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Notrecht wird zur Gewohnheit
Andreas Kley. Bild: Liechtenstein Institut.

Notrecht wird zur Gewohnheit

Im Fall Credit Suisse hat sich der Bundesrat einmal mehr mit Verweis auf eine ausserordentliche Situation über Verfassung und Gesetz hinweggesetzt. Es ist der neue Höhepunkt einer unheilvollen Entwicklung.

Bundesrat Arnold Koller, einer der Väter der Bundesverfassung von 1999, stellte im Oktober 1999 an einer Tagung das Nachführungskonzept der Total­revision vor. Dieses erlaube es, «das geltende geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht in zeitgemässer Sprache und klar geordnet wiederzugeben». Er fügte den Satz an, dass die «Nachführung der gelebten Verfassungswirklichkeit» ein «offener Prozess» sei; den Begriff der Nachführung wertete er als etwas «verharmlosend». In der Öffentlichkeit sprach man von «mise à jour», denn die 1999 erfolgreiche Totalrevision wollte, anders als das gescheiterte Verfassungsprojekt von Bundesrat Kurt Furgler von 1977, keine Zukunftsvision verwirklichen. Vielmehr sollten der Vergangenheitsbezug und damit der Anschluss an bewährte Traditionen erhalten bleiben. Dieses Vorgehen sollte die politische Akzeptanz des Vorhabens sichern und gelang. Der Ausdruck «verharmlosend» lässt aufhorchen. Die Vorgänge der letzten Monate belegen, dass die Bundesverfassung von 1999 einlud, neue zukunftsvisionäre Wege zu beschreiten, obwohl man doch anlässlich der Volksabstimmung von 1999 versprach, weiterhin auf den alten Wegen zu schreiten.

Der Dammbruch von 2008

Die bisherigen, gleichlautenden Artikel 90 beziehungsweise 102 der Bundesverfassungen von 1848 beziehungsweise 1874 erlaubten dem Bundesrat, für die «innere ­Sicherheit» zu sorgen sowie «Ruhe und Ordnung» zu handhaben. Das war aber nur «innert den Schranken der gegenwärtigen Verfassung» gestattet. Im Verlauf des Verfahrens der Totalrevision der Bundesverfassung ab 1964 disku­tierten die Expertenkommissionen «Wahlen» (1973) und «Furg­ler» (1977) das Notrecht und lehnten die Schaffung eines weitgehenden Notrechtsartikels ab. Sie hielten am bewährten Grundsatz fest, dass es nur konstitutionelle Wege gebe, um schwierige Situationen (Kriegssituationen vorbehalten) zu meistern. Die Bundesversammlung formulierte 1998 den bisherigen Artikel 102 der Verfassung von 1874 neu und schrieb im Artikel 185 fest, dass der Bundesrat «Störungen der öffentlichen Ordnung und … der Sicherheit» begegnen könne. Die Schranke «innert den Schranken der gegenwärtigen Verfassung» fehlte im neuen Text. Allerdings bestätigten die Kommissionssprecher in der ­Debatte, dass diese Streichung nichts daran ändere, dass alle Massnahmen des Bundesrats weiterhin konstitutionell sein müssten.

Die Verwaltung und der Bundesrat hatten andere Vorstellungen zum «Notrecht». In einem Bericht des Bundesrates zur Totalrevision der Bundesverfassung von 1985 fand sich ein – allerdings nicht weiter verfolgter – Verfassungsentwurf. Dieser ermächtigte in Artikel 116 den Bundesrat, «nötigenfalls abweichend von der Bundesgesetz­gebung Recht zu setzen», wenn die Sicherheit unmittelbar gefährdet werde oder aussergewöhnliche Verhältnisse es erforderten. Verwaltung und Regierung hatten ihren Wunsch eines gesetzesderogierenden «Notrechts», das also Gesetze mindestens teilweise ausser Kraft setzte, ­formuliert. Damals konnte niemand wissen, dass dieser Wunsch eines ungeschriebenen «Notrechts» ab 2008 die neue Verfassung dominieren sollte.

Als im Verlauf der Finanzkrise ab 2008 Bundesrat und Nationalbank die «Rettung» der «systemrelevanten» Bank UBS für nötig erachteten, griffen sie zu den nunmehr unbeschränkten Artikeln 184 und 185 der Bundesverfassung. Sie stützten die gewährten Finanzhilfen darauf ab. Das Bundesgericht ging noch weiter und akzeptierte für die Auslieferung geheimer Bankdaten der UBS an die USA durch die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) ebenfalls die beiden Artikel als Rechtsgrundlage, obwohl diese nur vom Bundesrat sprechen.

Beruhigungspille des Parlaments

Das neu praktizierte, aber nicht in der Verfassung geregelte «Notrecht» zog eine Furche in die Verfassung. Das ist ein alles andere als harmloser Vorgang. Die Totalrevision von 1999 war eben doch keine «Nachführung». Die Bundesversammlung beruhigte sich und das Publikum 2010 mit einem Gesetz über die «Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordent­lichen Lagen». Das Gesetz versuchte das Handeln der Regierung mit Fristen zu begrenzen und behielt die Finanzdelegation bei, damit grosse Kredite beschleunigt gesprochen werden konnten.

