
Vom Tröpfchen der Revolution zum Motor des Fortschritts
Linke Theoretiker missverstehen den Menschen grundlegend, indem sie ihn als von unkontrollierbaren Kräften bestimmt ansehen. In Wahrheit sind wir autonome Wesen mit grossem Potenzial.
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Mitten in der Nacht ging Mama plötzlich weg. Mit Männern, die ich schon einmal gesehen hatte. Sie standen immer vor unserem bescheidenen Haus, und ihr Fahrzeug war mir schon längst aufgefallen. Jetzt aber hatte Mama mit ihnen gestritten, was mich als Achtjährigen verängstigte: Kommt Mama zurück? In jener Nacht kehrte sie heim, und wir sahen die Männer eine Zeit lang nicht mehr. Dennoch spürten wir, dass sie in der Nähe waren.
Viele Jahre später erfuhr ich, dass sie FBI-Agenten waren und meinen Vater verfolgten. Ich habe sie gehasst. Ich gab ihnen die Schuld für die Armut, die uns umgab. Eine Armut, die aus einer Gesellschaft im Umbruch von einer rückständigen, landwirtschaftlichen Wirtschaft zu einem eher industriellen System resultierte. Ich machte sie für die zerrüttete Ehe zwischen Mama und Papa verantwortlich; sie war in ihn verliebt, während er in die Revolution verknallt zu sein schien. Das FBI war in jener Nacht da, weil wir eine engagierte marxistisch-leninistische Familie waren. Das war ein Teil meines Lebens als rotes Wickelkind.1
Träume von vergangenen Überzeugungen
Unsere Armut war kein Schicksal, sondern die Konsequenz eines korrupten Systems, das uns in den Himmel blicken liess, während sich die Kapitalisten hier auf Erden amüsierten, wie mein Vater zu sagen pflegte. Das System, unter dem wir litten, spiegelte die Natur unerbittlicher historischer Kräfte in dialektischer Bewegung wider. Unsere kleine puerto-ricanische sozialistische Partei befand sich im Zentrum von Ereignissen mit universellen Auswirkungen. Eines Tages würde unsere Fahne siegreich über den Ruinen der alten Ordnung wehen und das grosse kommende Walhalla ankündigen. Die Befreiung aus den Schatten der momentanen unaufgeklärten Synthese der Geschichte stand unmittelbar bevor. Zumindest glaubten wir das.
Wir glaubten auch, dass wir unsere Lage nur verstehen könnten, wenn wir akzeptierten, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse unsere Identität definiere. Wir brauchten einen radikalen Wandel, bei dem wir als Tropfen in der grossen Welle der Revolution dienten. Der Effort musste kollektiv sein, weil nur die Gruppe Ideen, Denkmuster und Produktionsweisen, die von einem alles bestimmenden System geprägt wurden, ändern konnte. Sinn, Zweck und Würde lagen in der revolutionären Welle, ohne die wir nichts weiter waren als seltsame Ansammlungen von Atomen, die zum Nichts bestimmt waren. Ich betrachtete mich keineswegs als einzigartig und unersetzlich, sah mich nicht als Person, die von Natur aus mit den Fähigkeiten der Vernunft und des Willens ausgestattet ist. Bloss ein Tropfen in einer Welle …
Wir waren von einer radikalen Skepsis gegenüber der Idee des Fortschritts, den menschlichen Möglichkeiten und der Rolle des einzelnen bei der Überwindung seiner Realität geprägt. Eine Art pessimistisches Denken über ein System, das aus unserer Sicht gewaltsam manipuliert war, um den Mächtigen zu dienen. Heute scheint der orthodoxe Marxismus-Leninismus der alten Garde, mit dem ich aufgewachsen bin, ausgedient zu haben. Seine Annahmen bleiben jedoch bestehen. Es kam zwar nicht zur ultimativen Feuersbrunst, dafür schnitt der Neomarxismus immer und immer wieder leicht ins blutende Fleisch der liberalen Gesellschaft. Von der Zerstörung des kapitalistischen Systems sind wir zur Dekonstruktion des «Aufklärungsprojekts» übergegangen. Von uns wird erwartet, dass wir als Beschleuniger des plötzlichen Bruchs dienen, der eine neue Episteme einleitet, um Foucaults Terminologie zu verwenden.2
Obwohl neue Formen des Radikalismus aus einer Enttäuschung über den orthodoxen Marxismus erwuchsen, behielten sie dessen Ausrichtung auf Aktivismus und die Überzeugung bei, dass Unterdrückung durch die Ausübung von Macht zu Entfremdung führe. Diese neuen Radikalismen hatten grossen Einfluss auf Kultur, Aktivismus, Bildung und Wissenschaft und beeinflussten andere Denkschulen, insbesondere den Feminismus, den Postkolonialismus und die Postmoderne.3
In gewisser Weise besteht der Wunsch, zum jüngeren Marx zurückzukehren…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1106 – Mai 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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