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Neutralität gibt’s nicht à la carte
Marco Sassòli, zvg.

Neutralität gibt’s nicht à la carte

Zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik kann keine scharfe Trennlinie gezogen werden. Entscheidet die Schweiz von Fall zu Fall über Ausnahmen, wird sie unberechenbar.

Das Neutralitätsrecht, teilweise niedergeschrieben in den Haager Abkommen von 1907, passt eigentlich spätestens seit dem Verbot der Gewaltanwendung zwischen Staaten in der UNO-Charta von 1945 nicht mehr in das heutige Völkerrecht und das in der UNO-Charta vorgesehene – aber leider noch nicht verwirklichte – System der kollektiven Sicherheit. Die Neutralität greift nämlich definitionsgemäss nur dann, wenn ein Staat gegen das Gewaltverbot verstossen hat. Wer der Meinung ist, dass es angesichts von Verletzungen des Völkerrechts keine Neutralität geben kann, muss zwangsläufig die Neutralität aufgeben. Seit 1993 anerkennt der Bundesrat zu Recht, dass die Neutralität nicht anwendbar ist, wenn ein Staat vom UNO-Sicherheitsrat zur Anwendung von Gewalt ermächtigt wurde.

Rechte und Pflichten der Neutralen

Das wichtigste Recht eines neutralen Staates, die Achtung seiner territorialen Souveränität, kommt heute nach der UNO-Charta allen Staaten zugute, ausser natürlich einem Angreifer, gegen den nicht nur das Opfer Gewalt ausüben darf, sondern auch alle anderen Staaten aufgrund des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung.

Die Pflichten des Neutralen sind, sich nicht an den Feindseligkeiten zu beteiligen, die Anwesenheit oder den Durchzug kriegführender Truppen nicht zu dulden und kein Kriegsmaterial in kriegführende Staaten zu exportieren. Nach dem Wortlaut des Haager Übereinkommens XIII von 1907 (das eigentlich den Seekrieg betrifft, aber gewohnheitsrechtsmässig auch im Landkrieg anwendbar ist) betrifft dies nur staatliche Exporte, und dies ist immer noch die Interpretation des Bundesrats, während die Mehrheit der Völkerrechtler argumentiert, dass es auch private Exporte abdecken müsse. In der Tat unterliegt heute anders als 1907 der private Waffenhandel einer strengen staatlichen Regulierung und Genehmigungspflicht, wie das im Waffenhandelsübereinkommen von 2013 vorgesehen ist. Wenn ein Staat private Waffenexporte regelt, muss er jedenfalls beide Seiten gleich behandeln. Rein neutralitätsrechtlich ist die Schweiz in Friedenszeiten nicht verpflichtet, von einer Käuferin von ­Waffen zu verlangen, Weiter­exporte nur mit dem Einverständnis der Schweiz zu tätigen. Wenn sie solche Wiederausfuhrerklärungen verlangt, könnte man aber argumentieren, dass sie im Fall eines bewaffneten Konflikts bei deren Bewilligung beide Kriegsparteien gleich behandeln müsse. Eindeutig ist es aber nicht, dass der neutralitätsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz solches verlangt.

Schliesslich darf der dauernd neutrale Staat in Friedenszeiten keine Verpflichtungen eingehen, beispielsweise in Bündnissen wie der Nato, die in Kriegszeiten von ihm verlangen würden, seine Verpflichtungen als neutraler Staat zu verletzen. Jede Art der Zusammenarbeit mit der Nato ist rein neutralitätsrechtlich unproblematisch, solange die Nato oder ihre Mitglieder nicht Partei eines internationalen Konflikts sind und die Schweiz sich in einem solchen Fall zurückziehen kann. Neutralitätspolitisch, für die Glaubwürdigkeit der Neutralität, ist das natürlich anders. Meines Erachtens ist hier entscheidend, ob das Ziel der Zusammenarbeit oder Interoperabilität eine künftige Verteidigung der Schweiz gegen einen bewaffneten Angriff ist oder diese gegen einen bestimmten Staat gerichtet ist und/oder die Verteidigung der anderen Partner bezweckt.

Neutralität steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit

Die Trennung zwischen Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht, die den Schweizern so wichtig ist, muss jedoch relativiert werden. Die Chancen, dass die Neutralität in einem künftigen Konflikt von den Kriegsparteien respektiert wird, hängen mehr von der Glaubwürdigkeit und Vorhersehbarkeit der Neutralitätspolitik eines dauerhaft neutralen Staates wie der Schweiz ab als von der blossen Einhaltung des Neutralitätsrechts in einem bestimmten Konflikt. In dieser Hinsicht sollte uns die Tatsache zu denken geben, dass sowohl der russische Präsident Putin (kritisch) als auch US-Präsident Biden (lobend) erklärt haben, die Schweiz sei nicht mehr neutral. Die im Februar 2022 ergriffenen Sanktionen gegen Russland, der Anlass für diese Erklärungen, waren neutralitätsrechtlich unproblematisch, aber sie reduzierten die Chancen, dass Russland die schweizerische Neutralität respektieren wird – und waren daher neutralitätspolitisch problematisch.