Gesellschaftspolitisch erhielt in den 2010er-Jahren die Klimafrage eine grössere Aufmerksamkeit. Die radikalen Kräfte in der entstehenden «Klimabewegung» beriefen sich auf das Widerstands- und das «Notrecht», da das Überleben der Menschheit gefährdet sei. Das politische Ziel der Klimabewegung sollte einerseits mit Widerstand gegen die Staatsgewalt erreicht werden, andererseits forderte sie die Staatsgewalt zu diktatorischen Notmassnahmen auf, um den drohenden Untergang der Menschheit zu verhindern. Die «notrechtliche» UBS-Rettung von 2008 erhielt aus einer unerwarteten Richtung eine nachträgliche Legitimation. Das in der Bundesverfassung nicht enthaltene «Notrecht» wurde politikfähig und legitimierte scheinbar Verfassungsverletzungen.

Nationalbankpräsident Thomas Jordan, Finanzministerin Karin Keller-Sutter und Bundespräsident Alain Berset (v.l.n.r.) am Sonntag, 19. März auf dem Weg zur Pressekonferenz in Bern, an der die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS verkündet wurde. Bild: Keystone/Peter Klaunzer.

Die Ausrufung der «ausserordentlichen Lage» einer Pandemie am 16. März 2020 konnte nun die Notrechtsfurche der UBS-Rettung von 2008 benützen. Nicht die epidemiologischen Massnahmen des Bundesrates, aber deren ökonomische Abfederung erfolgte mit Hilfe von Artikel 185 der Bundesverfassung und bestätigte vielfach, dass es im Handeln des Bundesrates ein «Notrecht» gab. Der Bundesrat erklärte 2020, dass die Verfassung zwar den Begriff «Notrecht» nicht kenne, aber er zitierte den Artikel 185 ­Absatz 3 und schloss: «Die Verfassung sieht also notrecht­liche Kompetenzen für den Bundesrat vor.» Ohne Verfassungsänderung kam das Notrecht über die «normative Kraft des Faktischen» zustande. Dieses besagt, dass ein starkes politisches Bedürfnis gleich auch die nötigen Rechtsgrundlagen mitliefert, um dieses Bedürfnis schnell zu befriedigen.

Die Demokratie wird übersteuert

Das in der Verfassung nicht vorhandene «Notrecht» wird damit zu einem bequemen Arbeitsmittel der Politik. Die langsamen und mühsamen Verfahren der Demokratie, die durch das geschriebene Verfassungs- und Gesetzesrecht geschützt werden, können nach Bedarf übersteuert werden. Der Bundesrat nimmt sich die Kompetenz, einen Notstand festzustellen, die richtige Lösung ohne öffentliche Diskussion zu finden und danach zu handeln. Die Bundesversammlung billigte dieses Vorgehen aus dem Unwillen, selbst Verantwortung zu übernehmen, aus Uneinigkeit, aus Trägheit oder mit dem Scheinargument «Es kann nicht sein, dass …». Das geschah nach der Coronakrise im September 2022 mit «subsidiären Finanzhilfen zur Rettung systemkritischer Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft» oder zuletzt im März 2023 mit der erzwungenen Übernahme der Credit Suisse durch die UBS und den dafür gesprochenen Finanzhilfen von Nationalbank und Bund.

Auf diese Weise wird «das Faktische» zu einer Rechtsquelle, die Verfassung und Gesetze derogiert und auf schnellstem Weg ein rechtlich «einwandfreies» Regierungshandeln ermöglicht. Die Übereinstimmung mit dem Recht muss nicht geprüft werden, da «Notrecht» immer Vorrang hat. Das geltende und in einer demokratischen Diskussion entstandene und beschlossene Recht wird ir­relevant. Politischer, medialer und anderer Druck lässt den Bundesrat einen Notstand verkünden, und schon ist das sofort helfende Recht da und legitimiert sein Handeln.

Das vom Bundesrat immer wieder angerufene «Notrecht» ist kein Recht im eigentlichen Sinn. Denn es handelt sich nicht um Recht, das nach Platon doch «auf langer ­Erfahrung beruhen» soll. Recht muss vorgängig allen bekannt und generell-abstrakt sein: Es regelt abstrakt viele Sachverhalte und gilt generell, das heisst grundsätzlich für jedermann. Der Bundesrat benützt vielmehr das von Carl Schmitt favorisierte «Situationsrecht» zum Zweck der ­Legitimationsbeschaffung. Im Ausnahmefall, so Schmitt, sondere sich das Recht von der Rechtsnorm ab. Paradox formuliert beweise die Autorität damit, «dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht». Die Schweizer Politik ist im Begriff, vom Weg der Gesetzesherrschaft ­abzuweichen. Es ist eine wenig verheissungsvolle Aussicht.

Politiker entscheiden vorrangig nach politischen und nicht nach rechtlichen Gesichtspunkten. Ihnen müsste aber bewusst sein, dass Verfassung und Recht normativ sind und die Demokratie erst ausmachen. Ihr Fortbestand hängt massgeblich von diesem Bewusstsein ab. Wird das Vertrauen in Recht und Verfassung beschädigt, so hat das schwerwiegende Konsequenzen.

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