaft noch um ein Vielfaches getoppt werden könnte. Natürlich hatte ich vorher schon Fotos aus der Schweiz gesehen. Aber ich war sicher, dass diese Aufnahmen zu Werbezwecken gewaltig aufgehübscht worden waren. Die Wahrheit ist: Man braucht hier gar nichts zu schönen. Selbst der unbegabteste Amateurfotograf kann in der Schweiz wild drauflosknipsen und erhält, egal aus welchem Winkel, stets Fotos, die ans Paradies erinnern: schneebedeckte Berge, sattgrüne Wiesen, reissende Bäche, Wasserfälle, anmutige Häuser und schnucklige Eisenbahnen, die zudem auch noch pünktlich sind.
Wie haben die Schweizer es bloss angestellt, aus ihrem gebirgigen Binnenland eine der friedlichsten und wohlhabendsten Gesellschaften der Welt zu zimmern? Allein an der Lage des bergigen Binnenlandes kann es ja nicht liegen, denn dann hätten in Asien Afghanistan oder Nepal und in Südamerika Bolivien ähnlich gute Karten. Diese Länder sind aber im Gegenteil die Armenhäuser…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1108 – Juli / August 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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