Meines Erachtens ist die Schweiz aus der Sicht des Völkerrechts nicht zur Neutralität verpflichtet. Die Staatenpraxis nach dem 24. Februar 2022 zeigt, dass Staaten nicht unbedingt die Pflichten eines neutralen Staates haben, wenn sie nicht an einem bewaffneten Konflikt teilnehmen. Zwar garantierten die Grossmächte, darunter Russland, 1815 auf dem Wiener Kongress die «immerwährende» Neutralität der Schweiz, und dies geschah auf Antrag der Schweiz. Daraus mag sich eine gewisse Verpflichtung ergeben haben. 1938 hat der Völkerbund die integrale schweizerische Neutralität auch auf Antrag der Schweiz bestätigt. Es kann jedoch argumentiert werden, dass die UNO-Charta eine solche Verpflichtung implizit aufgehoben habe. Die Schweizerische Bundesverfassung müsste jedoch geändert werden, um die Neutralität aufzugeben, auch wenn sie «Massnahmen zur Wahrung […] der Neutralität» nur unter den «Aufgaben und Befugnissen» von Regierung und Parlament erwähnt.

Ich persönlich bin gegen eine Aufgabe der Neutralität. Dies sollte jedenfalls nicht übereilt geschehen, denn die Aggression Russlands gegen die Ukraine ist kein Einzelfall. Wenn die Schweiz wirklich immer dem Opfer eines bewaffneten Angriffs beistehen und Sanktionen gegen den Angreifer ergreifen wollte, hätte sie in der Suezkrise von 1956 und im Sechstagekrieg von 1967 Sanktionen gegen Israel ergreifen müssen, Israel im Jom-Kippur-Krieg von 1973 beistehen müssen, im 1. Golfkrieg von 1981 dem Iran gegen den Irak und im 3. Golfkrieg von 2003 dem Irak gegen die USA.

Die Neutralität erleichtert das Anbieten von guten Diensten, was nicht nur für das internationale Genf von Bedeutung ist, sondern auch dem Vorwurf des Rosinenpickens gegen die in vielem abseitsstehende Schweiz entgegentritt. Die Neutralität trägt sodann traditionell zum Frieden bei, da sie bedeutet, dass ein Staat niemals Gewalt anwenden wird, es sei denn, er werde selbst angegriffen. Die Neutralität ist im Selbstverständnis der Schweizerinnen und Schweizer tief verankert. Sie sind überzeugt, dass sie das Land in den letzten 150 Jahren vor den Schrecken grosser Kriege in Europa bewahrt habe. Schliesslich ist die Neutralität ein wichtiges Merkmal des «Sonderfalls» Schweiz, die kein Mitglied der EU ist, insbesondere aus der Sicht der öffentlichen Meinung des globalen Südens. Ohne Neutralität wäre der Unterschied zwischen der Schweiz und Belgien nur noch, dass wir nicht in der EU sind. Und auch im Vergleich zu anderen neutralen europäischen Staaten geniesst die Schweiz eine andere Sonderwahrnehmung: Während US-Präsident Biden die Sanktionsübernahme durch die europäischen Staaten mit den Worten «sogar die Schweiz» lobte, hielt es niemand für nötig, die Mitbeteiligung des ebenfalls neutralen Österreichs noch zusätzlich in den Fokus zu rücken.

«Ohne Neutralität wäre der Unterschied zwischen der Schweiz und
Belgien nur noch, dass wir nicht in der EU sind.»

Selektive Auslegung setzt die Schweiz unter Druck

Jüngst hörte man in der politischen Debatte häufiger die Idee, dass die Schweiz ihre Neutralität offener auslegen, in gewissen Fällen sogar Partei ergreifen solle. Die Idee, die Neu­tralität durch Ausnahmen neu zu definieren, würde die Berechenbarkeit der schweizerischen Neutralität für potentielle Kriegsteilnehmer schwächen, weil sie nicht wüssten, wie der Bundesrat sie in ihrem Fall auslegen würde. Ausnahmen würden die Schweiz dem Druck der Kriegsteilnehmer aussetzen, deren Ansichten über die Rechtfertigung ihrer Gewaltanwendung zu übernehmen. Der Bundesrat müsste dann schwierige Entscheidungen treffen, was aus wirtschaftlichen und geopolitischen Gründen oft in eine Doppelmoral münden würde.

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Der Völkerbundsrat an seiner 100. Sitzung im Januar 1938, dem Schicksalsjahr für die Schweizer Neutralität. Bild: United Nations Archives Geneva.
Als die Schweiz zur integralen Neutralität zurückkehrte

1938 stimmte der Völkerbund dem Antrag der Schweiz zu, von der differentiellen zur integralen Neutralität überzugehen. Die «Schweizer Monatshefte» feierten diesen Schritt, wenn auch zurückhaltend. Ein Auszug aus dem 84jährigen Originaltext.

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