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Es mangelt uns nicht an Meinungsfreiheit, aber an freien Meinungen

Freie Meinungsäusserung ist irrelevant ohne Menschen mit eigener Meinung. Selber denken scheint in der Schweiz jedoch aus der Mode gekommen.

Es mangelt uns nicht an Meinungsfreiheit, aber an freien Meinungen
Darstellung der ersten Zürcher Disputation von 1523 in einer Abschrift von Bullingers Reformationsgeschichte, Bild: Wikimedia.ch.

Wird in der schweizerischen Öffentlichkeit zu viel oder zu wenig gestritten? Und: Kann man seine Meinung noch frank und frei sagen oder lauert der nächste Shitstorm bereits um die Ecke?

Über Meinungsäusserungsfreiheit zu reden, ist unverzichtbar, denn sie ist das entscheidende Grundrecht jeder Demokratie. Je enger die Grenzen des Sagbaren gesteckt sind, desto autoritärer ist eine Gesellschaft, auch wenn sie formal demokratisch ist. Es muss daher zu denken geben, dass eine steigende Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern eine Einschränkung der Meinungsfreiheit wahrnimmt.

Aber: Meinungsfreiheit wird erst relevant, wenn die Menschen auch freie Gedanken haben. Meinungsfreiheit bringt nichts, wenn alle stromlinienförmig denken. Und sie nützt wenig, wenn unser Denken zunehmend konfektioniert ist.

Nicht ein Mangel an Meinungsfreiheit ist das Hauptproblem, sondern ein Mangel an freien, eigenständigen, widerständigen und widerborstigen Gedanken. Gedankenklone aus dem Setzkasten der täglichen Empörung ersetzen zunehmend das selbständige Denken, intellektuelle Schablonen formieren die Diskussionen. Gedankliche Konfektionsware regiert, millionenfach hinausposaunt via die Plattformen X, Facebook und Co. Um eine eigene Meinung zu allem zu haben, muss man nicht nachgedacht haben. Selber denken scheint ohnehin irgendwie aus der Zeit gefallen zu sein.

«Je enger die Grenzen des Sagbaren gesteckt sind, desto autoritärer ist eine Gesellschaft, auch wenn sie formal demokratisch ist.»

Vor gut 20 Jahren lösten die reformierten Kirchen mit ihrer Kampagne und der plakatierten Botschaft «Selber denken. Die Reformierten.» ein grosses Medienecho aus. Inzwischen müssen Zweifel daran aufkommen, ob die Reformierten heute noch das «Selberdenken» zum Markenkern erklären würden. Gut 500 Jahre nach den eigenständigen und kühnen Gedanken der Reformatoren und den wortgewaltigen Streitgesprächen zwischen Anhängern der Reformation und der altgläubigen Kirche wird die Denk- und Debattierfreude in den Kirchen heute kleingeschrieben. Man zieht es vor, sich gegen unliebsame Meinungen abzuschotten und sich im Kokon der eigenen Überzeugungen einzuschliessen. Aus streitbaren Christenmenschen sind Drückeberger «vor dem Herrn» geworden.

Dabei war ja gerade die Reformation ein beredter Beleg dafür, dass es ohne konstruktiven Streit keinen Zusammenhalt gibt. Wie die Demokratie lebt auch die Kirche von der Kontroverse. Ihre Vitalität stellt sie nicht unter Beweis, indem sie «Gefällt mir» oder «Gefällt mir nicht» klickt, sondern indem sie – wie Martin Luther es nannte – die verschiedenen Geister aufeinanderprallen und streiten lässt.

«Gut 500 Jahre nach den eigenständigen und kühnen Gedanken der Reformatoren und den wortgewaltigen Streitgesprächen zwischen Anhängern der Reformation und der altgläubigen Kirche wird die Denk- und Debattierfreude in den Kirchen heute kleingeschrieben.»

Streit ist systemrelevant

Streit – ob in den Höhenlagen der Politik und Kirchen oder den Niederungen des Alltags – ist der Sauerstoff der Demokratie. Er ist gewissermassen «systemrelevant». «Wer streiten kann», sagt die Philosophin Svenja Flasspöhler in ihrem Buch «Streiten», «setzt sich mit Andersdenkenden auseinander». Auch wenn sie damit riskieren, als nervende Streithähne zu gelten, sollten kritische Geister sich deshalb nicht davor scheuen, ihre dem Zeitgeist zuwiderlaufenden Meinungen mit Haut und Haaren zu verteidigen. Denn das ist die Voraussetzung für einen konstruktiven Streit, während Wankelmütigkeit und allzu grosse Flatterhaftigkeit in Bezug auf den eigenen Standpunkt einen für beide Seiten produktiven Streit verhindern.

Zurück zur Anfangsfrage: Wird in der schweizerischen Öffentlichkeit zu viel oder zu wenig gestritten? Antwort: Es wird in unserem Land nicht zu viel, sondern allenfalls zu wenig engagiert, zu respektlos und zu schrill gestritten.

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