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Mitte, Mass und Mässigung

Politik ist die Kunst des Machbaren. Der rhetorische Gag vom «Extremismus in der Mitte» verhindert wieder einmal, mit falschen und fatalen Vorurteilen aufzuräumen: eine Replik von Politikwissenschafter Klaus Schubert.

Ja, die «Freie Sicht»! Ob sie von Christian P. Hoffmann auch geöffnet wurde? Oder hat er sie nicht vielmehr mit Vorurteilen zugekleistert? Denn: nicht alles was rhetorisch gut daher kommt, ist auch inhaltlich überzeugend. Und, «Freie Sicht» sollte mit etwas beginnen, das der geschätzte Herr Kollege sehr vermissen lässt: auf Kenntnis gestütztes Urteilsvermögen.

Fangen wir bei dem Bibelzitat an: in der Politik sind feste Überzeugungen nötige und legitime Grundlagen politischen Handelns. Eine zentrale Errungenschaft bürgerlicher Demokratie ist es aber, dass sich Überzeugungen nicht zu Orthodoxien versteifen, sondern in einer bürgerlichen Diskussionskultur «vermittelbar» bleiben. Das ist der Sinn und die Bedeutung der sogenannten bürgerlichen Mitte: einen Punkt zu finden, an dem man – räumlich, aber vor allem inhaltlich – (wieder) zusammentrifft. Das dazu gehörige Medium ist die Diskussion, und dessen Produkt ist die Übereinkunft; in aller Regel ein Kompromiss.

In Glaubensfragen mag es schliesslich auf das nicht mehr hinterfragbare «Ja, ja; nein, nein» hinauslaufen (wobei: heisst Glauben nicht eigentlich, sich mit dem Zweifel auseinanderzusetzen?). In der Politik kommt es, im Gegensatz zur Theologie, darauf an, das Wünschbare mit dem Machbaren zu verbinden – und zwar so, dass viele, am besten sehr viele, zustimmen können; vielleicht sogar von der Richtigkeit der Entscheidung überzeugt sind, oder sich schliesslich vom Resultat überzeugen lassen. Zustimmung gewinnen ist ein Klärungsprozess und eben nicht «von Übel». Das Wünschbare mit dem Machbaren verbinden, die politische Forderung an deren Durch- und Umsetzbarkeit zu binden, ist eine Stärke, nicht eine Schwäche von Politik. Vielleicht nicht im Glauben, aber in der Politik geht es darum, unter realen gegebenen Bedingungen (manchmal auch schmerzhafte) Anpassungsleistungen zu erbringen, die heute unser Fortkommen, aber morgen auch noch unsere Sicherheit ermöglichen. Das ist ohne Abwägen, Abklärung und Zustimmung zumindest in Demokratien – Gott sei Dank – nicht mehr möglich.

Vielleicht lässt sich der geschätzte Herr Kollege durch ein erkenntnistheoretisches Argument davon überzeugen, dass er zwar «gut gebrüllt, Löwe!», aber allseits geteiltes Wissenschaftsverständnis vergessen hat. Intersubjektivität ist das, was in – oft mühsamen – wissenschaftlichen Klärungsprozessen produziert wird, aber aller Erfahrung nach sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften immer eine geraume Weile zuverlässiges, tragfähiges und oft sogar berechenbares Grundlagenwissen darstellt. Wissen, das als verlässliche Basis für weitere Entscheidungen dient.

Die Abstützung auf dieses Wissen ist nicht nur theoretisch von Belang: Eine eigene Meinung zu haben, ist das Eine, sie zur Diskussion zu stellen, und gegebenenfalls aufgrund von Gegenargumenten zur Disposition zu stellen, das Andere. Es ist eine allseits grosse Leistung, Argumente unterschiedlicher Positionen zu einem Ergebnis zusammenzubringen. Warum? Erstens sind ausdiskutierte, in der Regel ja unter Unsicherheit «ausgemendelte»›, Entscheidungen allemal zuverlässiger als ad hoc statuierte «Hoppla-jetzt-komm-ich»›-Positionen. Das, zweitens, erhöht die Legitimität  getroffener Entscheidungen und rechtfertigt z.B. den allemal mühsamen Entscheidungsfindungsprozess in der – eben deswegen auch stabilen und materiell glücklichen – Schweiz. Solche Wege mögen nicht so attraktiv aussehen wie das geforderte Erkunden «kantiger Lösungsansätze». Die Erfahrung zeigt aber, dass mühsam ausgehandelte Kompromisse länger tragen und weiter führen.

Apropos Moral: in der Politik kommt es nicht nur auf «Besserwissen», sondern vor allem auf das «Bessermachen» an. Und bei diesem sind eben die vielen anderen und berechtigten anderen Interessen, Meinungen und Ziele mitzubeachten. Zum Glück gibt es immer wieder genügend Politiker und Politikerinnen, die bereit sind, tatsächlich und konkret Verantwortung zu tragen, und das rhetorische Rebellentum den Schreibtischhelden überlassen. Gesinnung ist das Eine, Verantwortung das Andere

Nun, daraus folgt dann eine etwas andere «Freie Sicht». Sie stammt von Max Weber: Setze nicht die Gesinnungsethik gegen die Verantwortungsethik. Politik ist die «Kunst des Machbaren», sie besteht in der Vermittlung (sic!) zwischen Gesinnung und Verantwortung und fördert – da wo das gelingt – am ehesten noch das allgemeine Wohl.

Die politische Aufgabe ist insofern immer «Vermittlung»; das politische Ziel ist, – frei nach Aristoteles – durch «Mitte, Mass und Mässigung» das jeweils «Angemessene» zu schaffen. Das schliesst Individuen und individuelle Entscheidungen mit «Ecken und Kanten» nicht aus – Politik, res publica, die «öffentliche Sache betreffend», hat aber immer auf das für viele (wenn schon nicht für alle) Verträgliche und Förderliche zu zielen. Das ist eine sehr hohe, unter den Augen der Öffentlichkeit zu leistende, alle «Kunst» erfordernde Arbeit und Leistung. Erst recht in Zeiten akzeptierter Vielfalt und zunehmenden Pluralismus›.

Pragmatismus ist eine amerikanische philosophische Strömung, die in schwierigen Zeiten des Umbruchs (Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert) versucht hat, zwischen gleichgültig-krudem Materialismus und ignorant-überheblichem Idealismus zu vermitteln und den von Philosophie und Theologie postulierten prinzipiellen Gegensatz von Geist und Körper sowie heroischer Ideenwelt und niederer Körperlichkeit ablehnte. Eine Bewegung, die individuelle Freiheiten und gesellschaftlich-soziale Offenheit, Vielfalt, Pluralismus, Toleranz und Gleichberechtigung in einer Zeit positiv konnotiert, in der hier in Europa dumpfer Nationalismus herrschte, elitäres Heldentum und menschenverachtendes Herrenmenschentum dominierte. Kein Wunder, dass der Pragmatismus hier nicht «satisfaktionsfähig» war. In ganz Europa? Nein, es gab Ausnahmen, insbesondere auch in einem kleinen Land, das tatsächlich offener, liberaler war, als die Welt aussen herum und für solche Ideen doch etwas aufgeschlossener: die Schweiz. Schade, dass z.B. Théodore Flournoys Arbeiten (1917) zu William James kaum noch bekannt sind. Schade auch, dass der rhetorische Gag («Extremismus …in der Mitte»)  wieder einmal verhindert, mit falschen, unberechtigten, ja fatalen Vorurteilen aufzuräumen.

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