Max Frisch zum 100sten
Sein Spätwerk «Der Mensch erscheint im Holozän» wurde in den «Schweizer Monatsheften» auszugsweise vorabgedruckt. Und auch sonst war Max Frisch immer wieder Gegenstand von Würdigungen und Kontroversen in unserer Zeitschrift. Zu seinem Geburtstag, der sich am 15. Mai zum hundertsten Mal jährt, drucken wir pointierte Sentenzen seiner alten Schriftstellerkollegen wieder ab.*
Das Fragment als «Ruine nach der Zukunft», die Skizze als Ausdruck des Weltbildes, das sich noch nicht – oder nicht mehr – schliesst, die Angst vor dem «bösartigen Eigensinn alles Fertigen», wie es in «Bin oder Die Reise nach Peking» heisst, dieser dem «Tagebuch» so eng verwandten Träumerei in Prosa – diese private wie zeitbedingte als auch typisch schweizerische Reduktion auf eine «Notlösung» als Spielart dessen, was man später als «Trümmerliteratur» bezeichnete, beeindruckte und beeinflusste mich in einer Umbruchphase voller Zweifel und Fragezeichen. […] Wichtig war das «Tagebuch» als Sehschule für meine Existenz, und es gehört seither zu meinem Gepäck. Hermann Burger
Es geht kaum ein Jahr vorbei ohne kleine Verärgerungen im Zusammenhang mit ihm und seinem Werk. Bald stösst man sich an einer politischen Verallgemeinerung, bald an einem veröffentlichten Bekenntnis privatester Natur. Der Fall liegt ganz anders als dort, wo penetrant intellektuelle Ungezogenheit – wie früher allzu aufdringliche Wohlerzogenheit – ärgert oder langweilt. Von Frisch erwarten wir immer wieder kluge Antworten auf die persönlichsten und allgemeingültigeren Fragen – und werden regelmässig im Stich gelassen. Das ist schon viel. Hans Bänziger
So unbestritten sein Weltruhm, so wenig ist daran, was sich die offizielle Schweiz gutschreiben könnte. Dass der rote Pass nicht
genügt, fällt bei ihm stärker auf als bei andern, weil ihm dieses Papier bekanntlich nie gleichgültig war. Er hat nicht nur die Staatsbürgerlichkeit zum Thema gemacht, sondern die Heimat. Er betrachtet diesen Pass als Gutschrift für eine Idee der Schweiz, an der sich die reale Schweiz messen lassen muss. So kommt das Paradox zustande, dass Frischs amerikanische, russische oder deutsche Leser nie auf den Gedanken kämen, er sei kein Patriot; am wenigsten beim «Dienstbüchlein». Dieser Zweifel ist ein schweizerisches Privileg. […] Es ist nicht Grösse, was er an der Schweiz vermisst, sondern Format. […] Ich stelle mir vor: In hundert Jahren – wenn die Zivilisation so lange hält und wenn sie dann noch liest – werden Frischs Werke zu den Quellen der Vergangenheit, unserer Gegenwart, gehören. Man wird ihnen – nicht der «Zivilverteidigung», nicht parlamentarischen Protokollen, keinem Parteiprogramm – entnehmen, wie es auf diesem Fleck der Welt zugegangen, wie es wirklich gewesen ist. Adolf Muschg
Frisch ist nicht vom Geschlecht der Aussenseiter, Ruhestörer und Rebellen, der Getriebenen, der Unversöhnlichen und Zerrissenen. Mit den schockierenden Amokläufen der Literatur hat er kaum etwas gemein. Er gehört eher zu den Nachkommen der betont bürgerlichen Schriftsteller, der distanzierten und schmunzelnden Beobachter, der ironischen und meditierenden Zeugen, der urbanen Humoristen und leidenden Skeptiker, der – um Beispiele auf höchster Ebene zu geben – Keller, Fontane und Thomas Mann. […] Er praktiziert Moral ohne Predigt und Zeitkritik ohne Propaganda. Er demonstriert Engagiertheit ohne Gereiztheit und Protest ohne Hysterie. So wurde er zum Klassiker unter den schreibenden Zeitgenossen deutscher Sprache. Marcel Reich-Ranicki