INTRO
«Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schliesslich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog.» – Ludwig von Mises
Wissen Sie, was das Schönste am Liberalismus ist? Dass er a priori keine «reine Lehre» kennt. Der Kern des Liberalismus ist die Maxime, dass Fortschritt – ob im kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Sinn – nicht verordnet werden kann, sondern sich am besten durch einen weitgehend unregulierten Prozess verwirklicht, der am ehesten mit Trial & Error zu umschreiben ist. Letztlich ist der Liberalismus also eine pragmatische, immer von den Umständen abhängige Idee: der Mensch lebt stets in unvollkommenen Verhältnissen. Aus dieser Situation irrt er heraus und versucht, die eigenen Freiheiten schrittweise auszuweiten. Das bedeutet, dass Liberale prinzipiell an der aufklärerischen Idee festhalten, dass kein Elternteil, kein Vorgesetzter, erst recht kein Politiker dauerhaft in einer besseren Position zur Bewertung von Entscheidungen und Weltanschauungen sein kann und darf als das Individuum selbst. Jedes Freiheitsstreben endet nach liberaler Lesart allerdings genau dort, wo es die Freiheit anderer beschneidet.
Aus diesem Grund ist die Demokratie nicht nur ein Verbündeter (Stichwort: Gewaltenteilung), sondern auch eine besondere Herausforderung für den Liberalismus. Selbstverständlich kann es kollektiv festgelegte Beschränkungen individueller Freiheit geben. Und natürlich können auch im Kollektiv Freiheitsfortschritte erzielt werden. Der Liberalismus gewichtet aber die Freiheiten des Individuums immer höher als die Freiheiten von Kollektiven, egal, ob es sich dabei um Glaubensgemeinschaften, Regionen, Staaten oder Staatenbünde handelt. Heikel wird die Demokratie aus liberaler Sicht vor allem, wenn sie monopolistische Umverteilungssysteme institutionalisiert und gleich noch an nationale Schicksalsgemeinschaften bindet. Ab diesem Moment wächst die Gefahr, dass der einzelne und seine Freiheit gegenüber gewissen Wünschen vieler anderer ins Hintertreffen gerät. Das beste Beispiel hierfür sind die dringend reformbedürftigen Schweizer Sozial- und Vorsorgesysteme (s. unser Dossier hier), deren quasimono-polistische Organisation weder von der Politik noch von den Wählern grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Wirklich freie Gesellschaften tun gut daran, auch ihre tradiertesten Systeme einem ergebnisoffenen Wettbewerb auszusetzen. Warum nicht zulassen, dass Sozialhilfe oder Altersvorsorge in Konkurrenz zu anderen, anders organisierten Systemen gelangen? Etwa, indem man Zuwanderern (zumindest für eine gewisse Zeit) den Eintritt in den maroden, schicksalsgemeinschaftlich-national organisierten «Club Sozialhilfe» verwehrt und gleichzeitig den Aufbau alternativer Systeme fördert. So liesse sich nicht nur der Knoten in der Zuwanderungsfrage ohne Quoten oder politisches Porzellanzerschlagen lösen – möglicherweise entstünden dabei Ideen, die sich auch für bestehende Institutionen als wegweisend herausstellten. Sicher nicht im liberalen Sinne ist es, stattdessen individuelle Grundfreiheiten einzuschränken und durch mehr zentrale Planung und Steuerung zu ersetzen, nur weil einem gerade die Phantasie zur Problemlösung fehlt.
Wenn dem gesamten Gebäude des Liberalismus also eine Tugend innewohnt, dann die der intellektuellen Demut. Keine freiheitliche Strömung kann redlicherweise für sich in Anspruch nehmen, den «wahren Liberalismus» zu repräsentieren – damit wäre ein Monopol proklamiert, das sich mit den eigenen intellektuellen Waffen schlüge. Das oberste freiheitliche Prinzip sollte stattdessen die Dezentralisierung, mithin die Erweiterung des Möglichkeitshorizonts sein. Alle Kräfte, die an intellektueller, politischer und wirtschaftlicher Kartellbildung Anstoss nehmen, sind damit auch realpolitisch mobilisierbar: «Ich kann zwar nicht wissen, wohin die Reise geht – aber wir sollten genügend Möglichkeiten schaffen, damit auch du vorwärtskommst!»
Michael Wiederstein
Chefredaktor