Nacht des Monats mit den Zürcher Winterschwimmern
Gelegenheiten und Orte, sich selbst zu feiern und zur Schau zu stellen, gibt es in Zürich in ausreichender Zahl. Der Limmatsteg am Oberen Letten zählt zu diesen In-Spots, die im Sommer junge schöne Menschen anziehen, um sich den Blicken der Gierigen und der Sonne gleichermassen auszusetzen. An einem freundlichen Augustabend kann man hier kaum einen Fuss vor den anderen setzen, ohne auf einen tätowierten Sonnenbrand oder eine herumliegende RayBan zu treten. An diesem Mittwochabend im Februar warten hier bloss gefrorene Pfützen, Eiszapfen am Geländer und, als ich ankomme, direkt dahinter vier nach dem Zwiebelprinzip dick eingepackte Personen.
«Winter Outdoor Swimming» heisst die Facebook-Gruppe, die Nico, Stephan, Reto und Alex regelmässig mit aktuellen Terminen versehen. Der Name ist Programm: Jeden Mittwochabend und Sonntagvormittag treffen sich hier zwischen 5 und 15 Personen aus den verschiedensten Altersklassen, Milieus und Stadtteilen Zürichs, um zu testen, wie lange ihre Körper in 3 bis 8 Grad kaltem Wasser plantschen können. Dabei korrelieren Wetter und Teilnehmerzahl umgekehrt zum Bademodus der «normalen» Bevölkerung: Je ungemütlicher die Bedingungen, desto mehr «Winterschwimmer» erscheinen. An diesem unwirtlichen Mittwochabend sind wir bald 7. Familienväter treffen auf Studenten, Buchhalter auf Pfannenverkäufer, Sinologen auf Barfrauen, Informatiker auf Juristinnen. Graupel und Blitzeis hätten wohl noch einige weitere Willige aus ihren warmen Nestern gelockt – heute bleibt es aber bei einer Aussentemperatur von ca. 0° C, Schneeregen und Windböen. Mit dem Glockenschlag um 19 Uhr wird die letzte Zigarette gelöscht, der letzte Scherz über das heute 3,8° C «warme» Wasser gemacht – es geht ans Eingemachte. Aber: hat da grad wirklich jemand «drei Komma acht» gesagt?
Zittern, Händereiben. Die Kleidungsstücke bestenfalls so im Rucksack verstauen, dass man die wichtigsten (T-Shirt und Pullover, Mütze, dann erst die Unterhose) direkt nach dem Bade greifbar hat, erklärt Reto. Flüsternd zucken manche Mundwinkel. Dazu Schulterklopfen, nervöses Tapsen von einem nassen Fuss auf den anderen. Jemand, der grad seine Moon Boots ausgezogen hat, erzählt, dass er am Wochenende bei –30° C auf dem Furkapass ein Iglu gebaut habe. «Geile Siech!», ruft ein anderer, der sich auf der nackten Brust herumtrommelt. Badehosen und Bikinis, dazwischen nur noch Hühnerhaut.
Während Reto und Nico noch ein kleines Bad in dem Schneerest nehmen, der einen Teil des Stegs bedeckt, schreitet Stephan zum oberen Ende der Holzkonstruktion. Er grinst, zwinkert uns noch einmal zu, stösst sich ab und taucht per Kopfsprung in die Limmat. Dann geht alles ganz schnell. Einer nach dem anderen hüpfen und steigen die Winterschwimmer in den Fluss, tauchen prustend wieder auf, jauchzen, schreien. Die Glückshormone lassen sich hier oben, auf dem Steg, förmlich riechen. Bis sie mich erreichen, sind sie aber längst gefroren: Ich stehe da, die Arme nah am nackten Oberkörper, dessen Wärme sich in Schwaden langsam von mir verabschiedet – dann ein weiterer eisiger Windstoss von den Bergen her. «Los jetzt, Herr Journalist!», ruft jemand. «Ist eh wärmer hier drin!»
Klatsch. Nach wenigen Zügen in der zähflüssig-düsteren Eisbrühe spüre ich meine Füsse nicht mehr, der Nacken krampft sich zusammen, die Finger sind wie einbetoniert. Es ist kalt. Wirklich kalt. Viel kälter kann Wasser unter natürlichen Bedingungen kaum werden. Prusten, kraulen, Fäuste ballen, jauchzen. Das vorzeitige Aussteigen ist verpönt, erst die allerletzte Leiter, die ganz unten, vor dem Wehr, die darf es sein. Es sind ca. 4 Minuten bis dorthin. Langustenrot jogge ich bald in Richtung Badetuch, zwischen den Zehen nasser Schnee. Jede rieselnde Flocke ein Nadelstich auf der brennenden Haut, die Füsse zu kalt, um sie in handelsübliche Socken hineinzuzwängen, von den Schuhen ganz zu schweigen.
Warme Flaschen machen die Runde. Sirup, Tee, Schnaps. «Geile Siech!», klopft Nico mir auf die tauben Schultern. Dann klatscht er alle anderen ab. Auch die Winterschwimmer feiern sich selbst, denke ich zittrig lachend. Allerdings brauchen sie dafür keine Sonne oder Zuschauer. Sie brauchen bloss die Gewissheit, dass das Wasser der Limmat im einstelligen Bereich, aber wärmer als die Luft ist, die sie umgibt.